„Vor Reisen nach Syrien wird gewarnt. Alle Deutschen, die das Land noch nicht verlassen haben, werden zur Ausreise aus Syrien aufgefordert.“

„Vor Reisen nach Syrien wird gewarnt. Alle Deutschen, die das Land noch nicht verlassen haben, werden zur Ausreise aus Syrien aufgefordert.“

„Vor Reisen nach Syrien wird gewarnt. Alle Deutschen, die das Land noch nicht verlassen haben, werden zur Ausreise aus Syrien aufgefordert.“

Karin Leukefeld
Ein Artikel von Karin Leukefeld

So ist es auf der Internetseite des Auswärtigen Amtes (AA) Berlin zu lesen, Stichwort „Sicher Reisen“. Die Reisewarnung für Syrien werde zwar angeblich täglich aktualisiert, allerdings wurden die Angaben seit dem 31. März 2022 nicht verändert. Seit 2012 seien Sanktionen gegen die Syrische Arabische Fluglinie (Syrian Airlines) in Kraft, ist da zu lesen. Der Erwerb von Flugtickets stelle für EU-Bürger eine Straftat dar. Auch Geld- und Kreditkarte seien aufgrund von Sanktionen nicht gültig. Vor terroristischen Gefahren wird gewarnt, die Sicherheitslage sei landesweit „äußerst volatil“, die Kriminalität habe zugenommen und auch Ausländer könnten entführt werden. Die staatlichen Strukturen seien vielerorts zerfallen, das allgemeine Gewaltrisiko sei sehr hoch und das Verhalten syrischer Sicherheitsbehörden sei „oft unvorhersehbar und willkürlich“. Von Karin Leukefeld.

Dieser Beitrag ist auch als Audio-Podcast verfügbar.

Jenseits der öffentlich einsehbaren „Reisewarnungen“ erstellt das Auswärtige Amt auch Lageberichte, die allerdings nicht öffentlich sind. Darin geht es um die Frage, ob Flüchtlinge und Asylbewerber in ihre Heimatländer abgeschoben werden können. Diese Lageberichte werden für das Bundesinnenministerium und das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (BAMF) erstellt und werden bei den Konferenzen der Innenminister der Länder besprochen.

Eine weitere Art von Lagebericht des Auswärtigen Amtes wird über die allgemeine Sicherheitslage in einem Land erstellt und gilt als „vertraulich“. Diese Berichte kann man als Entscheidungsgrundlage ansehen, wie die Bundesregierung sich außen- und innenpolitisch gegenüber dem jeweiligen Land positioniert. Wie werden die diplomatischen, wirtschaftlichen und entwicklungspolitischen bilateralen Beziehungen gestaltet? Wie positioniert sich Deutschland zu dem Land bei Entscheidungen der EU, der internationalen Finanzinstitutionen (IWF, Weltbank) und der UNO und ihren Organisationen? Wer und welche Positionen zu dem Land werden unterstützt, welche nicht?

Wenn eine Regierung einen „vertraulichen Bericht“ Journalisten zu lesen gibt, hat sie eine Absicht. Trotz des Etiketts „vertraulich“ will sie, dass der Inhalt an die Öffentlichkeit gelangt. Journalisten eignen sich dafür besonders gut, weil sie sich und ihre Recherche mit dem Etikett „investigativ“ und „exklusiv“ versehen und damit den Wert – und die eigene Bedeutung – steigern können. Ausgewählt und nah an der Macht, ganz nah dran an wichtigen und besonders bedeutungsvollen Informationen, das steigert die Glaubwürdigkeit.

In dem vorliegenden Fall hat tagesschau.de – angesiedelt beim Norddeutschen Rundfunk (NDR) – den vertraulichen Lagebericht des Auswärtigen Amtes zu Syrien „einsehen“ können und darüber einen Text verfasst: Die Menschenrechtslage in Syrien sei „katastrophal“, „eine sichere Rückkehr Geflüchteter könne nicht gewährleistet werden“, lautet die Kernbotschaft in der Überschrift.

Das Besondere an diesem Bericht ist, dass das Auswärtige Amt zumindest offiziell niemanden in Syrien hat, der die Lage im Land beurteilen könnte. Die deutsche Botschaft ist seit 2012 geschlossen. Der letzte offizielle Lagebericht erschien – laut NDR – vor 13 Jahren, also 2010.

