Hinweise des Tages

Jens Berger
Ein Artikel von:

Heute unter anderem zu folgenden Themen: Geplante Steuersenkung entlastet vor allem Reiche; Eurobonds; Deutschland umwirbt Fachkräfte in EU-Krisenländern; Mythos und Realität der Globalisierung; Euroländer entwickeln sich beim Export weiter auseinander; Mangelerscheinungen in der Provinz; Frankreich: Eine Schocktherapie für die Medikamentenüberwachung; Wachstum und die Krise der Arbeit; UN-Bericht: Um jedes Wort wird gerungen; Wuppertal-Institut: EU-Subventionen mit umweltschädlichen Auswirkungen streichen; Stimmungsaufheller für Pharmalobby; Chatzi Go!; Das Unbehagen an der politisch-medialen Klasse; Berlinwahl: Die rote Renate; Arme Akademiker – Frau Lehrerin hat ein Loch im Schuh!; Jetzt kommt die Flut; ER warf Sarrazin aus dem Döner-Laden; Das Letzte: Peter Hahne: Bettelverbot (MB/WL/JB)

Hier die Übersicht; Sie können mit einem Klick aufrufen, was Sie interessiert:

  1. Geplante Steuersenkung entlastet vor allem Reiche
  2. Eurobonds
  3. „Fachkräftemangel“
  4. Mythos und Realität der Globalisierung
  5. Euroländer entwickeln sich beim Export weiter auseinander
  6. Mangelerscheinungen in der Provinz
  7. Frankreich: Eine Schocktherapie für die Medikamentenüberwachung
  8. Wachstum und die Krise der Arbeit
  9. UN-Bericht: Um jedes Wort wird gerungen
  10. Wuppertal-Institut: EU-Subventionen mit umweltschädlichen Auswirkungen streichen
  11. Stimmungsaufheller für Pharmalobby
  12. Chatzi Go!
  13. Das Unbehagen an der politisch-medialen Klasse
  14. Berlinwahl: Die rote Renate
  15. Arme Akademiker – Frau Lehrerin hat ein Loch im Schuh!
  16. Jetzt kommt die Flut
  17. ER warf Sarrazin aus dem Döner-Laden
  18. Das Letzte: Peter Hahne: Bettelverbot

Vorbemerkung: Wir kommentieren, wenn wir das für nötig halten. Selbstverständlich bedeutet die Aufnahme in unsere Übersicht nicht in jedem Fall, dass wir mit allen Aussagen der jeweiligen Texte einverstanden sind. Wenn Sie diese Übersicht für hilfreich halten, dann weisen Sie doch bitte Ihre Bekannten auf diese Möglichkeit der schnellen Information hin.

  1. Geplante Steuersenkung entlastet vor allem Reiche
    Die schwarz-gelbe Koalition will die Bürger von 2013 an entlasten – vor allem Menschen mit kleinen und mittleren Einkommen sollten von der Reform profitieren. Doch ist das wirklich so? Ein Steuerexperte hat nun für die SZ ausgerechnet, dass die geplante Steuersenkung Spitzenverdienern deutlich mehr bringt als der Mittelschicht. […]
    Wer ein monatliches Bruttogehalt von 1000 Euro erhält, würde gemäß den Kalkulationen Hechtners im Monat um etwa sechs Euro entlastet. 78 Euro weniger Steuern muss hingegen zahlen, wer mehr als 22.800 Euro im Monat verdient. Die höchste Entlastung, die in der Reform möglich ist, würde 943 Euro im Jahr betragen. In ihren Genuss käme, wer mehr als 250.000 Euro im Jahr verdient und somit die sogenannte Reichensteuer zahlen muss, die bei 45 Prozent liegt.
    Quelle: Süddeutsche Zeitung

    Anmerkung Jens Berger: Schön, dass die Süddeutsche zur Abwechslung auch ein mal die richtigen Fragen stellt. Das Beispiel sollte Schule machen, zumal das Offensichtliche für die Zeitungsmacher anscheinend derart überraschend ist, dass auch WELT und SPIEGEL-Online die SZ-Meldung aufgriffen.

    Anmerkung eines unserer Leser: Der Trick, wie es doch so aussehen kann, als ob Niedrigverdiener am stärksten entlastet werden:

    “Betrachtet man die Entlastungen im Verhältnis zu der Höhe des Einkommens, ist die Ankündigung der Koalition korrekt, vor allem kleine und mittlere Einkommen begünstigen zu wollen: 100 Prozent würde die Entlastung eines Arbeitnehmers betragen, der knapp über dem Freibetrag von 8004 Euro verdient. Er müsste also keine Steuern mehr zahlen.”

