Götz Eisenberg ist Sozialwissenschaftler und Publizist. Er arbeitete mehr als drei Jahrzehnte lang als Gefängnispsychologe im Erwachsenenstrafvollzug. In der »Edition Georg Büchner-Club« erschien im Juli 2016 unter dem Titel »Zwischen Arbeitswut und Überfremdungsangst« der zweite Band seiner »Sozialpsychologie des entfesselten Kapitalismus«. Dort hat er im Herbst 2016 unter dem Titel: »Es ist besser, stehend zu sterben als kniend zu leben! No pasarán!« auch ein Bändchen zum Spanischen Bürgerkrieg veröffentlicht. 2018 erschien von Eisenberg im Verlag Wolfgang Polkowski der dritte Band seiner Sozialpsychologie unter dem Titel “Zwischen Anarchismus und Populismus”.
Gastbeiträge von Götz Eisenberg
Unappetitliche Allianzen – Der Kinderschutzbund geht eine Sozialpartnerschaft mit der Filiale einer Fastfood-Kette ein
Der Gießener Anzeiger berichtet in seiner Ausgabe vom 24. November 2012 über die Eröffnung einer Filiale der Fastfood-Kette Kentucky Fried Chicken (KFC). Dreihundert geladene Gäste hätten am Tag vor der offiziellen Eröffnung an einem sogenannten Pre-Dinner teilgenommen und dabei für einen wohltätigen Zweck gespendet. Der Orts- und Kreisverband des Deutschen Kinderschutzbundes wird zukünftig Sozialpartner der Filiale sein. Dieser hat es sich zur Aufgabe gemacht, „die körperliche, seelische, geistige und soziale Entwicklung von Kindern und Jugendlichen zu fördern und der Gefährdung des Nachwuchses entgegenzuwirken“. Die bei der Veranstaltung anwesende Repräsentantin des Kinderschutzbundes sagte, die Spenden würden unter anderem dafür verwendet, das „Kinderrechteprojekt“ in Kindergärten weiter auszubauen. Ziel dieses Projektes sei es, „dem Nachwuchs zu vermitteln, Nein sagen zu können“.
Zuallererst sollte man den Kindern dort beibringen, „Nein“ zu Kentucky Fried Chicken zu sagen. Von Götz Eisenberg[*]
Die Zerstörung des sozialen Immunsystems – am Beispiel der von der Stadt Gießen geplanten Privatisierung des Wochenmarkts
In der Gießener Stadtverwaltung gibt es offenbar Pläne, den dortigen Wochenmarkt zu privatisieren, für dessen Betrieb bisher die Stadt zuständig ist. Der Markt gehöre, so lässt die Oberbürgermeisterin verlauten, zu den „defizitären Einrichtungen“, die den Haushalt der Stadt belasteten. Mit 26.000 Euro habe der Eigenbetrieb Wochenmarkt im Jahr 2011 zu Buche geschlagen. Die Kosten fallen an für die Auswahl und Zulassung der Beschicker, die Führung der Gebührenkasse, die Marktaufsicht inklusive Reinigung und Instandhaltung des Marktgeländes und Abfallentsorgung. Man befinde sich gegenwärtig in einem „Interessenbekundungsverfahren“ und verhandle mit möglichen neuen Betreibern. Von Götz Eisenberg[*]
Aus Verzweiflung erbrüteter Sprengstoff
Anmerkungen und Fragen zur Messerattacke im Jobcenter von Neuss.
Man müsste den Neusser Fall zum Gegenstand einer gründlichen Recherche machen. Wir könnten, sollten und müssten aus ihm lernen. Wo sind die Repräsentanten einer engagierten Literatur, die sich eines solchen Geschehens annehmen?
Es geht nicht darum, den Täter zu exkulpieren. Eine Tat verstehbar werden zu lassen, ist etwas anderes, als sie und den Täter zu entschuldigen.
