2006, das Jahr der Fußball-WM in Deutschland und der deutschen Sekundärtugenden
Bei keiner Ansprache und keinem Interview deutscher Staatsoberhäupter und Parteipolitiker zum Neuen Jahr darf der Hinweis fehlen, dass wir Deutsche „alle Chancen haben“, wenn schon nicht wirtschaftlich erfolgreich, so doch wenigstens Fußballweltmeister zu werden: Statt Schwarz-Rotes wenig erfolgversprechendes weiterwursteln, lieber nur noch das Grün des Fußballrasens vor Augen.
Und: Wie auf geheimes Kommando appellieren unsere Politiker nur noch an „unsere“ Sekundärtugenden. Haben Sie etwa erkannt, dass „wir“ an ihren Werten zweifeln?
„Ein bisschen mehr Ehrlichkeit, Anständigkeit und Redlichkeit“, fordert der Bundespräsident von uns. Und der SPD-Vorsitzende Platzeck ergänzt aus der „linken Mitte“ gut preußisch: “Anständigkeit, Verlässlichkeit und Pflichterfüllung sollten in Deutschland wieder mehr Einzug halten.”
„Wie wäre es, wenn wir uns heute Abend das Ziel setzen, im kommenden Jahr überall noch ein wenig mehr als bisher zu vollbringen?“ appelliert die Kanzlerin.
Deutscher Fußball und deutsche Politik fügen sich: Wenn man schon keine spielerische Klasse hat, dann muss man wenigstens deutsche Tugenden zeigen: Kämpfen Deutschland, kämpfen! Das ist die eigentliche deutsche Leitkultur!
Wie sagte schon die BVB-Fußballlegende Adi Preißler: „Wichtig iss auffem Platz“ oder: „Dat Unterbewusstsein iss dat, wo der Mensch nix für kann.“
Was mag wohl im Unterbewusstsein unserer Politiker vorgehen, dass sie sich uni sono auf unsere Sekundärtugenden besinnen? Sind Primärtugenden wie Autonomie, Selbstverwirklichung, Emanzipation einfach out? Haben sie keine inhaltsbezogenen Werte mehr? Haben wir es eben nur noch mit Pragmatismus als geronnener Ideologie zu tun? Pragmatismus, der sich gegen Nachdenken abschottet und nur noch tugendhafte Pflichterfüllung kennt und verlangt. Mehr ist in den Köpfen offenbar nicht mehr drin!