    Merke: Wer wenig verdient, für den ist auch eine sehr kleine Entlastung prozentual zum Einkommen bzw. zur gezahlten Steuere schon groß, wobei man die Darstellung des Gedankengang im Zitat bestenfalls als verwirrend bezeichnen kann. Die hundertprozentige Entlastung bezieht sich auf die gezahlte Steuer, nicht auf die Höhe des Einkommens.

  2. Schlagseite des Eurobonds
    Wer soll eigentlich bestimmen wie viel ein Land an Eurobonds bekommen soll? Dazu liest man wenig. Bisher ist die Staatsverschuldung nationale Sache, die durch die bekannten zwei Grenzziehungen seitens der EU-Verträge limitiert wird: in der Summe nicht mehr als 60 Prozent des BIP und 3 Prozent davon bei der Nettoneuverschuldung. […]
    Eurobonds bedeuten, dass die Länder der Eurozone kollektiv Anleihen zu einem dann gemeinsamen Marktzins ausgeben. Da unter den Staaten aber solche mit sehr guter wie mit sehr schlechter Bonität sind, wird es für manche Länder eine signifikante Zinssenkung, für andere aber eine Zinssteigerung bedeuten. Für Deutschland lautet eine Schätzung, dass hier jährlich um 17 Milliarden Euro höhere Zinslasten anfielen. Wer also 17 Milliarden jährlich mehr ausgeben möchte, sollte durchaus auch eine Idee haben, wie dies zu finanzieren wäre. Und sollte auch Argumente gegenüber dem Einwand bereit haben, ob wir mit diesen dann generierten zusätzlichen Einnahmen nicht besser hier etwas unternehmen sollten wie: bessere Bildungsangebote, höhere Hartz-IV-Sätze, eine noch stärkere Förderung erneuerbarer Energie. Dieser Betrag wäre also eine weitere Transferleistung von Ländern bester Bonität wie Deutschland, Frankreich, die Niederlande an andere Eurostaaten, von Irland bis Italien.
    Quelle: taz

    Anmerkung Orlando Pascheit: Die Schätzung einer jährlichen Zusatzbelastung von 17 Milliarden Euro für Deutschland wurde aus der Differenz zwischen der Durchschnittsverzinsung im Euroraum 2010 (etwa 3,3 Prozent) und dem Zins für Bundespapiere (1,7 Prozent) berechnet. Fragt sich nur, ob der Zins einer Euroanleihe mit dem Durchschnittszins des Euroraums gleichzusetzen ist.

    Ergänzende Anmerkung Jens Berger: Es ist auch keinesfalls so, dass die Bundesrepublik grundsätzlich derartig günstige Konditionen an den Märkten bekommt [PDF – 20 KB]. Die 1,7 Prozent, die Orlando Pascheit anführt, lassen sich nur bei Anleihen mit kurzer Laufzeit (z.B. 2 Jahre) realisieren, während bereits zehnjährige Anleihen einen Nominalzins von mehr als 3 Prozent haben. Es ist ebenfalls keinesfalls gesichert, dass Eurobonds für die Bundesrepublik überhaupt wesentlich teurer wären als Bundesanleihen. Anleihen der USA und Deutschlands gelten als eine Art sicherer Hafen in unruhigen Zeiten. Auch Eurobonds wären ein solch sicherer Hafen und dementsprechend beliebt bei Anlegern. In was – außer Eurobonds – sollten europäische Lebensversicherungen oder Pensionskassen auch sonst investieren?

  3. Deutschland umwirbt Fachkräfte in EU-Krisenländern
    Deutsche Unternehmen sind händeringend auf der Suche nach Fachkräften. Deutschlands oberste Headhunterin im Ausland, Monika Varnhagen, will Hürden abbauen. […]
    Alle Europäer stehen vor denselben Problemen: Die Bevölkerung schrumpft und wird immer älter, es fehlt überall an Nachwuchs und Fachkräften. Deshalb richten wir unseren Blick auch auf Länder außerhalb Europas. […]
    Es geht nicht darum, den Entwicklungsländern ihre dringend benötigten Fachkräfte abzuwerben. […]
    Tausende von Ingenieuren [in Spanien] sind arbeitslos, auch IT-Spezialisten.
    Quelle: WELT

