Anmerkungen zum ARD-Sommerinterview der Kanzlerin

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Bei Interviews und Stellungnahmen der Bundeskanzlerin, so auch bei ihrem ARD-Sommerinterview, fragt man sich bisweilen, ob sie eigentlich selbst von der Redlichkeit und Sinnhaftigkeit ihrer eigenen Aussagen überzeugt ist. Von unserem Leser G.K.

  1. Frau Merkel diagnostiziert zunächst einmal zutreffend, die Eurozone leide an auseinanderdriftenden Wettbewerbsfähigkeiten der Eurozonen-Staaten. Die zwischen den Zeilen anklingende Kritik Merkels bezieht sich jedoch wohl wieder einmal ausschließlich auf die kriselnden Eurozonen-Staaten. (Z.B. eine Umschuldung hätte “den negativen Effekt, dass sich auch andere Länder nicht mehr so anstrengen”.) Nach dieser Lesart haben etwa bezüglich der Lohnentwicklung ausschließlich diese Staaten “gesündigt”. Die deutsche Wirtschaft hingegen, so wird suggeriert, habe sich die Wettbewerbsvorteile seit Ende der 90er Jahre mit innovativen und qualitativ einzigartigen Produkten hart erarbeitet. Der hiesige Außenhandelsüberschuss (Saldo aus Exporten und Importen) sei aufgrund eigner “Verdienste” in die Höhe geschossen. Es wird unterschlagen, dass die deutsche Exportwirtschaft bereits zu DM-Zeiten über innovative und qualitativ hochwertige Produkte (z.B. im Maschinenbau, in der Automobil- oder Chemieindustrie) verfügte.

    Hinsichtlich der Produktivitätsentwicklung zeigte die deutsche Wirtschaft seit der Jahrtausendwende im Vergleich zu den übrigen Staaten der Eurozone keineswegs einen “Produktivitätsschub”. Der NachDenkSeiten-Beitrag “Eurozone stabilisieren” zeigt vielmehr auf, dass neben (möglicherweise) überhöhter Lohnsteigerungen in mehreren europäischen Staaten (v.a. in Griechenland) das Lohndumping der größten europäischen Volkswirtschaft ein maßgeblicher Faktor für das Auseinanderdriften der europäischen Wettbewerbsfähigkeiten ist:

    “Diese „Wettbewerbslücke“ gründet entgegen allgemeiner Vorurteile nicht auf einer besonderen Innovationsfreudigkeit Deutschlands einerseits und der Produktivitätserlahmung Griechenlands bzw. anderer Krisenländer andererseits. Denn die Produktivität ist in Deutschland jährlich um 0,9 Prozent, in der Eurozone um 0,8 Prozent und in Griechenland immerhin um 2,1 Prozent gestiegen. Die Verbesserung der Wettbewerbsfähigkeit Deutschlands und das Zurückfallen Südeuropas lief ausschließlich über die Löhne und – weil die Lohnstückkosten das interne Preisniveau dominieren – über die Preise. In Südeuropa stiegen die Lohnstückkosten um bis zu 30 Prozent, in Deutschland dagegen unter fünf Prozent, wobei hier die Ausweitung des Niedriglohnsektors eine besondere Rolle spielte. Den Normalanstieg – Produktivität plus Zielinflationsrate – repräsentiert Frankreich mit einer Erhöhung um gut 20 Prozent.”

    Diese Daten zeigen auf, dass Deutschland innerhalb der Eurozone am stärksten gegen eine an der Produktivitätsentwicklung und an der EZB-Zielinflationsrate orientierte Lohnpolitik verstoßen hat.

    Dies wird auch aus den von der Internationalen Arbeitsorganisation (ILO) publizierten Daten zur Lohn- und Gehaltsentwicklung von Vollzeit-Arbeitsplätzen im Zeitraum 2000 bis 2009 für 26 Länder deutlich. (Veröffentlicht wird von der ILO die Entwicklung der inflationsbereinigten Löhne und Gehälter für Vollzeit-Arbeitsplätze in der Privatwirtschaft)

    Deutschland belegte im Zeitraum 2000 bis 2009 in der ILO-Statistik zur Entwicklung der inflationsbereinigten absoluten Höhe der Löhne und Gehälter für Vollzeit-Arbeitsplätze in der Privatwirtschaft (minus 4,5 Prozent) den letzten Platz! Dies zeigt: Das Zurückbleiben der deutschen Lohnstückkosten hinter der Produktivitätsentwicklung ist nicht auf einen stärkeren Produktivitätsanstieg in Deutschland zurückzuführen, sondern auf eine miserable Entwicklung der absoluten Höhe der hiesigen Löhne und Gehälter.