Damals war die Welt noch in Ordnung in Syrien. Die bilateralen Beziehungen zwischen Deutschland und Syrien boomten. Studierendenaustausch, Medienkooperation, Touristenprogramme, Kulturaustausch waren an der Tagesordnung. Im Goethe-Institut drängelte sich die syrische Jugend, um Deutsch zu lernen. Östlich der Hauptstadt Damaskus, entlang der Autobahn nach Homs und Aleppo, hatten sich deutsche Autofirmen in die Phalanx gläserner Ausstellungspaläste eingereiht. Dutzende deutsche staatliche, halb- und nichtstaatliche Hilfs- und Entwicklungsorganisationen waren im Land unterwegs und berieten beim Wassersparen, bei der Stadtplanung, bei Renovierungs- und Restaurierungsprojekten. Experten aus dem Seniorenprogramm der Entwicklungshilfe (SES) bildeten aus und bauten auf. Die Deutschen waren beliebt, und das „Deutsche Haus“ in Damaskus summte wie ein Bienenkorb voller Unternehmer und Investoren, die dort ein- und ausgingen.

13 Jahre Krieg und Zerstörung später hat sich Syrien dramatisch verändert. Doch ist es so, wie das aktuelle Lagebild des Auswärtigen Amtes – vermittelt durch den Bericht bei tagesschau.de – es beschreibt?

Der Lagebericht basiere nicht „vorrangig“ auf eigenen Erkenntnissen, heißt es bei tagesschau.de, das Auswärtige Amt berufe sich „unter anderem auf Informationen von Organisationen der Vereinten Nationen“. Namentlich werden zwei Organisationen genannt: das UN-Hilfswerk für Flüchtlinge (UNHCR) und das „Syrische Netzwerk für Menschenrechte“ (SNHR).

Die Zusammenarbeit und der Informationsaustausch zwischen Regierungen und den Hilfsorganisationen der Vereinten Nationen ist Routine. Seit Beginn des Syrien-Krieges 2011 ist Deutschland – nach den USA – der zweitgrößte Geldgeber für humanitäre und Nothilfe und pflegt regelmäßige Kontakte mit UN-Organisationen wie dem UNHCR, UNICEF oder dem Welternährungsprogramm (WFP). Schließlich werden die Hilfsprogramme mit dem Geld der Geberländer finanziert, das schafft Abhängigkeit und Verpflichtung.

Wer aber ist das in Großbritannien ansässige „Syrische Netzwerk für Menschenrechte“ (SNHR), das als Quelle genannt wird?

Auf der Webseite der Organisation heißt es, dass das SNHR im Juni 2011 auf Initiative von Fadel Abdul Ghany gegründet worden sei, der die Organisation bis heute leite. Er habe einen Abschluss als Ingenieur von der Universität Damaskus und einen Master in Internationalem Recht von der De Montfort Universität, Leicester (Großbritannien). SNHR sei Quelle für viele Staaten wie die USA, Deutschland, Frankreich, Großbritannien, Niederlande und Dänemark.

In der Selbstdarstellung der Organisation heißt es u.a., dass das Syrische Netzwerk für Menschenrechte „durch Partnerschaftsvereinbarungen und Absichtserklärungen mit vielen renommierten internationalen und regionalen Einrichtungen und Institutionen“ zusammenarbeite. Neben der US-Administration werden Human Rights Watch, Amnesty International, die deutsche Heinrich-Böll-Stiftung und andere mehr benannt.

Die SNHR-Webseite listet eine beeindruckende Fülle von Statistiken und Berichten auf, teilweise seit 2011. Da gibt es beispielsweise eine „Interaktive Karte über die zivilen Todesopfer“, die – Stand Juni 2023 – mit 230.465 angegeben werden. Eine weitere Statistik gibt an, wie viele der Todesopfer Männer, wie viele Frauen sind. In verschiedenen Farben werden die Täter markiert, und es wird gezeigt, wie viele der Opfer jede dieser Tätergruppen zu verantworten hat. 87,4 Prozent der Opfer sollen demnach von der syrischen Armee und „iranischen Milizen“ getötet worden sein. Alle anderen am Konflikt beteiligten Kräfte – russische Streitkräfte, Islamischer Staat, bewaffnete Oppositionsgruppen, US-geführte Streitkräfte, SDF, Hay’at Tahrir al Sham, Islamistische Turkistan Partei – sollen Opfer im einstelligen Prozentbereich oder auch darunter zu verantworten haben. Weitere Statistiken gibt es über Verschwundene, Folteropfer, willkürlich Verhaftete, getötete Kinder, Frauen. Am unteren Rand der Tafeln steht jeweils „Wie von SHNR dokumentiert“. Weitere oder konkrete Quellen für die Angaben werden nicht genannt.