    Anmerkung J.A.: Unsere tägliche Fachkräftemangelpropaganda gib uns heute … Bodenlos. Die inneren Widersprüche in dem Interview sind groß wie Tretminen: in dem einen Satz “fehlt es [wegen des demographischen Wandels] überall [in Europa] an Nachwuchs und Fachkräften”, wenig später haben und Spanien und Griechenland eine Jugendarbeitslosigkeit (auch unter Akademikern) von 40%. Dafür umschifft Frau Varnhagen immer wieder gschickt die Frage der deutschen Dumpinglöhne – warum die Polen trotz Freizügigkeit nicht einmal als Saisonarbeiter kommen, ist natürlich nur mit deren Heimatverbundenheit erklärbar (die es wohl vor 5 Jahren noch nicht gab).
    Die Arbeitsagentur konzentriert alle ihre Bestrebungen auf die Befriedigung von Arbeitgeberinteressen und auf den Import von Arbeitskräften aus den absoluten Billiglohnländern (Bulgarien, Indonesien). Von den Nöten von (offiziell) 4 Millionen Arbeitslosen und 6 Millionen Niedriglöhnern, von der jahrzehntelangen Lohnsenkungsorgie, von der Zerstörung von Rente und Sozialstaat in Deutschland ist in dem gesamten seitenlangen Interview in keinem Wort die Rede.

    Ergänzende Anmerkung WL: Von der Tatsache das voraussichtlich 2011 mindestens 50.000 Studienanfängerplätze fehlen werden, weil die entsprechenden Finanzmittel fehlen ganz zu schweigen. Statt ausreichend Studienplätze für Fachkräfte zur Verfügung zu stellen versucht man in Deutschland politisch den vermeintlich billigeren Weg und will sich die ausgebildeten Akademiker aus Spanien und Griechenland holen und raubt diesen ohnehin wettbewerbsschwächeren Ländern auch noch das sog. „Humankapital“.

    Dazu: Wirtschaft jagt ein Phantom
    Die Mär vom Fachkräftemangel
    Weil die deutsche Wirtschaft hierzulande zu wenig gut ausgebildete Mitarbeiter findet, gehen Arbeitgeber gezielt auf Jagd nach qualifizierten Kräften aus Griechenland, Portugal oder Spanien. Das klingt einleuchtend, denn schließlich herrscht ja Fachkräftemangel – oder etwa nicht?
    Quelle: n-tv

  4. Mythos und Realität der Globalisierung
    Der gebürtige Inder und derzeitig Professor für Ökonomie und Globale Strategie an der IESE Business School in Barcelona Pankaj Ghemawat schreibt in der Printausgabe der FAZ zu diesem Thema u.a.: Nur 3 Prozent der Menschen lebten aktuell außerhalb des Landes, in dem sie geboren sind. Nur 2 Prozent der Telefongespräche und etwa 17 bis 18 Prozent des Internetverkehrs seien grenzüberschreitend. Der Anteil der Ausfuhr läge nur bei etwa 20 Prozent des Weltsozialproduktes. Ausländische Direktinvestitionen machten nur 9 Prozent der Anlageinvestitionen aus und ungefähr 15 bis 20 Prozent des Beteiligungskapitals würden außerhalb des Heimatlandes des Investmentsfonds eingesetzt. Nur 20 Prozent Börsenanlagen seien in der Hand von Ausländern. In mancher Hinsicht hätten wir noch nicht wieder das Maß der Globalisierung vor dem ersten Weltkrieg erreicht.
    Quelle: FAZ Printausgabe

    Anmerkung WL: So wichtig es ist, dass den Mythos der Globalisierung zu entmystifizieren, so leichtfertig ist es, die Ausweitung des Freihandels etwa nach den Doha-Handelsprinzipien zu fordern und schlicht auf mehr Wettbewerb zu setzen. Ghemawat belegt allerdings, dass der Verweis auf die Globalisierung nur eine Ausrede ist, wenn damit nationale Regierungen Deregulierungen begründen. Es gibt eben noch viel Spielraum für eigene Regeln und Politiken. Leider geht Ghemawat nicht darauf ein, was bisher bei der „Globalisierung“ falsch gelaufen ist. Vgl. dazu etwa Joseph Stiglitz, Die Chancen der Globalisierung.

  5. Euroländer entwickeln sich beim Export weiter auseinander
    Die Ungleichgewichte in der Eurozone nehmen zu. Während Deutschland beim Export kräftig wächst, verlieren die Südländer an Wettbewerbsfähigkeit. Immer mehr Exporte gehen in die Schwellenländer. […]
    Ein Grund für die unterschiedliche Entwicklung ist die preisliche Wettbewerbsfähigkeit der Länder. “Der reale Export Deutschlands erhielt von einer Verbesserung der preislichen Wettbewerbsfähigkeit Impulse, während sich von dieser Seite für Italien und Spanien ein negativer Effekt ergab,” schreibt die Bundesbank.
    Quelle: Handelsblatt

    Anmerkung J.A.: Mit anderen Worten: die Lohndrückerei in Deutschland geht unvermindert weiter, und von einer auch nur produktivitätsorientierten Lohnpolitik – Lohnzuwächse = Inflation plus Produktivitätswachstum -, geschweige denn darüber hinaus gehenden Lohnsteigerungen, die dringend geboten sind, bleibt Deutschland weit entfernt.

