Das Verhältnis zur Pornographie ist nicht nur in linken und feministischen Kreisen umstritten. Handelt es sich bei ihr um perversen Kommerz und abweichendes Psycho-Verhalten, gar um eine Sucht? Oder ist sie ein Weg zu neuem Glück – der nur offiziell verdrängt wird? Ist mittlerweile die Prüderie der alten Rechten auf die neue Linke übergegangen? Und was haben schlechte Arbeits- und Sozialverhältnisse mit schmutzigen Fantasien zu tun? Mit diesen und weiteren Fragen setzt sich der Psychosomatiker, Politiker und Liedermacher Diether Dehm in seinem neuen Buch „Pornographie und Klassenkampf“ auseinander. Es ist ein Plädoyer für eine materialistische Psychologie, die den Einfluss der gesellschaftlichen Verhältnisse einbezieht. Tilo Gräser hat mit ihm darüber gesprochen.
Herr Dehm, Sie haben ein Buch über „Pornographie und Klassenkampf – Für eine materialistische Psychologie“ geschrieben. Was haben Pornographie und Klassenkampf gemeinsam, und was trennt sie?
Seit der Höhlenmalerei bilden Menschen Rätselhaftes und Bedrohliches in der Natur nach, um psychisch darüber eine Art Regie zu gewinnen. Als sie dann allmählich, um den Begründer der „Kritischen Psychologie“ Klaus Holzkamp zu zitieren, „den Kampf gegen den Kampf ums Dasein“ aufnahmen, mussten sie dazu Lebensmittel und Werkzeuge anhäufen. Über diese strategischen Vorräte machten sich Klassen her. Und aus den Kämpfen stiegen wieder neue Abbildungen in die Köpfe, wurden auch zu Refugien gegen Arbeitsqual und Unterdrückung. So spiegelt sich Klassenkampf in Verstand und Psyche. Und so formatiert die Gesellschaft auch die Triebe, die bei Marx „animal spirits“ heißen. Laut Antonio Gramsci wird damit die „Geschichte zur Natur des Menschen“ – und nicht mehr die Biologie!
Sie heben in ihrem Buch hervor, dass der Mensch sich radikal vom Tier unterscheidet. Gilt das auch für den Fortpflanzungstrieb?
Die Verschmelzung zwischen Trieben und gesellschaftlichen Verhältnissen ist zwar schwer vorstellbar, aber der Mensch ist kein graduell weiterentwickeltes Tier. Seine Art Sexualität verhindert zumeist Fortpflanzung. Wie eine TV-Koch-Show die Abwesenheit von Hunger demonstriert oder eine Cocktailbar von echtem Durst. Vielleicht kann man sich die Entbiologisierung der Triebe im Gesellschaftlichen grob wie eine Espressomaschine vorstellen: Der Druck, das siedende Wasser und die Kaffeebohnen sind alleine in der Tasse nicht mehr getrennt auffindbar. Auch die menschliche Sexualität ist eine eigene und historische Kraft geworden.
Und was hat Arbeit mit Pornographie zu tun?
Ohne Sex und das dazugehörige Kopfkino bliebe kapitalistisch vernutzte Arbeitskraft irreparabel beschädigt. Aber zum erholsamen Ausruhen gehört auch das Träumen. Brutale Arbeits-, Zeit- und Lohnregimes durchprägen selbst die entlegensten intimen Vorstellungen direkt und dialektisch. Darum versuche ich aufzuweisen, wie das Entfesseln von Lust mit sozialen Befreiungskämpfen verbunden ist. Ein geglückter Akt ist zum Beispiel weniger an die Stärke von Geschlechtsteilen als an die von Gewerkschaften geknüpft. Als ich 1984 für die IG Metall und Franz Steinkühler die 35-Stunden-Kulturkampagne organisiert habe, hatten wir auch den Slogan „Mehr Zeit zum Lieben“ genommen.
Sie schreiben, dass schmutzige Verhältnisse schmutzige Fantasien hervorbringen. Wie lassen sich „saubere Fantasien“ hervorbringen, und was ist darunter zu verstehen?
Träume, also unwillkürliche Ästhetik, kann man nicht säubern. In der Kunst, also in der willkürlichen Ästhetik, sollten Verbote auch allenfalls Ultima Ratio bleiben. Hingegen vermag kostbare Pornographie viel produktiver billige Pornos zu überwinden. Sogar Bertolt Brecht nannte seine erotischen Sonette „pornographisch“. Ich empfehle, solche Gedichte einander auch im Bett mal vorzulesen, mit entsprechenden Betonungen. Eine Aufklärung, die keine Kunst mehr hat, überlässt die Lust an erotischer und sozialer Befreiung kampflos der Demagogie von oben.