Über die Arbeitsmethode, mit der SNHR seine Informationen sammelt, erfährt man, dass Flüchtlinge, Augenzeugen befragt werden. Zudem gebe es einen Fragebogen, über den Personen digital Beobachtungen mitteilen könnten. Die Kategorisierung und Einteilung erfolgten gemäß dem Internationalen Menschen- und dem Humanitären Völkerrecht, man verfahre dabei in Anlehnung an „internationale Einrichtungen wie dem Internationalen Komitee vom Roten Kreuz“.

Warum macht SNHR sich diese Arbeit, die eigentlich Aufgabe anerkannter und erfahrener Untersuchungskommissionen und/oder des Internationalen Komitees des Roten Kreuzes, IKRK, ist? Und was macht SNHR so einflussreich, dass es als besonders glaubwürdige Quelle zitiert und hervorgehoben wird?

SNHR, Public Relation und der Drehtüreneffekt

Der Auftritt macht den Unterschied. Während UN-Organisationen und besonders das IKRK ihre Informationen nutzen, um zwischen Kriegsakteuren zu vermitteln, um Wege aus dem Konflikt aufzuzeigen und Zivilisten zu schützen, wendet sich SNHR gezielt an Medien und an die Öffentlichkeit, die es dank der „Sozialen Medien“ auch erreicht. Mehr als eine halbe Million Fans bei Facebook, Follower bei Instagram und Twitter im fünfstelligen Bereich stellen sicher, dass SNHR mit seinen Meldungen entsetzen und anklagen kann, um die – nach SNHR-Lesart – verantwortlichen Akteure an den Pranger zu stellen. „Keine Gerechtigkeit ohne Rechenschaftspflicht“ lautet das Motto, die Verursacher des von SNHR dokumentierten Unrechts müssen juristisch belangt werden.

International bekannte Medien wie die New York Times, der Guardian, CNN und BBC sorgen seit Jahren dafür, dass die Zahlen von SNHR in den Schlagzeilen sind, wenn es um Syrien geht. Die „Zivilgesellschaft“, kirchliche, Friedens- oder Flüchtlingsinitiativen, die in den meisten Fällen keinen Zugang zum Geschehen haben, greifen interessiert, um nicht zu sagen begierig auf die beeindruckenden Schaubilder, Berichte und Zahlen zu. Regierungen nicht nur in Deutschland und selbst UN-Organisationen nutzen und verbreiten SNHR-Berichte und Newsletter und geben der Organisation dadurch Glaubwürdigkeit.

SNHR arbeitet wie eine PR-Agentur, um sein Anliegen zu verbreiten. Stellungnahmen und Berichte über SNHR, die von internationalen Medien verbreitet werden, werden auf der Webseite ebenso präsentiert wie die Teilnahme von SNHR auf internationalen Konferenzen. Überall, wo Syrien vorkommt, ist SNHR zu finden. Geben Sie „Syrien Menschenrechtslage“ in eine Internetsuchmaschine ein und Sie landen sicher bei SNHR.

Ein Beispiel für den Drehtür-Effekt ist auf der Webseite von SNHR am 5. Juli 2023 zu finden. Einen Tag nach der Veröffentlichung des NDR-„Exklusiv“-Berichts über den vertraulichen Lagebericht des Auswärtigen Amtes ist auf der SNHR-Webseite zu lesen:

„Bericht des Deutschen Außenministeriums wiederholt, dass Syrien unsicher ist und zitiert SNHR als hauptsächliche Quelle“.

SNHR sammelt und liefert die Informationen, das Auswärtige Amt übernimmt sie im vertraulichen Lagebericht, die Presse – hier der NDR – übernimmt die Aussagen für einen Bericht, und SNHR unterstreicht seine Glaubwürdigkeit damit, dass das deutsche Außenministerium SNHR als hauptsächliche Quelle zitiert.

Wer ist das Syrische Netzwerk für Menschenrechte?