Schon ist davon die Rede, es sollten Barrieren zwischen Mitarbeitern und Kunden errichtet sowie Fluchtwege ausgebaut werden. Auch der Einsatz von qualifiziertem Sicherheitspersonal in “sensiblen” Verwaltungsbereichen wird diskutiert.
Eine Gesellschaft, der es ernst wäre mit dem Gedanken der Prävention, würde jenseits der und unabhängig von den Zwängen und Begrenzungen der juristischen Wahrheitsfindung umgehend ein interdisziplinäres Forschungsprojekt auf den Weg bringen, dessen Aufgabe es wäre, all das auszuleuchten, was vom Gericht als „nicht zur Sache gehörig“ erklärt und außer Acht gelassen wird. Es hätte den gesellschaftlichen Hintergründen und psycho-sozialen Bedingungen der Möglichkeit dieser Tat rückhaltlos auf den Grund zu gehen. Von Götz Eisenberg [*]
Das Kind als Bio-Aktie
Kinder des digitalen Zeitalters leiden unter neuartigen Formen der Missachtung.
Eltern betrachten ihr Kind offenbar nicht mehr als Geschenk, sondern als eine Art Bio-Aktie, von der eine gute Performance erwartet wird. Seit die Bergwerke stillgelegt sind und keine Kohle mehr gefördert wird, hat man die kindlichen Gehirne als „Ressource“ und „Humankapital“ entdeckt. Schon wird von Frauen berichtet, die ihre schwangeren Bäuche mit Kopfhörern beschallen. Schluss mit dem zweckfreien Spiel am Bach und im Sandkasten, die Konkurrenz schläft nicht: Andere Kinder haben mit zwei Jahren bereits 600 englische oder chinesische Wörter aufgesogen und dabei ihre „Synapsen optimal vernetzt“. Es erscheinen Ratgeber, die propagieren: „Ein Leben lang für Vorsprung sorgen.“ Mutterliebe und eine vertrauensvolle Atmosphäre sind nicht länger um ihrer selbst willen da, sondern fördern die Herausbildung einer leistungsfähigen neuronalen Struktur. Von Götz Eisenberg[*].
Ökonomistischer Neusprech
Sind Sie in letzter Zeit einmal in die Verlegenheit gekommen, Stellenanzeigen lesen zu müssen? Und wenn ja, haben Sie herausgefunden, wer oder was gesucht wird, wenn die Stelle eines Corporate Key Relationship Managers, eines Change Managers, eines Manager Component Purchasing and Subcontracting oder eines Supply Chain Managers ausgeschrieben ist? Überhaupt scheint es nur noch Manager zu geben, selbst der gute alte Staubsaugervertreter oder das Mitglied einer Drückerkolonne nennen sich heute Area Sales Manager. Von Götz Eisenberg.
Glück braucht einen geschichtlichen Atem
Götz Eisenberg erinnert an den engagierten Intellektuellen und Schriftsteller Lothar Baier, der am 16. Mai 70 Jahre alt geworden wäre. Lothar Baier zählte in den späten 70er und dann vor allem in den 80er Jahren zu den wichtigen intellektuellen Köpfen. Er war ein gefragter Literaturkritiker, die Feuilletons fast aller großen Zeitungen standen ihm in jenen Jahren offen. Bei Wagenbach erschienen seine Essays „Firma Frankreich, Gleichheitszeichen“ und „Die große Ketzerei“ und er publizierte in der Zeitschrift Merkur, in Enzensbergers Zeitschrift TransAtlantik wie in Wagenbachs Freibeuter. 1982 wurde er mit dem Jean-Amery-Preis für Essayistik ausgezeichnet.1985 erschien im Verlag S. Fischer seine Erzählung „Jahresfrist“, in die er seine Erfahrungen beim Restaurieren eines alten Bauernhauses in Südfrankreich einfließen ließ.
„Heute hinauszuschreien, dass die Utopie gescheitert ist, ist etwa so klug, wie im Spätherbst, wenn die Blätter fallen, zu dem Schluss zu kommen, dass die Idee des Frühlings gescheitert ist. Nieder mit dem Frühling!“, schrieb er in dem 1993 erschienenen Band „Die verleugnete Utopie“. Von Götz Eisenberg.