Sie weisen im Buch auf die Rolle der Entfremdung im Kapitalismus durch die kapitalistischen Verhältnisse hin. Pornographie gibt es aber seit der Antike, wie Sie auch schreiben. Was hat sich da mit den gewandelten gesellschaftlichen Verhältnissen verändert?
Sabine Kebir hat in ihrem Vorwort zum Buch die früheren Kämpfe für freiere Erotik wunderbar erläutert – bis zu Engels’ Kritik an Freiligraths Prüderie, bei dem hätten „die Menschen gar keine Geschlechtsteile“. Mit der Leibeigenschaft und der mittelalterlichen Inquisition war das Spiel der Geschlechter, der Scham mit der Schamlosigkeit, brutal verklemmt worden. In der griechischen Antike noch waren zum Beispiel alleinlebende Gespielinnen sozial anerkannt. Das waren musisch Gebildete: die Hetären. Aber es gab auch die preiswerteren: die Porne. Später erhob Athen auf beide die „Porne-Steuer“.
Pornographie gilt allgemein als verpönt und schlecht, auch wenn viele sie nutzen. Sie beklagen eine neue Prüderie gerade bei Linken. Wie ist aus der einst lustbejahenden Linke eine prüde Linke geworden? Und welche Verbindung gibt es zu dem heutigen „woken“ und auf alle möglichen Minderheiten orientierten Trend bei Linken?
Ich erinnere in meinem Buch an Wilhelm Reichs Sex-Pol-Bewegung in der KPD und auch an meinen tödlich verunglückten Freund und Philosophen des Sozialistischen Deutschen Studentenbundes (SDS), Günter Amendt, mit seinem Buch „Sex-Front“. Aber seit der Wende wuchern über die Befreiung der Sexualität kommerzielle und woke Giftgewächse – etwa das Geschwätz von der „toxischen Männlichkeit“, mit Verzichtsparolen von oben herab – besonders gegen die Pornos der Wenigerverdienenden. Darum versuche ich auch, Therapieansätze zu widerlegen, etwa gegen Pornosucht, die zu heilen vorgeben, aber mit unwirksamen Verboten, die eher an Mittelalter und Vierzigerjahre erinnern.
Was verstehen Sie unter materialistischer Psychologie? Was unterscheidet diese von der etablierten Psychologie, die sich zum Großteil immer noch an Sigmund Freud orientiert?
Bei Freud fehlt jegliche Kategorie der persönlichkeitsbildenden Wirkmacht von Arbeit! Demzufolge wäre mit Beschädigungen der kindlichen Psyche gleichsam das letzte Wort gesprochen; später bestenfalls noch zu lindern und zu mindern – auf dem Einzelsofa des Psychoanalytikers. Die sowjetische Psychologie Lew S. Wygotskis und Alexej N. Leontjews hingegen ist wesentlich realistischer und lebenslang hoffnungsvoll. Sie geht auch auf Friedrich Engels‘ „Vom Anteil der Arbeit an der Menschwerdung des Affen“ zurück. Sie weist empirisch nach, wie die menschlichen Tätigkeiten in ihrer jeweilig historischen Verfasstheit Denken und Sprechen produzieren – biographisch und gattungsgeschichtlich. Ich habe in meinem Buch nur noch Träume und Metaphern hinzugefügt – auch die erotischen.
Welche Rolle kann eine materialistische Psychologie in einer Gesellschaft spielen, die eher überpsychologisiert wirkt, wo gesellschaftliche und politische Probleme schnell psychologisiert werden?
Pseudopsychologisiert! Es kommt darauf an, der verlogenen Egovergötzung des Imperialismus eine bessere Psychologie entgegenzusetzen, in der auch ein geglückter Streik erotisch enthemmt. Über Liebe ist neu zu sprechen – in subversiver Heimlichkeit, aber auch öffentlich und politisch. Weil auch Therapie immer auf kollektiven Beinen steht und geht – aber auch liegt.
Diether Dehm ist promovierter Psychosomatiker. Er ist Autor zahlreicher kommerzieller Nummer-1-Hits sowie von Liebes-, Antifa- und Friedensliedern. 17 Jahre lang war er für SPD und Die Linke im Bundestag. Er war Manager von Katarina Witt, BAP, Klaus Lage und anderen sowie Moderator und Autor diverser TV-Sows und Satire-Sendungen, von Romanen und Musicals.
Dehm, Diether: „Pornographie und Klassenkampf. Für eine materialistische Psychologie“.
Promedia Verlag 2023, 312 Seiten; ISBN: 978-3-85371-512-3; Print: € 28,00