Ein Blick auf die Geschichte, soweit sie recherchiert werden kann, legt eine deutliche Nähe zur syrischen Opposition der ersten Monate nah. Die Gründung wird mit Juni 2011 angegeben, dem Zeitraum, in dem bei einer Konferenz im türkischen Antakya auch der Syrische Nationalrat entstand. Dessen damaliger Vorsitzender war der bekannte syrische oppositionelle Soziologieprofessor Burhan Galioun, der auch im Direktorium des SNHR saß. Der von dem US-Magazin The Grayzone recherchierte Hinweis dazu ist auf der SNHR-Webseite gelöscht.

Eine Nähe zur syrischen Opposition ergibt sich aus verschiedenen Stellungnahmen des Leiters von SNHR, Fadel Abdul Ghany, der wiederholt eine ausländische Militärintervention in Syrien gefordert hat. Im Mai 2019 veröffentlichte SNHR einen Bericht über den Einsatz chemischer Waffen, welchen es der syrischen Armee und Regierung zuschrieb. „Das syrische Regime setzt erneut chemische Waffen in Latakia ein und die USA, Frankreich, Großbritannien und die zivilisierte Welt müssen ihre Versprechen erfüllen“, stand auf dem Titel. „Eine sofortige Intervention muss durch eine Internationale Koalition erfolgen, um die syrische Zivilbevölkerung zu schützen“, stand darunter, und weiter: „Wie die NATO-Intervention im Kosovo“, die ohne ein UN-Sicherheitsratsmandat und damit völkerrechtswidrig war. SNHR beruft sich – wie die NATO damals – auf „Responsibility to Protect“, eine Schutzverpflichtung, die in der UNO hoch umstritten ist.

Schieflage durch Einseitigkeit

Die enge Zusammenarbeit zwischen Bundesregierung und SNHR macht die Einseitigkeit deutlich, mit der die Regierung in Berlin die Lage in Syrien wahrnehmen und darstellen will und die doch eine Schieflage erzeugt.

Aus dem Lagebericht:

Die Menschenrechtslage sei „katastrophal“, Drohnenanschläge (der Türkei), schwerer Artilleriebeschuss (syrische Armee, Originalton „syrisches Regime“) und Luftschläge der russischen Luftwaffe töteten „immer wieder Zivilisten“. SNHR habe erklärt, dass mehr als 1.000 Zivilisten 2022 getötet worden seien, darunter 250 Kinder. Das „Regime und seine Verbündeten“ – gemeint sind Russland, der Iran und die libanesische Hisbollah – griffen auch „gezielt kritische Infrastruktur“ mit „Präzisionsraketen und zielgenauen Waffensystemen von Kampfflugzeugen“ an.

Von vor Ort:

Zur Wahrheit gehört, dass auch die bewaffneten Oppositionellen in Idlib Drohnen und schwere Artillerie gegen die Gebiete einsetzen, die unter Regierungskontrolle stehen. Dabei werden auch Zivilisten getötet. Die Zahlen von SNHR über mehr als 1.000 getötete Zivilisten, darunter 250 Kinder, im Jahr 2022 lassen sich nicht verifizieren, Beweise für die Zerstörung „kritischer Infrastruktur“ durch die syrische Armee und die russische Luftwaffe fehlen. Allerdings bittet Syrien seit Jahren darum, Unterstützung für die Rekonstruktion kritischer, d.h. ziviler Infrastruktur – Elektrizitätswerke, Wasserwerke – zu erhalten, um die Bevölkerung im ganzen Land besser versorgen zu können. Alles, was sie erntet, ist Schweigen und Ablehnung seitens der westlichen Allianz, der auch Deutschland angehört.

Aus dem Lagebericht:

Gefahren gebe es durch Minen und Blindgänger vor allem auf landwirtschaftlicher Fläche, die für die Produktion ausfiele. Teuerung, Inflation führten dazu, dass 90 Prozent der Bevölkerung unterhalb der Armutsgrenze lebten, und 68 Prozent der Bevölkerung seien vom Hunger bedroht. Die Zahl der „chronisch unterernährten Kinder“ steige täglich. Und schließlich heißt es, Opposition und Medien würden „systematisch verfolgt und unterdrückt“, es gebe „alltäglich schwerste Repression gegen Medienschaffende.

