Für gewöhnlich erneuern sogenannte Novellen des Bundesausbildungsförderungsgesetzes die Unterversorgung der Betroffenen auf ein kaum minder ungenügendes Niveau. Anders die 2022er Auflage: Im Verbund mit der Rekordinflation stehen die „Profiteure“ noch mieser da als zuvor und rauschen die Gefördertenzahlen noch tiefer in den Keller. Das war absehbar, aber kein Grund für die Bundesbildungsministerin, es besser zu machen. Dafür versprach sie, eine große Strukturreform nachzulegen, mit der spätestens im kommenden Jahr zu rechnen war. Nix da: Der Bundeshaushaltsentwurf für 2024 sieht massive Kürzungen beim BAföG-Posten vor, und was 2025 passiert, steht in den Sternen. Das alles hat System. Von Ralf Wurzbacher.
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Nein, beim BAföG wird nichts gekürzt! Irgendwie zwar schon, aber nicht so richtig… Darin, die Menschen im Land für dumm zu verkaufen, ist die Bundesregierung ganz groß. Als vor zwei Wochen die Nachricht die Runde machte, die Ampel wolle die Mittel für die Bundesausbildungsförderung radikal zusammenstreichen, kam Bundesbildungsministerin Bettina Stark-Watzinger (FDP) flugs mit einem Dementi um Ecke. Es werde „keineswegs gekürzt“, gab die FDP-Politikerin zum Besten, „jeder einzelne Berechtigte wird seine Leistungen in vollem Umfang erhalten“. Etwas anderes hatte zwar niemand ernsthaft behauptet, aber egal. Mit ihrer Ansage war zumindest für den Moment die Kuh vom Eis.
Am Sachverhalt ändert das freilich nichts: Das BAföG, das Herz der staatlichen Studienfinanzierung, wird weiter ausgeblutet. Natürlich werden die individuellen Zuwendungen dafür nicht nominal reduziert, indem man etwa den Grundbedarf von aktuell 452 Euro monatlich auf 400 Euro kappen würde. Kürzen will Stark-Watzinger den Ausgabenposten als Ganzen – von knapp 2,6 Milliarden Euro im laufenden Jahr auf etwas mehr als 1,9 Milliarden Euro im Jahr 2024. Das entspricht einem satten Minus von 25 Prozent. Für Studierende stünden dann nur noch 1,37 Milliarden Euro statt bisher 1,81 Milliarden Euro zur Verfügung, während das Schüler-BAföG von 763 Millionen Euro auf 551 Millionen Euro schrumpfen soll.
Von wegen Trendwende
In Stein gemeißelt ist das nicht. Grundlage des Etatansatzes sind laut Bundesministerium für Bildung und Forschung (BMBF) die aktuellen Prognosen des Fraunhofer-Instituts für Angewandte Informationstechnik (FIT). „Die Zahlen entsprechen der aktuellen Bedarfsprognose auf Basis der geltenden Rechtslage.“ Soll heißen: Das Ministerium kalkuliert mit noch einmal weniger Antragsbewilligungen als 2023. Zuletzt hatten bloß noch etwa elf Prozent aller rund 2,9 Millionen Studierenden in Deutschland BAföG-Leistungen bezogen, wobei für 2023 noch keine Daten vorliegen.
Im Herbst 2022 war die 27. BAföG-Novelle in Kraft getreten und Stark-Watzinger verband diese mit dem Versprechen, „die Trendwende“ bei den Gefördertenzahlen zu schaffen. Schon das war geflunkert. Die Regierung hantiert mit einer anderen Bezugsgröße, sie berücksichtigt nur die Gruppe der tatsächlich Förderfähigen, was zum Beispiel Studierende in einem Zweit- oder berufsbegleitenden Studium und solche mit Vermögen ausschließt. Kurz vor ihrer Reform rechnete das BMBF mit einer entsprechenden Förderquote von 16,3 Prozent fürs Jahr 2022. Allerdings sollten es mit Wirkung des neuen Gesetzes 2023 nur kümmerliche 0,4 Prozentpunkte mehr als 16,7 Prozent sein. Danach geht es nach dem Szenario wieder kräftig bergab, auf 14,7 Prozent im Jahr 2026. Das Reformwerk gerate zur „Luftnummer“, befand schon damals Nicole Gohlke von der Bundestagsfraktion Die Linke.
