Wir haben die Mantras noch in den Ohren: Selbstverständlich darf man Israel kritisieren! Die Kritik an Israels Palästinapolitik ist nicht automatisch mit Antisemitismus gleichzusetzen! Pustekuchen! Wenn sich jemand, der in der Öffentlichkeit steht und dessen Worten von den Medien eine gewisse Bedeutung zugeschrieben wird, sich tatsächlich die Freiheit nimmt, die Unterdrückung der Palästinenser durch Israel zu kritisieren, befindet er sich sofort im Fadenkreuz der Schreibtischsniper. Es geht um die Deutungshoheit und da verstehen die Leitartikler keinen Spaß und kennen weder Anstand noch Gnade. Diese Erfahrung musste nun die – jetzt wohl zumindest für Deutschland „ehemalige“ – Ikone der Klimabewegung, Greta Thunberg, machen. Die sich selbst als „linkliberal“ verstehenden Haltungsjournalisten von SPIEGEL und Co. zeigen, dass sie es in Sachen Boshaftigkeit mühelos mit rechten Forenschreibern aufnehmen können, die Thunberg schon seit langem ganz oben auf ihrer Abschussliste haben. Ein Kommentar von Jens Berger.
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Der Hauptstadtjournalismus hat ein neues Opfer gefunden – Greta Thunberg. Galt die schwedische Klimaaktivistin den Meinungsmachern des Mainstreams bis vor kurzem noch als engelsgleiche Prophetin einer unbequemen Wahrheit, so scheint sie nun sogar Sahra Wagenknecht als mediale Inkarnation der Leibhaftigen abgelöst zu haben. Der aktuelle SPIEGEL widmet der „Greta-Frage“ als Titelthema gleich ganze 14 Seiten; 14 Seiten, auf denen sich der SPIEGEL fragt, ob die Schwedin „Antisemitin oder einfach nur naiv“ ist und die Antwort trotz Fragezeichen gleich mitbringt: Ja, das Vorbild unserer Kinder ist eine Antisemitin. Was hat Thunberg verbrochen, wird man sich nun fragen. Doch auf diese Frage findet man auch nach mehrfacher Lektüre der SPIEGEL-Titelstory keine Antwort.
Startschuss der Kampagne war ein Beitrag, den Thunberg am 20. Oktober in den sozialen Netzwerken verfasst hat und in dem sie zusammen mit drei anderen Klimaaktivistinnen ihre Solidarität mit den Palästinensern ausdrückte und einen Waffenstillstand fordert. Was ist daran antisemitisch? Nichts. Findige Investigativjournalisten entdeckten jedoch einen Stofftierkraken und „das Bild des Kraken, dessen Tentakel die Welt umspannen, [sei] eine Chiffre, die direkt an die antisemitische NS-Propaganda anschließt“. Fall geklärt. Thunberg ist eine Antisemitin, die über geheime Chiffren unsere Kinder zum Judenhass aufstachelt. Später erklärte Thunberg erstaunt, dass es sich bei dem Stofftier um ein Therapiemittel für autistische Kinder handele. Aber das ließen die Inquisitoren der Medien nicht gelten. Laut WELT seien dies „schon recht große Zufälle, zumal unter der Krake [ein] Kissen mit Pilzen zu sehen [sei] und eines der bekanntesten Propagandabücher der Nazis hieß: ´Der Giftpilz´“. Wie abartig kann Journalismus sein?
In dieser Qualität gingen die Vorwürfe dann weiter und sie fanden für die Meinungsmacher letzte Woche auf einer Klimademo in Amsterdam ihre Bestätigung. Da stand Thunberg mit einer Kufiya auf der Bühne und sagte, die Klimaschutzbewegung habe die Pflicht, „auf die Stimmen jener zu hören, die unterdrückt sind und für Frieden und Gerechtigkeit kämpfen“. Sie haben richtig gelesen. Dieses Zitat wird im SPIEGEL-Artikel tatsächlich als Beleg für eine antisemitische Grundhaltung Thunbergs herangezogen. Später skandierte Thunberg noch „Keine Klimagerechtigkeit in einem besetzten Land“, was – und hier wird es für die Meinungsmacher kritisch – von den Amsterdamer Demonstranten bejubelt wurde. Aber zurück zur „Greta-Frage“: Was ist daran antisemitisch? Dass die Palästinensergebiete von Israel besetzt sind, ist Fakt und völkerrechtlich unumstritten.