Von vor Ort:

Den Landminen und Blindgängern aus zehn Jahren Krieg fallen im ganzen Land Menschen zum Opfer, vorwiegend Kinder und Jugendliche, die mit Ziegen und Schafen unterwegs sind, Bauern auf den Feldern oder Trüffelsammler. Die landwirtschaftliche Produktion ist jahrelang ausgefallen, weil Weizenfelder im Al Ghab und in Hasakeh von bewaffneten Regierungsgegnern kontrolliert wurden und werden, die ihre Ernte, wenn sie ernteten, im Nordirak oder in der Türkei gegen Devisen verkauften. In diesem Jahr allerdings war die Ernte gut, heißt es in Damaskus. Das lag u.a. daran, dass viele Bauern mit ihren Familien nach Idlib in die von der Regierung kontrollierten Gebiete zurückgekehrt sind, um ihre Felder dort wieder zu bestellen. Die Inflation hat viele Gründe. Die internationale Finanzkrise, die auch in Deutschland die Inflationsrate auf Rekordhöhe seit dem Zweiten Weltkrieg getrieben hat. Die einseitigen wirtschaftlichen Strafmaßnahmen (Sanktionen) der EU und USA, die Wiederaufbau und Investitionen blockieren. Diese wiederum führen zu Korruption und einer Schmuggelwirtschaft, vor allem entlang der äußeren Grenzen und den innersyrischen Front- oder Kontaktlinien. Die anhaltende Besetzung der syrischen Ölquellen im Nordosten des Landes durch US-Truppen verhindern, dass Syrien seine nationalen Ressourcen zur Versorgung der Bevölkerung nutzen kann.

Mit der Behauptung, Opposition und Medien würden „systematisch verfolgt“ und es gebe „schwerste Repressionen gegen Medienschaffende“, werden alle syrischen und internationalen Journalisten, die im Land für Agenturen, Inlands- oder Auslandsmedien arbeiten, für unglaubwürdig erklärt.

Die Lage in Syrien ist schlecht, keine Frage. Im UN-Sicherheitsrat erklärte der UN-Koordinator für Nothilfe, Martin Griffiths, vor wenigen Tagen: „Die Menschen in Syrien haben mehr zu ertragen, als wir wirklich begreifen können.“ Der Plan für humanitäre Hilfe in Syrien 2023 sieht laut Griffiths einen Etat von 5,4 Milliarden US-Dollar vor. Weniger als zwölf Prozent davon seien bisher überwiesen worden.

Der Westen ist nicht an einer Verbesserung der Lage interessiert

Eine Besserung scheint nicht absehbar und ist zumindest von Deutschland, EU und USA auch nicht gewollt, zumindest nicht in den Gebieten, die von der syrischen Regierung kontrolliert werden. Mit der Regierung Syriens, die auch mit einem Botschafter bei den Vereinten Nationen in New York vertreten und dort auch ansprechbar ist, pflegt die Bundesregierung offiziell keine Beziehungen.

Anders sieht es mit den besetzten Teilen des Landes im Nordwesten (Idlib, Al-Qaida, islamistisch, türkisch kontrolliert) und Nordosten (kurdisch, US-amerikanisch kontrolliert) aus. Zwar gibt es keine offiziellen diplomatischen Beziehungen zu den jeweiligen Autoritäten, allerdings existiert im Zuge von humanitärer und Nothilfe eine Zusammenarbeit. Idlib und andere von der Türkei besetzte Gebiete erhalten Zuwendungen durch den „Syrian Recovery Trust Fund“ (SRTF), angesiedelt bei der deutschen Kreditanstalt für Wiederaufbau (KfW). Die Einrichtung, die gerade zehn Jahre Jubiläum feierte, wurde 2013 von Deutschland, den USA und den Vereinigten Arabischen Emiraten zugunsten der Nationalen Koalition der syrischen Revolutionären und Oppositionellen Kräfte (Sitz Istanbul) gegründet. Finanzielles Standbein ist die KfW, der Umfang der Projektfinanzierung lag Ende Februar 2023 bei 332,15 Millionen Euro. Deutschland trägt dabei mit 86 Millionen Euro den Löwenanteil noch vor den USA und Japan und den reichen Golfstaaten Bahrain und VAE. Im Laufe der Jahre haben sich weitere Staaten angeschlossen und teilen die „Visionen für eine strahlende Zukunft“ der von bewaffneten Regierungsgegnern kontrollierten Gebiete im Norden Syriens und in Rakka.