Nullrunden in Serie
Sie sollte recht behalten. Offenkundig haben die Förderungen nicht einmal minimal zugelegt, um dann im kommenden Jahr so richtig abzuschmieren – auf absehbar unter zehn Prozent, zieht man alle Hochschüler in Betracht. Trendumkehr? Die hatten vor Stark-Watzinger auch schon ihre Amtsvorgängerinnen Anja Karliczek und Johanna Wanka (beide CDU) proklamiert. Tatsächlich beschleunigte sich in ihrer Verantwortung der Niedergang und mit Stark-Watzinger geht es noch rasanter. Verschärft wird dies durch die anhaltende Inflationskrise, die Studierende besonders hart trifft, weil ein Großteil ihres Geldes in Ausgaben für Lebensmittel, Wohn- und Energiekosten fließt.
Der Zuschlag bei den Bedarfssätzen um 5,75 Prozent, der zum Wintersemester 2022/23 wirksam wurde, war zu diesem Zeitpunkt längst von der allgemeinen Teuerung aufgefressen. Desgleichen haben der kräftige Zuschlag bei den Elternfreibeträgen um 20,75 Prozent sowie die Heraufsetzung der Altersgrenzen auf 45 Jahre ihre Wirkung verfehlt. Beide Maßnahmen waren richtig, lösen aber das Hauptproblem nicht. Immer mehr eigentlich Anspruchsberechtigte scheuen vor einer Förderung zurück, weil die Leistungen nicht zum Leben reichen, sie also trotzdem nebenher jobben müssen und sie Sorge vor einer Verschuldung haben. Die Hälfte der Bezüge müssen bis zur Höchstgrenze von 10.000 nach dem Studium zurückerstattet werden. Katja Urbatsch, Gründerin der Initiative „ArbeiterKind.de“, befand dazu im neuesten DSW Journal, dem Magazin des Deutschen Studierendenwerks (DSW): „Ohne Darlehensanteil hätten wir direkt doppelt so viele Anträge.“
Die NachDenkSeiten hatten schon einmal im April 2019 nachgezeichnet, wie das BAföG in Jahrzehnten systematisch „runtergewirtschaftet“ wurde. Anlass war seinerzeit die Vorlage eines „Reförmchens“ durch Ex-BMBF-Chefin Karliczek, das wie viele davor genauso wie die später folgenden komplett verpuffte. Gerade in den 2000er-Jahren erlebte das BAföG eine Phase forcierter Entwertung. In diese Zeit fallen allein zwei Sechs-Jahres-Episoden, in denen die Fördersummen komplett eingefroren waren – von 2002 bis 2008 und zwischen 2010 und 2016. Selbstredend wurden die aufgelaufenen Rückstände in puncto Lohn- und Preisentwicklung danach nicht wieder aufgeholt, vielmehr vergrößerten sie sich mit jeder neuen BAföG-Novelle, von denen keine einzige den Erfordernissen gerecht wurde.
50 Jahre Rechtsbruch
Der Hamburger Rechtsanwalt Joachim Schaller hat ermittelt, zu welcher Größe sich die Versäumnisse in den zurückliegenden 50 Jahren ausgewachsen haben. Während sich das allgemeine Preisniveau durch die Inflation, ausgehend von einem Preisindex von 100 im Jahr 1970, bis Oktober 2022 mehr als vervierfachte (406,3 Prozent), legten die BAföG-Leistungen im selben Zeitraum lediglich um das knapp Dreifache zu (297,4 Prozent). Da die Bedarfssätze „nur sehr unregelmäßig und unvollständig angepasst worden sind, ist die Schere zwischen dem studentischen Existenzminimum und den gesetzlichen Bedarfssätzen immer größer geworden“, beklagte Schaller Ende Juni im Rahmen einer Pressekonferenz der Gewerkschaft Erziehung und Wissenschaft (GEW).