  6. Mangelerscheinungen in der Provinz
    Eine große Reform soll dafür sorgen, dass sich mehr ÄrztInnen auf dem Land niederlassen. Das wird nicht funktionieren, kritisiert die Verbraucherzentrale.
    Quelle: taz

    Anmerkung MB: 48 Millionen Euro sollen bereit gestellt werden, damit sich Ärztinnen und Ärzte in unterversorgten Regionen niederlassen. Normalerweise müsste nach dem Selbstverständnis der FDP der Markt so etwas regeln, oder wie war das ? Mit dieser Frage würde ich die „Gesundheits“-Politiker der FDP gerne in einer Schwalldiwall-Show im Öffentlich-rechtlichen Fernsehen konfrontiert sehen.
    Landarzt ist eben nur im Vorabendprogramm romantisch.

  7. Frankreich: Eine Schocktherapie für die Medikamentenüberwachung
    Frankreich baute sein Gesundheitssicherungssystem auf Expertenkommissionen auf, von denen gesagt wird, sie seien unabhängig: Sie bilden sich jedoch sich ihre Meinung aufgrund der Bewertung der Firmen ein. „Das läuft nicht mehr, sagt die Igas im Kern. Die Experten, arbeiten schon in ihrer Funktion mit der Industrie zusammen, es stellen sich Fragen nach Interessenkonflikten ohne Ende“. Frankreich sollte es wie seine Nachbarn machen: eine interne Expertise aufbauen, innerhalb von Afssaps, mit Personen, die sie selbst bezahlen ohne Abhängigkeit von den privaten Firmen.
    Quelle: Libération, Un traitement de choc pour la surveillance des médicaments

    Anmerkung VB: Wenn einer eine Reise macht, dann kann er ´was erleben”.
    Bei einem Kurz-Trip nach Frankreich bekam ich u.a. die “Liberation” gereicht – und fand dort einen interessanten Artikel zur Diskussion über das Medikamenten”wesen” in Frankreich – und nicht nur in Frankreich, sondern auch mit einem Blick nach Großbritannien, wo das alles – inzwischen –  grundlegend anders geregelt wurde:
    Gesundheitswesen in Frankreich – ein Igas-Bericht : Un traitement de choc pour la surveillance des médicaments – Libération – versehen auch mit weiterführenden “Links” nach Frankreich und England.
    Die “Inspection generale des affaires social” (siehe www.igas.gouv.fr) hat nun einen zweiten Bericht zur Medikamentenüberwachung – wohl nach einem “Skandal” – vorgelegt. (“Rapport sur la pharmacovigilance et gouvernance de la chaine du medicament”). 
    Dieser 160 Seiten umfassende Bericht wurde auf gut 20 Seiten in Thesen zusammengefasst [PDF – 95 KB]
    Es geht wohl vor allem darum durch die Entwicklung von Maßnahmen und neuen Strukturen die Medikamenten-Überwachung aus der Umklammerung durch die Pharmaindustrie zu lösen (was ja bei uns schon zu institutionellen Krisen bei der Medikamentenüberwachung geführt hatte (Siehe hier sowie hier).
    Ein Blick über die Grenzen – im vereinten Europa ! – kann sich also durchaus lohnen.
    So wird nun von Igas in Frankreich festgestellt, dass sich das ganze “Paradigma” der Arzneimittelüberwachung ändern müsse. Das heutige System basiere weitgehend darauf mit der Industrie zu arbeiten – und sich so die Frage der Interessenkonflikte ohne Ende auftut.
    Im Ansatz sind daher die zentralisierten staatlichen Einrichtungen einem starken Druck (der Pharma-Lobbyisten) ausgesetzt. Die Einrichtungen müssten dezentralisiert werden unter Einbeziehung der Ärzte (bei gleichzeitigem Verbot von Arztbesuchen durch Pharmavertreter) , des gesamten Personals im Gesundheitswesen sowie der Organisationen der Patienten. Der Staat allein scheint dem Druck der Industrie allzu leicht nachgeben zu wollen.
    Aber das ganz große Vorbild ist England mit seinem National Institut for Health and Clinical Excellence (siehe NICE oder auch hier).
    Hier werden eben nicht nur Medikamente evaluiert, sondern alle Facetten von neuen medizinisch-therapeutischen Strategien – z.B. beim Herzinfarkt. Diese werden dann unter allen Gesichtspunkten – nebst natürlich auch den Kosten – durchgecheckt. Dabei versucht diese Institution  weitgehend auch Transparenz über ihre Arbeit herzustellen – auch für die Patienten.
    Nachdem bei uns die Diskussion jenseits aller Alternativen festgefahren erscheint (siehe z.B. die Erörterung des deutschen “Ethikrates” über die Bewertung von Kosten und Nutzen im Gesundheitswesen – ohne jeglichen Bezug zu einer Realität dieses deutschen Gesundheitswesen mit all seinen finanziellen Einschränkungen und Tendenzen zur reinen Privatisierung in totaler “Umklammerung” durch die Gesundheitsindustrie verliert man dabei den Patienten völlig aus dem Blick . Deshalb erscheint solch eine Erweiterung des Horizontes, wo gerade der Patient und die sachgerechten Kriterien für “Gesundheit” in den Mittelpunkt gerückt werden, durchaus nützlich. Zumal es klar ist, ein soziales “Gefälle” in das “System” von Gesundheit / Krankheit eingeschrieben ist.
    Ergänzend füge ich noch eine Analyse der Gesundheitsreform in den USA bei [PDF – 300 KB].