Rakka und andere Gebiete erhalten zusätzlich „Stabilisierungshilfe“, die im Rahmen der US-geführten Anti-IS-Koalition sowohl in Syrien aus auch im Irak in Wiederaufbau- und Stabilisierungsprojekte fließt. (Quelle: auswaertiges-amt.de)

Teile und herrsche

Es gibt also Hilfe für die Menschen in Syrien in bestimmten Teilen des Landes. Der Rest Syriens, so Dana Stroul, die heutige stellvertretende US-Verteidigungsministerin für den Nahen Osten, „liegt in Trümmern“.

Der Wiederaufbau in mehr als 70 Prozent Syriens, das von der syrischen Regierung kontrolliert wird, soll nach US-Plan blockiert und das Land – selbst nach dem schweren Erdbeben am 6. Februar 2023 – weiter wirtschaftlich und diplomatisch isoliert werden.

Während die arabischen Nachbarstaaten, die arabischen Golfstaaten und auch die Türkei in den letzten Monaten deutlich gemacht haben, dass sie diese Politik nicht länger mitmachen und auf Syrien zugehen, beharren Deutschland und die EU gemeinsam mit den USA auf Isolation und Sanktionen.

Der EU-Außenbeauftrage Josep Borrell reiste extra nach Kairo an den Sitz der Arabischen Liga, um dort zu erklären, man lehne die Wiederaufnahme der Beziehungen mit Syrien seitens der Arabischen Liga (AL) ab und werde daher auch den ursprünglich geplanten EU-AL-Gipfel absagen.

Die starre Haltung Deutschlands gegenüber Syrien zeigt sich auch in einem Disput zwischen dem Vertreter der Vereinigten Arabischen Emirate, Rashid al Humeiri, und der Vertreterin des deutschen Außenministeriums, Katrin Buchholz, der bei dem Festakt zum zehnjährigen Jubiläum des SRTF in Frankfurt stattfand. Rashid Al Humeri würdigte den Fortschritt, der mit dem Fonds für das Leben der Bevölkerung erreicht werden konnte, und sagte, die UAE freuten „sich auf die vor uns liegende Zeit, wenn die Erfahrungen und Erkenntnisse aus dem SRTF für den Wiederaufbau ganz Syriens genutzt werden“ könne.

Doch die AA-Vertreterin Buchholz widersprach. Für Deutschland bleibe die „übergeordnete Zielsetzung in Syrien eine politische Lösung des Konflikts entsprechend der UN-Sicherheitsratsresolution 2254“, sagte sie. „Dementsprechend bleibt unsere Position gegenüber dem syrischen Regime unverändert. Solange Assad nicht bereit ist, sich sinnvoll in diesen politischen Prozess einzubringen, und so lange sein Regime weiterhin täglich ungeheuerliche Menschenrechtsverletzungen begeht, sind Deutschland und die EU nicht bereit, eine Normalisierung der Beziehungen in Erwägung zu ziehen, das Regime beim Wiederaufbau zu unterstützen oder die Sanktionen aufzuheben.“ Derweil werde man den „SRTF als Instrument für die Opposition und die syrische Zivilgesellschaft mitfinanzieren (…), um Möglichkeiten und Perspektiven und Anreize (in Syrien) zu schaffen, die Unterdrückung zu beenden.“

Darum geht es dem „vertraulichen Lagebericht“ des Bundesaußenministeriums und der Veröffentlichung. Isolation und Sanktionen gegen Syrien sollen aufrechterhalten bleiben, die finanzielle Unterstützung des UN-Hilfswerks für Flüchtlinge und für Rückkehrwillige soll unterbunden und die Initiative der Staaten der Arabischen Liga, die Beziehungen mit Syrien zu verbessern, das Land beim Wiederaufbau zu unterstützen und damit zu stabilisieren, soll blockiert werden.

Dem NDR kam die Rolle zu, in der Öffentlichkeit Einverständnis für diese Regierungspolitik gegen(über) Syrien herzustellen. Sonst hätte der Sender sich um andere Quellen – die es gibt – bemüht.

Nachtrag:

Der beschriebene Lagebericht zu Syrien ist mittlerweile, teilweise geschwärzt und als „VS – Nur für den Dienstgebrauch eingestuft“, auf dem Portal „Frag den Staat“ einsehbar: „Aktueller Lagebericht zu Syrien“.

Titelbild: Screenshot: fragdenstaat.de

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