Wie der Jurist ausführte, liegt der aktuelle Satz von 452 Euro zuzüglich der Wohnpauschale von 360 Euro für alleinlebende Studierende (insgesamt 812 Euro) um 118 Euro unter den Vorgaben der sogenannten Düsseldorfer Tabelle von 930 Euro und 97 Euro unter dem steuerlichen Existenzminimum von 909 Euro. Die Düsseldorfer Tabelle legt den Unterhaltsbedarfssatz von Eltern eines volljährigen Kindes fest, das studiert und nicht mehr zu Hause wohnt. Damit verstießen die Leistungen „gegen das Grundrecht auf Gewährleistung eines menschenwürdigen Existenzminimums und verletzen darüber hinaus die Grundrechte der Berufswahlfreiheit und das Sozialstaatsprinzip des Grundgesetzes“, so Schaller. Er vertritt eine ehemalige Psychologiestudentin, die gegen die Höhe des 2015 geltenden Regelsatzes klagte und 2021 vom Bundesverwaltungsgericht Recht zugesprochen bekam. Wegen der Tragweite der Frage verwies das Gericht den Fall weiter zum Bundesverfassungsgericht, das nun zu entscheiden hat, ob die Bemessung der BAföG-Leistungen mit dem Grundgesetz vereinbar ist. Nach Lage der Dinge spricht vieles dafür, dass Karlsruhe die Bundesregierung in die Schranken weisen wird.
Jeder dritte Student ist arm
Als das BAföG 1971 unter Willy Brandt in sozial-liberaler Regentschaft eingeführt wurde, stand das Bundesausbildungsförderungsgesetz zumindest ein Jahrzehnt lang für drei Selbstverständlichkeiten: Erstens kam es als rechtsverbindliche Sozialleistung einer großen Breite der Studierendenschaft zugute. 1972 erhielten 44,6 Prozent aller Hochschüler in Deutschland Fördergelder, ein danach nie wieder erreichter Wert. Zweitens stellte die Hilfe sicher, dass diejenigen, die die Maximalförderung erhielten, davon auch tatsächlich leben und ohne Finanzierungsdruck studieren konnten. Und drittens wurden die Zuwendungen als Vollzuschuss gewährt, kein Pfennig musste später zurückerstattet werden.
Verglichen damit ist das BAföG heute nur mehr ein Torso. Nach Angaben des Statistischen Bundesamts waren im Jahr 2021 knapp 38 Prozent aller Studierenden „armutsgefährdet“. Das schließt an Befunde des Paritätischen Wohlfahrtsverbands an, wonach 2020 rund 40 Prozent der alleinstehenden Hochschüler unterhalb des soziokulturellen Existenzminimums lebten. Für solche im BAföG-Bezug traf dies gar auf 45 Prozent zu. Dabei gilt für beide Erhebungen, dass die Ergebnisse lange überholt sind und die Situation nach fast eineinhalb Jahren Rekordinflation noch bedrückender sein dürfte. Ebenso trifft dies auf die „neueste“ Sozialerhebung des Deutschen Studierendenwerks zu. Die Ende Mai veröffentlichten Daten wurden im Sommer 2021 erhoben und sind damit weit entfernt davon, aktuell zu sein. Eindruck hinterlassen sie dennoch: 37 Prozent aller Studierenden mussten seinerzeit mit weniger als 800 Euro auskommen. Mehr als 25 Prozent hatten unter 700 Euro zur Verfügung, über ein Fünftel unter 600 Euro, 16 Prozent unter 500 Euro, und 10,6 Prozent mussten sich mit weniger als 400 Euro durchschlagen.
Ministerin auf Tauchstation
Die Studie bildet die empirische Grundlage, auf der die Politik Anpassungen beim BAföG vornimmt, in den Worten von Stark-Watzinger auf der begleitenden Webseite: „Sie liefert uns eine gute Basis für kommende Maßnahmen und Entscheidungen.“ Aber was unternimmt die Regierung: Sie bläst eine längst überfällige BAföG-Novellierung ab. Das sagt sie zwar nicht so offen, die Etatkürzung für 2024 lässt aber keinen anderen Schluss zu. Das pflichtschuldige Bekenntnis auf der BMBF-Webseite – „wir haben die Reform des BAföG unverändert im Blick“ – ist nichts als Augenwischerei. In welchem Rahmen sich diese bewegen werde, hänge von den haushälterischen Bedingungen ab, liest man dort, und weiter: „Für 2024 stehen diese nach dem Abschluss des parlamentarischen Verfahrens fest.“ In den anstehenden Etatberatungen müsste nicht nur das dicke Minus von 650 Millionen Euro wettgemacht, sondern zugleich üppig nachgelegt werden, um Spielraum für substanzielle Nachbesserungen bei den Fördersätzen und Freibeträgen zu schaffen. Nichts spricht dafür, schon gar nicht der zaghafte Einspruch seitens der SPD und Grünen, die Ministerin möge doch bitte zu ihrer Zusage stehen.