  8. Wachstum und die Krise der Arbeit
    Diese Blitzlichter zeigen exemplarisch, dass das „Normalarbeitsverhältnis“ einer sozial abgesicherten, vertraglich geregelten Vollzeit-Erwerbstätigkeit (das ohnehin männlich besetzt war und Frauen und MigrantInnen nur punktuell integrierte) sich im Zuge der kapitalistischen Globalisierung nicht globalisierte. Im Gegenteil: In den klassischen Industrieländern erodiert es. Der informelle Sektor dominiert die Weltwirtschaft mit einem Anteil von zwei Dritteln der gesamten Beschäftigung, je nach Region liegt der Anteil höher: In Indien arbeiten sogar 93% der Bevölkerung in der informellen Wirtschaft.
    In absoluten Zahlen sind 1,8 Mrd. Menschen der weltweit 3 Mrd. Erwerbstätigen (laut einer Studie der OECD von 2009 mit dem Titel „Is informal normal?“) informell tätig. Von den 1,2 Mrd. Frauen (= 40%) unter den weltweit Erwerbstätigen arbeiten 52% informell. Ihr Anteil am informellen Sektor ist in allen Weltregionen höher als der der Männer. So arbeiten z.B. in Sub-Sahara-Afrika 81% der Frauen informell, aber „nur“ 64% der Männer. (Wick 2009, 15)
    Für die meisten Menschen weltweit ist informelle Arbeit gleichbedeutend mit sozialer Unsicherheit und Armut: 1,2 Mrd. informell Beschäftigte leben von weniger als 2 US-$ pro Tag, 700 Millionen sogar von weniger als 1,25 US-$. Dass Frauen überproportional unter informellen und oft prekären Bedingungen arbeiten, ist auch eine Folge der anhaltenden geschlechtsspezifischen Arbeitsteilung, die Frauen die Zuständigkeit für den sog. „Care“-bereich zuspricht und ihnen den Zugang zu formellen Arbeitsplätzen, zu Qualifizierung und Aufstieg erschwert…
    Im Kontext des wachstumskritischen Diskurses lässt sich aus dieser Realität des globalen Arbeitens folgern, dass existenzsichernde Lohnarbeit und damit Teilhabe an den „Wachstumsgewinnen“ im kapitalistischen Wirtschaftssystem genauso wenig verallgemeinerbar ist wie der westliche, rohstoff- und energieintensive Lebensstil. Die Entwicklung des deutschen Arbeitsmarkts mit einem wachsenden Niedriglohn-Sektor, zunehmend prekären Arbeitsbedingungen und der Verfestigung von Arbeitslosigkeit scheint dies zu bestätigen. Die positive Wirkung der Konjunktur auf existenzsichernde Beschäftigung ist sehr begrenzt.
    Die Konzentration der Gewerkschaften auf Arbeitsplatzsicherung ist vor diesem Hintergrund zwar verständlich, aber zum Einen vernachlässigt sie meist nicht nur Nachhaltigkeitsaspekte der zu sichernden Arbeitsplätze (Wie nachhaltig sind die Branchen wie z.B. die Autoindustrie, in der Arbeitsplätze gesichert werden sollen?), sie ignoriert zum anderen die Realität von immer mehr Menschen, insbesondere Frauen und MigrantInnen, die im informellen Sektor arbeiten und viel zu wenig im gewerkschaftlichen Blick sind…
    Die Debatte von und der Kampf um Alternativen muss vielmehr perspektivisch auf die Überwindung der gegenwärtigen Form der Arbeit gerichtet sein. Wie organisieren wir Arbeit, die die materiellen Grundlagen gesellschaftlichen Zusammenlebens schafft und nicht in die Zwangsjacke der Verwertung gesteckt wird? Wie viel Produktivität vertragen Menschen und Umwelt? Wie überwinden wir die Spaltung in formelle und informelle Arbeit? Wie integrieren wir gesamtgesellschaftliche Aufgaben wie die der „Care“-ökonomie in das Arbeitskonzept? Das sind wichtige Leitfragen, die als Kritik der Arbeit und der Produktivität in den Kern der Post-Wachstumsdebatte gehören.
    Quelle: DGB Gegenblende