Amok in Erfurt / Teil 3 – Schulen: Verlässliche Orte oder Zulieferbetriebe für Markt und Industrie?
Am heutigen Tag vor 10 Jahren lief ein Schüler am Erfurter Gutenberg-Gymnasium Amok und tötete 16 Menschen und sich selbst. Götz Eisenberg hat auf die damaligen schrecklichen Ereignisse zurückgeblickt und danach gefragt, was aus diesem Massaker wirklich gelernt wurde. Lesen Sie heute den letzten Teil seiner Beobachtungen und seinen Schlussfolgerungen. Im Anhang finden Sie eine kommentierte Chronik der zurückliegenden Schulamokläufe.
Amok in Erfurt / Teil 2
„Schrei nach Veränderung“
Von Götz Eisenberg
Im August 2005 wurde der Schulbetrieb im umgebauten und gründlich sanierten Erfurter Gutenberg-Gymnasium mit einer Feierstunde wieder aufgenommen. Neben dem Eingang brachte man eine Gedenktafel mit den Namen der sechzehn Getöteten an. Gesellschaften und Gemeinschaften brauchen Orte der Erinnerung und kollektive Rituale zur Bewältigung eines Traumas, um ihr erschüttertes Gleichgewicht wieder zu erlangen. Es gibt allerdings Formen der Erinnerung, die in Wahrheit eher das Vergessen befördern. Man schafft, salopp gesagt, „Kranzabwurfstellen“, Orte, an denen man an Jahrestagen Blumen niederlegt, Kerzen entzündet und sich einer ritualisierten Gedächtnisübung unterzieht, um hinterher umso schneller vergessen zu können und über die Ursachen der Gewalt nicht reden zu müssen.
Amok in Erfurt
Am 26. April 2002 tötete der 19-jährige Robert S. am Erfurter Gutenberg-Gymnasium 16 Menschen und sich selbst. Kurz darauf gründete sich die Schülerinitiative „Schrei nach Veränderung“, die dazu aufrief, sich „verstärkt mit den gesellschaftlichen Ursachen dieser Tat auseinander zu setzen“, weil nur deren Kenntnis es ermögliche, weiteren Taten vorzubeugen. Aus dem Abstand von zehn Jahren blickt Götz Eisenberg auf die damaligen Ereignisse zurück und fragt, was aus dem Massaker von Erfurt wirklich gelernt wurde. Wir präsentieren seinen Text von heute an bis zum 26. April in drei Teilen. Beschließen wird ihn eine kommentierte Chronik der Schulamokläufe.
„Verrückt“ oder „böse“? Zum Prozessauftakt gegen Anders Behring Breivik
Amokläufe enden meist mit dem Tod des Amokläufers, der sich am Ende seines mörderischen Wütens selbst umbringt, von den Sicherheitskräften getötet wird oder sich von der Polizei umbringen lässt. Man hat es oft bedauert, dass man sie deswegen nicht vor Gericht stellen und der irdischen Form der Gerechtigkeit zuführen kann.
Wie schwer sich allerdings eine Gesellschaft mit einem überlebenden Amokläufer und der juristischen Wahrheitsfindung tun kann, ist seit Juli 2011 in Norwegen zu beobachten. Der Prozess gegen Anders Breivik wird am heutigen Montag beginnen und wir können gespannt sein, wie das Gericht in der umstrittenen Frage der Schuldfähigkeit entscheidet und wie es seine von Größen- und Allmachtsphantasien und paranoiden Projektionen durchtränkte Programmatik wertet: böse oder krank, Gefängnis oder Unterbringung in einer geschlossenen psychiatrischen Anstalt? Gespannt aber vor allem auch darauf, was der Prozess an wirklicher Aufklärung über die Hintergründe und Motive der Tat und für die Aufrechterhaltung des Zusammenhalts der norwegischen Gesellschaft leistet. Von Götz Eisenberg