Unterm Omnibus: Eine werte- und regelbasierte Ordnung ist sowas von abgemeldet

Unterm Omnibus: Eine werte- und regelbasierte Ordnung ist sowas von abgemeldet

Unterm Omnibus: Eine werte- und regelbasierte Ordnung ist sowas von abgemeldet

Ein Artikel von Ralf Wurzbacher

Donald Trump reißt alle Schranken nieder, die das US-Kapital beim Profitmachen hemmen. Antwort aus Brüssel: Dann macht Europa das genauso. Los geht‘s mit dem Clean Industrial Deal – garantiert dreckig, aber umso lukrativer. Und die Welt wandelt am Abgrund. Ein Kommentar von Ralf Wurzbacher.

Umweltschutz, Klimaschutz, Artenschutz, Menschenrechte, Völkerrecht? War das was? Ja, da war was! Längst nicht genug davon, aber immerhin. Können Sie sich erinnern? Im September 2019 waren an einem Tag bundesweit über eine Million Menschen auf den Straßen – zum großen „Klimastreik“. Sie alle kamen zusammen, weil die Menschheit drauf und dran ist, sich durch exzessiven Raubbau an den natürlichen Ressourcen in nicht allzu weiter Ferne selbst auszulöschen. Die Jugendbewegung Fridays for Future, die in aller Munde war, verkündete damals selbstbewusst: „Das war erst der Anfang.“ Und ahnte nicht, dass es ihr Ende war.

Gerade einmal fünfeinhalb Jahre sind seither vergangen, die indes anmuten wie eine halbe Ewigkeit. Danach folgten Corona, Ukraine-Krieg, Energiepreisschock, Rekordinflation, Gaza-Gemetzel, Ampel-Bruch und Donald Trump: „Zeitenwenden“ in Serie, die das kollektive Bewusstsein geradezu umgepolt haben. Die Menschheit steht heute kein bisschen weniger am Abgrund als vor sechs Jahren, aber kaum einen interessiert das noch. Politisch, ökonomisch, kulturell und mental vollzieht sich derzeit ein Rollback von nahezu totalitärer Wucht und in atemberaubendem Tempo. Kein Stein bleibt mehr auf dem anderen. Was gestern noch Gültigkeit hatte, als wichtig, unerlässlich und fortschrittlich galt, ist jetzt plötzlich: unnütz, out, vergessen – bloß weg damit.

Green Deal zum Restmüll

Wie das geht, hat dieser Tage die EU-Kommission in geradezu brutaler Offenheit demonstriert. Der sogenannte Green Deal, 2019 von Ursula von der Leyen (CDU) mit viel Tamtam installiert, um Europas Wirtschaft in eine nachhaltige Zukunft zu führen, wird faktisch abgeräumt. An seine Stelle rückt nun der Clean Industrial Deal. Dieser stellt die Interessen der Industrie unter den zentralen Maßgaben Wettbewerbsfähigkeit und Bürokratieabbau über alles, wogegen Vorgaben zur Achtung von Umwelt- und Klimastandards sowie Menschenrechten zur bloßen Staffage werden. Das Mittel der Wahl ist das sogenannte Omnibus-Verfahren. Dabei werden quasi in einem Abwasch und im Schnelldurchlauf mehrere Gesetze oder Verordnungen gleichzeitig überarbeitet oder erlassen. Den Takt gibt bei all dem die neue US-Regierung mit ihrem America-First-Parforceritt vor. Wenn schon Trump sämtliche Zurückhaltung aufgibt, Welt- und Wirtschaftspolitik mit der Pistole im Anschlag betreibt und auf alle Regeln, Werte und Umgangsformen pfeift, dann tut es ihm die EU ab sofort einfach gleich. Im Ringen um die besten Verwertungsbedingungen fürs Kapital hatten Mensch und Natur schon immer schlechte Karten. Nun werden sie praktisch schachmatt gesetzt.

Was alles kommt unter die Räder? Die Lieferkettenrichtlinie wird um ein Jahr verschoben und, wie etwa der Bund für Umwelt und Naturschutz Deutschland (BUND) beklagt, „bis zur Bedeutungslosigkeit verwässert“. Die Intention dahinter war einmal, Großunternehmen und Konzerne zum Treffen von Vorkehrungen zu verpflichten, damit entlang ihrer Wertschöpfungs- und Lieferketten Menschen nicht ausgebeutet, gequält, versklavt, physisch und psychisch kaputt gemacht, entrechtet und ihrer Lebens- und Überlebensgrundlagen beraubt werden und dass Leidtragende die Möglichkeit haben, sich gegen Verstöße juristisch zu wehren und Schadensersatzansprüche durchzusetzen.