    Anmerkung AM: Und warum soll man in Deutschland nicht mehr dagegen streiten, dass die „Informalität“ zur „Normalität“ gemacht wird? – Wie so oft in diesen Diskussionen wird das Ergebnis der bewusst betriebenen Politik zur Schaffung einer Reservearmee quasi als zwangsläufig dargestellt.

  9. UN-Bericht: Um jedes Wort wird gerungen
    Der Völkerrechtler Eibe Riedel über die UN-Rüge für Deutschlands Arbeits- und Sozialpolitik – und die Kritik an der Kritik:
    Ich sehe nicht, dass der UN-Ausschuss besonders streng war. Das Gremium ist weltweit zusammengesetzt, die meisten Mitglieder kommen also aus Entwicklungsländern. Und die haben alle sehr viel größere Probleme als wir. Und dann erwartet der Ausschuss, dass die reicheren Staaten auch mehr tun müssen, um die Menschenrechtslage in ihrem Land zu verbessern. Der Ausschuss hat zu Deutschland fast 40 Empfehlungen abgegeben, vielleicht zwei oder drei von denen sind übertrieben gewesen. Auf dieser Basis wird dann aber versucht, das ganze Verfahren zu diskreditieren. Das sollte man tunlichst nicht tun.
    Quelle: Tagesspiegel
  10. Wuppertal-Institut: EU-Subventionen mit umweltschädlichen Auswirkungen streichen
    In Bereichen wie Landwirtschaft, Fischerei, Kohäsionspolitik, Verkehr und Energie sollten, einer detaillierten Untersuchung folgend, EU-Subventionen gestrichen werden, wenn sie umweltschädliche Auswirkungen haben könnten. Zu diesem Schluss kommt eine Studie des Umweltausschusses des Europäischen Parlaments, die im März 2011 veröffentlicht wurde. Bettina Bahn-Walkowiak, Philipp Schepelmann and Arkaitz Usubiaga vom Wuppertal Institut haben das Kapitel zur Struktur- und Kohäsionspolitik beigetragen.
    Die Studie gibt einen Überblick über die Umweltrelevanz der größten Posten im Haushalt der Europäischen Union. Dabei wird das Nachhaltigkeitsniveau der wichtigsten Haushaltsposten der einzelnen Politikbereiche abgeschätzt. In Hinblick auf die anstehende Reform der EU-Subventionen werden Empfehlungen gegeben, wie der EU-Haushalt entsprechend der Forderungen der EU-2020-Strategie auf ein nachhaltiges Wachstum ausgerichtet werden kann.
    Die Studie wird vom EU-Parlament zum Download in englischer Sprache zur Verfügung gestellt.
    Quelle: Wuppertal Institut für Klima, Umwelt, Energie GmbH
  11. Stimmungsaufheller für Pharmalobby
    Das Bundesgesundheitsministerium plant, die bislang strikten Regelungen für die Arzneimittelwerbung zu lockern. Das geht aus einem Arbeitspapier hervor, das der Berliner Zeitung vorliegt. Experten warnen vor den Änderungen. „Die Lockerungen scheinen nicht geeignet, die zuverlässige Information der Verbraucher zu erhöhen“, sagt Ilona Köster-Steinebach vom Verbraucherzentrale Bundesverband.
    Quelle: Berliner Zeitung
  12. Chatzi Go!
    Der FDP-Europaabgeordnete Jorgo Chatzimarkakis hat eine geniale Idee: Weil ihm die Universität Bonn wegen Plagiats den Doktortiel aberkannt hat, will er eine neue Doktorarbeit schreiben. Wer seine Ehre verliert, bastelt sich eine neue – so einfach ist das für einen Politiker einer Partei, die jahrelang plakatiert hat “Leistung muss sich wieder lohnen”. Politische Konsequenzen lehnt Chatzimarkakis ab. Er will genauso wie seine Kollegin Silvana Koch-Mehrin das Mandat behalten, das er mit dem Doktortitel und der damit verbundenen gesellschaftlichen und politischen Reputation errungen hat. Wenn aber wissenschaftliche Betrüger weiterhin das Volk vertreten können, dann ist es entweder schlecht um das Volk oder um seine Volksvertreter bestellt – und um die Führung der betroffenen Partei. Wieder werden Maßstäbe geschleift, wieder wird das Mandat entwertet. Der Doktorgrad und die dahinter steckende selbstquälerische Anstrengung ohnehin. Dass Politiker Vorbilder sein sollten – diese Forderung ist wohl nur noch lächerlich. Chatzmarkakis und Koch-Mehrin haben für sich beschlossen, dass wissenschaftlicher Betrug und Volksvertretung durchaus vereinbar sind – und werden mit dieser Einstellung von ihren Parteiführungen gedeckt. Genauso wie der baden-württembergische CDU-Landtagsabgeordnete Matthias Pröfrock.
    Quelle: Sprengsatz
