Einmal im Jahr gibt die bekannteste ökonomische Forschungseinrichtung für Osteuropa im deutschsprachigen Raum, das „Wiener Institut für Internationale Wirtschaftsvergleiche“, eine Zukunftsprognose ab. Anfang Juli war es wieder soweit. Die Ergebnisse mögen jene überraschen, die sich an die tägliche Einnahme geopolitischer Beruhigungspillen der Mainstream-Medien gewöhnt haben. Je mehr die einzelnen Volkswirtschaften Osteuropas an der einstigen Wirtschaftslokomotive Deutschland hängen, desto schlechter sind ihre Aussichten. Demgegenüber weisen Länder wie Belarus, Moldawien und Russland steigende Wachstumszahlen auf und sogar die Ukraine liegt – nach einem desaströsen Jahr 2022 – wieder leicht im Plus. Von Hannes Hofbauer.
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Nun kann – und muss – man als ökologisch und sozial denkender Mensch Wachstumszahlen wie die Vermessung des Bruttoinlandsprodukts kritisch hinterfragen; das BIP kümmert sich nicht um soziale Differenzen oder Umweltprobleme. Im Vergleich einzelner Länder zueinander bieten rein ökonomische Aussagen dennoch einen Erkenntnisgewinn. Und diesen wollen wir uns ein wenig genauer zu Gemüte führen.
„Rezession in Deutschland, Inflation und gestiegene Zinsen als Wachstumsdämpfer“ lautet die Unterzeile der Pressemitteilung des WIIW, gefolgt von „Russland: Rüstungsboom beendet Rezession“. Von den 23 untersuchten Staaten weisen die drei mit der deutschen Industrie besonders eng verbundenen, nämlich Polen, Tschechien und Ungarn, im 1. Quartal 2023 negative Wachstumszahlen auf, wie es die Wirtschaftswissenschaftler ausdrücken. Die deutsche Rezession, die nobel als „technische“ umschrieben wird, zieht die Zuliefererstaaten mit in die Krise. Dazu kommen in allen drei Ländern sinkende Realeinkommen, die den privaten Konsum stark beeinträchtigen. Ähnlich schlecht sieht es in den baltischen Republiken und in der Slowakei aus. Hohe, allesamt zweistellige Inflationsraten fressen dort auch Sparguthaben auf und führen zu weiterer Verarmung jener Menschen, die nichts als ihre Arbeitskraft und ein Sparbuch aufzuweisen haben.
Weiter im Osten und Südosten, in den sogenannten Balkanländern, ist der Hemmschuh Deutschland nicht so heftig spürbar. Die nach den Corona-Jahren wieder steigenden Tourismuszahlen (in Kroatien und Bulgarien), ausländische Investitionen (in Rumänien) sowie Rücküberweisungen von GastarbeiterInnen lassen Südosteuropa besser dastehen als ihre nordwestlichen Nachbarn; mit der Ausnahme Serbiens (und des Kosovo), die das WIIW in einer schwierigen Lage sieht. In konkreten Zahlen: Rumänien wird für 2023 ein BIP-Wachstum von 3% prognostiziert, für Kroatien sind es 2,5%, für Bulgarien 1,3%, während die Prognosen für Tschechien, Polen und Ungarn bei 02%, 0,9% und minus 0,5% liegen. Die ungarische Rezession ist im Übrigen EU-gemacht, verweigert doch Brüssel dem Land die Auszahlung von Kohäsionsfonds- und Coronafonds-Geldern in der Höhe von 28 Mrd. Euro. Im Vergleich zur Situation in Osteuropa erwartet die Berliner Bundesregierung für Deutschland eine Wachstumsrate von 0,2%.