    Ein Blick auf die Entwicklung des deutschen Außenhandelssaldos (Saldo von Exporten und Importen) zeigt, dass dieser im Jahre 1999 (dem Jahr der Fixierung der Euro-Umtauschkurse der ehemals eigenständigen Eurozonen-Währungen) +65,2 Mrd. Euro betrug. Bis zum Jahre 2007 (dem Jahr vor Ausbruch der schweren Finanz- und Wirtschaftkrise) stieg dieser auf +195,3 Mrd. Euro an. Nach krisenbedingten Rückgängen in den Jahren 2008 und 2009 erhöhte sich der deutsche Außenhandelssaldo im vergangenen Jahr wieder auf +153,3 Mrd. Euro. Auch im laufenden Jahr wird gegenüber 2010 ein erneuter deutlicher Anstieg prognostiziert. Die deutsche Exportwirtschaft profitiert im Außenhandel wegen des hiesigen Lohndumpings nicht nur gegenüber den übrigen Staaten der Eurozone. Die Außenhandelsdefizite zahlreicher Eurozonen-Staaten und die dadurch mit verursachten ökonomischen Verwerfungen innerhalb Europas üben einen Abwertungsdruck auf den Euro-Wechselkurs aus, wodurch die deutschen Exporte auch in Staaten außerhalb der Eurozone zusätzlich angeheizt werden.

  2. Der Merkel-Äußerung, “gerade Deutschland” (treffender: die deutsche Exportwirtschaft) brauche den Euro “ganz besonders”, ist aus der Perspektive der deutschen Exportwirtschaft nicht zu widersprechen. So schreibt Robert von Heusinger im Hinblick auf eine verschiedentlich geforderte Wiedereinführung der DM zutreffend:

    “Dass in diesem Jahr erstmals Güter über mehr als eine Billion Euro ausgeführt werden, liegt auch am Euro. Warum? Weil die Produkte dank der niedrigen Lohnstückkosten hierzulande rund 20 Prozent zu billig in Euroland angeboten werden können. Und weil die neue D-Mark am Devisenmarkt bestimmt 30 Prozent gegenüber dem gegenwärtigen Euro-Kurs aufwerten würde.”

    Jedoch darf nicht verschwiegen werden, dass der aus dem hiesigen Lohndumping der vergangenen Jahre resultierende Missbrauch des Euro-Wechselkursmechanismus zugleich für die ökonomischen Schieflagen innerhalb der Eurozone ganz wesentliche Mitverantwortung trägt. In Anlehnung an die Sportlersprache muss das in den vergangenen Jahren von Deutschland betriebene Lohn- und Sozialdumping ganz unmissverständlich als Doping tituliert werden. Das hierzulande von zahlreichen Medien, Politikern und “Experten” angefachte Gejammer vom Entstehen einer europäischen “Transferunion” ist vor diesem Hintergrund heuchlerisch. Glauben diese im Geiste der neoliberalen Ideologie agierenden Herrschaften tatsächlich, das in den vergangenen Jahren von den neoliberalen Interessenvertretern propagierte und praktizierte Foulspiel der deutschen Wirtschafts- und Sozialpolitik und der daraus resultierende Extraprofit zum Vorteil v.a. der hiesigen “Eliten” bliebe straf- und folgenlos? Leider ist zu befürchten, dass die deutschen Arbeitnehmer, Rentner und Arbeitslosen, auf deren Rücken das hiesige Lohn- und Sozialdumping der vergangenen Jahre ausgetragen wurde, letztendlich auch die aus den massiven ökonomischen Verwerfungen in Europa resultierende Zeche werden zahlen müssen.

  3. Die Bundeskanzlerin weist die Kritik an den Ratingagenturen mit dem “Argument” zurück, Ratingagenturen seien ja “nicht an sich böse, sie weisen auf Schwächen hin.” Angesichts des massiven ökonomischen Schadens, den die Ratingagenturen im Vorfeld und während der Finanzkrise angerichtet haben und weiter anrichten, kann diese Merkelsche Schönfärberei nur als zynisch bezeichnet werden. (Siehe auch den NachDenkSeiten-Beitrag “Ratingagenturen – ein zutiefst korruptes System”)

    Ein Beispiel für die unverändert vorhandene neoliberale Markthörigkeit- und -gläubigkeit Merkels dokumentiert folgender Passus des tagesschau.de-Beitrags:

    “Auf mittlere Sicht sei es wichtig, dass Europa auch eine Ratingagentur habe. Bisher habe es in der Wirtschaft aber kein Interesse gegeben. Sie würde es aber “sehr begrüßen, wenn die europäische Wirtschaft” dazu käme, eine Agentur einzurichten, sagte die Kanzlerin.”

    Merkel möchte scheinbar nur den einen Bock (also die wirtschaftsabhängigen bisherigen Ratingagenturen) gegen den anderen Bock (eine von der europäischen Wirtschaft abhängige) austauschen und diesen dann zum neuen Gärtner küren.

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