  13. Das Unbehagen an der politisch-medialen Klasse
    Meinungsmacher, Meinungsmärkte und Meinungsmedien im Hauptstadtjournalismus.
    Die Analyse unserer Gespräche mit 35 tonangebenden Korrespondenten und Redaktionsleitern, politischen Sprechern und PR-Strategen, Lobbyisten und Politikberatern in Berlin spricht für sich – und bestätigt unsere These von der Domestizierung des politischen Feldes durch die Medienzunft…Sie bestätigt, dass sich unsere Politiker und Journalisten mitunter gefährlich nahe kommen und dabei unentschuldbare Risiken eingehen, was ihre professionelle Distanz und ihr Urteilsvermögen angeht…Und sie bestätigt, dass der gesamte Berliner Medienbetrieb heute immer wieder irgendwo zwischen Realitätsverlust, Sensationsrummel und Wichtigtuerei changiert. Alles in allem bestätigte sich für uns etwas, das wir in dem Buch „Die Meinungsmacher“ zugespitzt als die „Verwahrlosung des Hauptstadtjournalismus“ bezeichnet haben, also den Verfall eines mächtigen Berufsstands, der im Berliner Meinungsmarkt maßgeblich bestimmt, was deutschlandweit diskutiert wird.
    Die Plagiats-Affäre um Karl Theodor zu Guttenberg ist so ein Fall, an dem sich nicht nur hervorragend zeigen lässt, wie die Kanzlerin – so Habermas – „die politische Kultur des Landes berlusconisierte“… Es hat im Übrigen auch niemand darauf gewartet, bis Journalisten der Welt erklären, ob die Dissertation des Ministers ein Plagiat ist oder nicht – vielmehr haben umtriebige Blogger bewiesen, wie gut die Welt ohne FAZ, „Zeit“, „Süddeutsche“ oder „Spiegel“ auskommt: Quasi in Rekordzeit sorgten Hunderte, die sich als Kuratoren an der säuberlichen Dokumentation der plagiierten Textpassagen beteiligten, für ein hohes Maß an Transparenz…
    Wo wir aber schon mal bei Springer Verlag und „Spiegel“ sind: Die beiden Zugpferde unter den Meinungsmedien, die sich mitunter wie Zirkuspferde aufführen, haben ohnehin ein merkwürdiges Verhältnis, das irgendwie schon symptomatisch für den neuen hauptstadtjournalistischen Stil ist: Während vor allem die „Bild“-Zeitung immer ungenierter politische Kampagnen fährt, um der lauteste im Konzert der Meinungsführer zu sein, machte sogar der (ansonsten in Mediendingen eher geräuscharme) „Spiegel“ vor kurzem mit einer grellen, aber recherchearmen Geschichte auf, die den ehemaligen Erzfeind zum publizistischen Brandstifter stempelte.
    So meinungsstark, selbstbewusst und oft auch gnadenlos manche Hauptstadtjournalisten reportieren und analysieren, so ungern werden sie selbst hinterfragt.
    Quelle: DGB Gegenblende
  14. Berlinwahl: Die rote Renate
    Miese Umfragen, Witze von SPDlern, ein betrunkener Mitarbeiter: Es läuft schlecht für Renate Künast, die Berlin regieren will. Jetzt setzt sie auf das Label “sozial und gerecht”. In ihrem Wahlprogramm haben die Grünen den Punkt “Solidarisches Berlin” an den Anfang gesetzt. Sie versprechen, in begehrten Kiezen Mietaufschläge zu deckeln, wenn Wohnungen frei werden, ebenso die Spanne für Mieterhöhungen zu verkleinern. Sie wollen die Zusammenarbeit von Sozialträgern verbessern, Jobcenter sollen “auf Augenhöhe” mit Arbeitslosen umgehen. Sonderlich ambitioniert ist die Sozialoffensive jedoch nicht: Die Initiative für Mietdeckelung muss durch den Bundesrat, Bürokratieabbau will jeder, und dass ausgerechnet Grüne – die Hartz IV im Bund beschlossen – Sanktionen jetzt doof finden, entbehrt nicht einer gewissen Ironie.
    Quelle: taz
  15. Arme Akademiker – Frau Lehrerin hat ein Loch im Schuh!
    Bildung zahlt sich nicht aus: Obwohl sie jahrelang studiert haben, verdienen Dozenten an Sprachinstituten und Volkshochschulen oft weniger als Hilfskräfte auf dem Bau. Viele arbeiten nah am Sozialbetrug. Schuld sind die magere staatliche Förderung, das Rentenversicherungsgesetz – und die Liebe zum Job.
    Quelle: SPIEGEL Online
  16. Jetzt kommt die Flut
    Die Hochschulen ächzen jetzt schon unter einem Studentenansturm. Doch eine neue Prognose lässt Schlimmeres befürchten: In diesem Jahr wird es mehr Studienanfänger in Deutschland geben als jemals zuvor – und die Vorhersagen für die kommenden Jahre sind viel zu niedrig berechnet.
    Quelle: SPIEGEL Online