Anders als die im ökonomischen Umfeld Deutschlands und von deren Industrie abhängigen Länder gestalten sich die Aussichten für die untersuchten GUS-Staaten (Belarus, Moldawien, Kasachstan und Russland) positiv. Kasachstan erhält von den WIIW-Ökonomen den Titel des „Jahresbesten“ mit einer BIP-Wachstumsrate von 4,5% für 2023. Überrascht gaben sich die Forscher von der guten ökonomischen Performance Russlands. Der kurzfristige Einbruch des Jahres 2022 ist überwunden. Und das hat laut dem Experten Vasily Astrov mehrere Ursachen. Mithilfe von Kapitalverkehrskontrollen und einer sinkenden Importquote hatte sich der Rubel bereits Mitte 2022 wieder stabilisiert; eine kürzlich erfolgte Lockerung der Devisenpolitik durch die russische Zentralbank lässt die russische Währung seit Anfang Juli 2023 allerdings wieder schwächeln.
Die im Vergleich zu vielen osteuropäischen Ländern boomende russische Wirtschaft ist auf mehrere Faktoren zurückzuführen. Der Krieg – bzw. die Rüstungsindustrie – funktioniert als treibende Kraft; wobei neben den Militärgütern auch Branchen wie Textil (Uniformen), Pharma (Spitalsaufenthalte) und Tourismus im Lande boomen. Kräftige Lohnerhöhungen kurbeln zudem den privaten Konsum an; und die Arbeitslosigkeit ist mit 3,5% (neben Tschechien) auf europäischem Rekordtief. Sie ist auch eine Folge der Auswanderung junger russischer Männer, die sich damit der Einberufung entzogen haben und der Tatsache, dass das Militär als „Arbeit“geber eine hohe Nachfrage am Arbeitsmarkt erzeugt.
Auf der Seite der Importe konnte Russland, dem WIIW-Experten Astrov zufolge, den transatlantischen Sanktionen mit einer Diversifizierung der Handelspartner (von China bis zu den Vereinigten Arabischen Emiraten) antworten. Es importiert nun genauso viel wie vor 2022. Anders im Export. Dort haben die Sprengung von Nord Stream I und das Zudrehen der Jamal-Pipeline ein Loch ins russische Budget gerissen. Russisches Erdgas wird nun auf dem Weltmarkt um 57 US-Dollar pro Barrel gehandelt, während die Marke „Brent“ auf 75 US-Dollar kommt. Dass ein Großteil davon nicht mehr in Dollar, sondern in Yuan oder anderen Währungskörben gehandelt wird, war seltsamer Weise kein Thema auf der Pressekonferenz des WIIW. Wie überhaupt die transatlantischen Sanktionen heruntergespielt wurden. Auf Nachfrage, welchen Anteil der EU- und US-Wirtschaftskrieg an der Rezession z.B. in Deutschland hat, antwortete der Direktor des Instituts, Mario Holzner, im eingeübten westlichen Propagandasprech, dass wohl Russland für die explosionsartig angestiegenen Energiepreise verantwortlich sei. Sein Kollege Astrov erkannte dann keinen Widerspruch dazu, als er das westliche Erdölembargo mit seinem Preisdeckel als Beweis dafür nannte, dass nun die anti-russischen Sanktionen zu greifen begännen. Allerdings meinte er, Russland habe noch finanzielle Reserven, wodurch die Situation „aus russischer Sicht vorderhand nicht sehr problematisch“ sei.
Abschließend gingen die Wirtschaftsforscher dann noch auf die Lage in der Ukraine ein. Den katastrophalen Einbruch um ein Drittel des BIP aus dem Jahr 2022 sehen sie als überwunden an und attestierten dem Land im Krieg ein geringes Wirtschaftswachstum. Allerdings geht dieses nicht aus eigener Kraft, sondern beruht auf ausländischen Geldgebern. Die Devisenreserven der Ukraine liegen zurzeit bei 37 Mrd. US-Dollar und sind gänzlich auf ausländischen Zufluss angewiesen. Eben erst hat der Internationale Währungsfonds grünes Licht für eine weitere Kredittranche von 900 Mio. US-Dollar freigegeben. Die Ukraine-Expertin des Instituts, Olga Pindyuk, sieht darin ein „positives Signal an ausländische Investoren“. Bei einer offiziellen Arbeitslosigkeit von 25 Prozent und einem Mindestlohn von 1,20 US-Dollar pro Stunde, so das Kalkül, könnten sich risikofreudige Investoren auch ins Kriegsgebiet wagen.
Titelbild: Shutterstock / Natanael Ginting