Mit der Kettensäge

Eigentlich sollte das Regelwerk 2027 in Kraft treten, wobei es seine vollumfängliche Wirkung ohnehin erst 2032 entfalten soll. Nun schlägt die Kommission den 26. Juni 2028 als Starttermin vor. In die Pflicht will man aber nur noch Unternehmen mit über 1.000 Beschäftigten nehmen, während die Grenze bisher bei 250 Mitarbeitern lag. Die Verbliebenen müssten dazu nicht mehr ihre gesamte Lieferkette kontrollieren, sondern lediglich ihre direkten Zulieferer. Außerdem sollen sie im Falle von Zuwiderhandlungen nur noch beschränkt haftbar gemacht und in nennenswertem Umfang sanktioniert werden können.

Für Entsetzen sorgen die Pläne bei Gewerkschaften, Umwelt- und Entwicklungshilfeverbänden. Oxfam Deutschland kommentierte, von der Leyen lege „die Kettensäge an den Schutz von Umwelt und Menschenrechten“ an. Die Initiative Lieferkettengesetz.de kündigte „breiten Widerstand“ an und der Deutsche Gewerkschaftsbund (DGB) monierte, die Kommissionschefin wolle „offenbar den Deckmantel der Entbürokratisierung für eine weitreichende, gezielte Deregulierung zu Lasten von Beschäftigten und Umwelt nutzen“.

Im Windschatten der Rechten

Keine Frage: Gerade für mittelständische Firmen gingen die bisherigen Vorgaben zu Überwachung und Dokumentierung ihrer Lieferketten zu weit. Aber darum soll es hier nicht gehen. Es geht um die Brachialgewalt, mit welcher zivilgesellschaftlich erstrittene Errungenschaften einfach plattgewalzt werden. Das Lieferkettengesetz ist nur ein Beispiel unter vielen, die zeigen, wie leichtfertig und mit welcher Selbstverständlichkeit die Politik zivilisatorischen Fortschritt kassiert, ohne damit nennenswerten Protest in der Bevölkerung zu provozieren. Die Mächtigen ziehen es durch und das Volk, nach jahrelanger Endloskrise apathisch, angsterstarrt und desillusioniert, schluckt es – oder spendet sogar Beifall, weil Bürokratie ja sowieso das Letzte ist und der menschgemachte Klimawandel „Quatsch“.

Bürger, die so ticken, gibt es heute in Massen, was auch der allgemeinen Rechtsverschiebung geschuldet ist, die die etablierten Parteien maßgeblich mitverschuldet haben. Vor der Kamera bereitet das den politischen und wirtschaftlichen Führern Kummer. Aber abseits davon bringt es ihnen Entlastung, weil sich so leichter durchregieren lässt, indem man zum Beispiel AfD-Programmatik in Sachen Migration selbst exerziert und so gleich noch die Botschaft mittransportiert: Menschenrechte haben auch ihre Grenzen. In solch einem Stimmungsumfeld hat eine EU-Kommissionschefin natürlich leichtes Spiel, Europas Kapitalisten von allen Zügeln zu befreien.

Krieg bald nachhaltig

Unter den „Omnibus“ sollen nicht nur zentrale Punkte der Lieferkettenrichtline kommen, sondern auch solche zur Nachhaltigkeitsberichterstattung von Unternehmen sowie der Taxonomieverordnung. Immer geht es um den massiven Rückbau von Berichtspflichten, die Senkung von Verwaltungskosten und die Entfesselung unternehmerischer Energien. Nur ein Beispiel: Über die Einhaltung ihrer Klimaziele müssten nach den Plänen nur noch rund 20 Prozent der einst ins Visier genommen Unternehmen Rechenschaft ablegen. Damit fielen die Vorgaben auf einen Schlag für rund 80.000 Firmen weg.

Das von den NachDenkSeiten hier thematisierte Vorhaben, auch Investitionen in Waffen im Rahmen der EU-Taxonomie als nachhaltige Geldanlagen zu deklarieren, werden in dem Maßnahmenkatalog nicht aufgegriffen. Beim aktuellen Wettstreit um den höchsten Militäretat dürfte die Umsetzung allerdings nicht schwerfallen. Erst zu Wochenanfang hat von der Leyen die baldige Vorlage eines „umfassenden EU-Rüstungsplans“ angekündigt, der in Art und Umfang gewiss neue Maßstäbe setzen wird.

Kollaps mit Ansage

Maßstäbe der Vernunft und des gesunden Menschenverstands, die auf Frieden, Völkerverständigung und eine lebenswerte und dauerhaft bewohnbare Erde orientieren, sind heute nicht mehr gefragt. Am 24. April jährt sich der Tag der Katastrophe in der Textilfabrik Rana Plaza in Bangladesch, bei der mehr als 1.100 Arbeiterinnen und Arbeiter ihre Leben ließen. Sie wurden verschüttet, als sie für europäische Modefirmen wie Primark, Benetton, Mango, KiK und C&A Klamotten zusammennähten. Folgt irgendwann der nächste Kollaps? Vielleicht ja einer von planetarer Größenordnung? Aus Brüssel heißt es: Der Green Deal werde nicht angetastet, nur an die neue Lage angepasst. Übersetzt: Auch in der Barbarei braucht es Socken.

Titelbild: Scarc/shutterstock.com

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