    Anmerkung unseres Lesers J.T.: Ein vordergründiger Informationsartikel über die Flut von Studienanfängern und dem Versagen der Politik bauscht sich mit Zitaten von CHE-Leuten und einer Studie derselben zur Kritik an der Verteilung und Finanzierung von Hochschulplätzen auf und schließt mit dem vielsagenden Absatz:

    Wie lassen sich die Hochschulen auf Dauer finanzieren?
    Die Experten mahnen Bund und Länder, in ihren Anstrengungen nicht nachzulassen. Die Politiker müssten dringend “neue Wege der Hochschulfinanzierung” diskutieren, um die unterschiedlichen Interessen der verschiedenen Länder in einen Ausgleich zu bringen. […]
    Die Finanzierung ist bisher Sache der Länder, der Bund kann nur über besondere Konstruktionen wie den Hochschulpakt aushelfen. Mit solchen Hilfskonstruktionen aber könne und dürfe man nicht ewig weitermachen. Einfach darauf zu vertrauen, dass die Anfängerzahlen bald wieder sinken, wenn die doppelten Abiturjahrgänge die Schulen verlassen hätten – das wäre nach Ansicht der Gütersloher Experten falsch. […]”

  17. ER warf Sarrazin aus dem Döner-Laden
    Selbstsicher blickt Oberkellner Mehmet Özkan (41) in die Kamera: Er ist der Mann, der Thilo Sarrazin (66, SPD) aus dem Berliner Kult-Restaurant „Hasir“ warf.
    Quelle: BILD

    Anmerkung WL: Da macht Sarrazin mit einem Kamerateam begleitet eine Tour durch Kreuzberg. Welches andere Ziel konnte er und das ZDF-Magazin haben, als zu provozieren. Und dann wundert er sich noch, dass er selbst provoziert wird und aus einem Restaurant hinauskomplimentiert wird.

  18. Das Letzte: Peter Hahne: Bettelverbot
    “Ich fordere ein generelles Bettelverbot auf öffentlichen Plätzen […]
    Die traditionelle „Kultur des Bettelns“ in unserer abendländischen Gesellschaft hat in einem Sozialstaat keine Berechtigung mehr. Diese Bettelei ist Belästigung und Nötigung.”
    – Peter Hahne, BILD-Zeitung vom 16. Juli 2011 –
    Zum Gesagten sei angemerkt: Ahnungslos predigen – das ist das Metier des oben zitierten Theologen, der als Zierde der öffentlich-rechtlichen Sendeanstalten und der Witwe Springer fungiert. Bei denen verkündet er sein Halbwissen regelmäßig so, als sei es tiefgründiges, christlich-karitatives, ja göttliches Wissen. Für Obdachlose nämlich, und das unterschlägt Hahne, der sein Verbot ohne Rücksicht auf die Wirklichkeit durchsetzen möchte… für Obdachlose nämlich, gibt es keinen Sozialstaat. Ohne Bleibe keine Sozialleistung – und umgekehrt: ohne Sozialleistung keine Bleibe. Der Obdachlose ist somit dazu verdonnert, bei kirchlichen Einrichtungen einzukehren – oder sich dort abweisen zu lassen, wenn Mangel an Schlafplätzen oder mitfühlendem Personal herrscht. Und er ist auch deshalb dazu verurteilt, sein Leben mit Bettel aufrechtzuerhalten.
    Quelle: ad sinistram

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