Eigentlich hatte die FDP-Politikerin anlässlich ihrer halbherzigen 2022er Novelle wiederholt angekündigt, noch in der laufenden Legislaturperiode eine große Strukturreform draufzusatteln. Neben weiteren Erhöhungen stellte sie vor allem strukturelle Weichenstellungen in Aussicht, mit dem Ziel, die Förderung elternunabhängiger zu machen. Außerdem solle es einen regelmäßigen Anpassungsprozess „nicht nach Kassenlage“ geben, sondern mit einem „sinnvollen Rhythmus“. Aber seit Monaten hört man von ihr keinen Piep zum Thema. Meinte sie es wirklich ernst mit ihrem Versprechen, müsste der Gesetzgebungsprozess spätestens im nächsten Jahr angeschoben werden, wobei dann als Abgabetermin nur noch der Herbst 2025, sprich der Start des Wintersemesters, infrage käme.
Reform „klammheimlich beerdigt“
Dürfen sich die Studierenden also auf ein teures Abschiedsgeschenk der Ampel kurz vor der Bundestagswahl freuen? Das erscheint schon deshalb zweifelhaft, weil der von Bundesfinanzminister Christian Lindner (FDP) vorgelegte Kürzungshaushalt, der vornehmlich beim Sozialen kürzt, lediglich den Einstieg in einen jahrelangen Konsolidierungsprozess markieren soll, der ohne Frage weitere Sozialkürzungen mit sich bringen wird. Zum Beleg: Das „zentrale sozialpolitische Projekt“ der Koalition, die Einführung einer Kindergrundsicherung, will sich Lindner anfangs zwei Milliarden Euro jährlich kosten lassen, nicht zwölf Milliarden Euro, mit denen Familienministerin Lisa Paus (Grüne) liebäugelte. Nimmt man das zum Maßstab, könnte beim BAföG bestenfalls eine weitere Kleckerreform herausspringen.
Oder eben eine Nullrunde mehr, wie mittlerweile auch der DSW-Vorstandsvorsitzende Matthias Anbuhl fürchtet. „Diese Kürzungen (…) heißen in der Konsequenz, dass die versprochene Anpassung der Bedarfssätze und Freibeträge an die Inflation nicht mehr möglich, nicht finanzierbar ist und dass auch die versprochene BAföG-Strukturreform im Prinzip abgesagt wurde.“ Er könne „nicht nachvollziehen, dass eine selbst ernannte Fortschrittskoalition ausgerechnet ein zentrales Element der Bildungsgerechtigkeit – und das ist die anstehende BAföG-Reform – klammheimlich beerdigen will“, befand er gegenüber dem Spiegel. Auch Gohlke von der Linksfraktion ahnt, „dass die BAföG-Strukturreform vom Tisch ist“.
Widerstand ist Pflicht
Das wäre in letzter Konsequenz nur konsequent und vielleicht der endgültige Tod eines Instruments, welches einmal verheißungsvoll gestartet war, um danach auf dem Altar zunächst konservativer, später neoliberaler Sozialstaatsverächter gerupft zu werden. Verhindern kann das nur geballter Widerstand. Am Montag gingen mehrere Studierendenverbände gemeinsam mit dem DSW an die Öffentlichkeit. Ihre Forderung: „BAföG ausbauen, keine Kürzungen im Haushalt!“ Schon in der Vorwoche hatte die Hochschulrektorenkonferenz (HRK) die Regierung zum Handeln ermahnt: Andernfalls drohe „dieses zentrale Instrument für mehr Bildungsgerechtigkeit bald gänzlich seine Funktion zu verlieren“, beklagte Verbandspräsident Walter Rosenthal.
Oder gibt es vielleicht eine Klatsche aus Karlsruhe? Kippt das Verfahren zur Festsetzung der BAföG-Leistungen vor dem höchsten deutschen Gericht, werden die Regierenden fraglos ins Schwitzen kommen. Dann allerdings könnte die Ampel längst abgewählt sein und bis zu einer Runderneuerung des Systems noch eine halbe Ewigkeit vergehen. Keine wirklich rosigen Aussichten. Dann besser schon jetzt richtig Rabatz machen!
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