Auch die SPIEGEL-Redakteure wissen, dass ihre Vorwürfe gegen Thunberg keine Basis haben. Daher drehen sie die Anklage rhetorisch um. Nicht das, was Thunberg sagt, sei Ausweis für ihren Antisemitismus, sondern das, was sie nicht sagt. Im SPIEGEL-Artikel liest sich das dann folgendermaßen …
Aber die Existenz des Staates Israel ist nicht verhandelbar. Jüdinnen und Juden werden seit Jahrhunderten verfolgt. Allein im Holocaust wurden sechs Millionen von ihnen umgebracht. Wer wie Greta Thunberg das Leid der israelischen Frauen unterschlägt, die am 7. Oktober vor den Augen ihrer Kinder von Hamas-Kämpfern vergewaltigt wurden, das Leid der Familien, deren Kinder vor den Augen ihrer Eltern getötet wurden, wer dieses Leid unterschlägt, weil die Opfer Israelis waren, Jüdinnen und Juden, der begibt sich in die geistige Nähe zum Antisemitismus. Mindestens.
Aus „Die Greta-Frage“, SPIEGEL 47/2023
Diese Argumentation ist wirklich nur noch als boshaft zu bezeichnen. Wer also das Leid der Palästinenser beklagt, ohne zuvor in einem Ceterum censeo die israelischen Opfer des Hamas-Angriffs vom 7. Oktober zu beklagen, ist ein Antisemit? Und um dies zu belegen, führt man sogar den Holocaust an? Geht’s auch noch absurder, lieber SPIEGEL? Wer daraus einen Antisemitismusvorwurf konstruiert, „verharmlost wahren Antisemitismus“. Das sage nicht ich, sondern das sagt der israelische Historiker und Genozidforscher Omer Bartov in einem – man höre und staune – Interview mit dem SPIEGEL.
In der aktuellen SPIEGEL-Titelstory ist diese Einschätzung nicht zu finden. Dafür hat man sich reichlich Mühe gegeben, Zitate von Grünen-Politikern aufzutreiben, die nun das Feuer auf Thunberg eröffnet haben. So bezeichnet der Grünen-Politiker Volker Beck Thunberg doch allen Ernstes als „hauptberufliche Israelhasserin“ und unterscheidet sich in seinem offenen Hass gegen die junge Schwedin damit nicht mehr von AfD-Propagandisten, die ihre klimapolitischen Positionen in den letzten Jahren in einer ähnlichen Mixtur aus intellektueller Schlichtheit und abgrundtiefer Boshaftigkeit kommentierten. Ins gleiche Horn stößt auch Grünenchefin Ricarda Lang, die Thunbergs Solidarität mit Palästina „absolut unanständig“ findet. Dass auch Lang sich nun in den Kreis der „Greta-Hater“ einreiht, ist bemerkenswert … jedoch nur auf den ersten Blick.
Als die Grünen Greta Thunberg gefeiert haben, waren sie schließlich in der Opposition und das Thema Klimawandel war ein guter Wahlkampfschlager. Das hat sich durch die Regierungsbeteiligung grundsätzlich geändert. Gerade in Sachen Klimapolitik konnten die Grünen nicht liefern und mehr und mehr wird der Rigorismus in der Klimabewegung, den Thunberg anders als ihre karriereorientierte und mittlerweile handzahme deutsche Mitstreiterin Luisa Neubauer vertritt, von den Grünen mit Argwohn als Bedrohung gesehen. Was kann den Grünen da Besseres passieren, als einen Keil in die Klimabewegung zu schlagen und Thunbergs Einfluss auf die „Klimakinder“ und ihre wählenden Eltern zu kappen? Dass der SPIEGEL ausgerechnet Luisa Neubauer in seinem Titelthema in einem ausführlichen Interview auf Distanz zu Thunberg gehen lässt, passt da natürlich wie die Faust aufs Auge.
So ist sie, die „linksliberale“ Meinungsblase – jeder darf sagen, was er will, solange er das Richtige sagt. Meinungsfreiheit ist ein hohes Gut, solange es sich um die richtige Meinung handelt. Man steuert den Diskurs, besitzt die Deutungshoheit und verteidigt sie – wenn es sein muss – auch mit harten Schlägen unter die Gürtellinie. Bestrafe einen, erziehe hundert.
Ob diese Kampagne Greta Thunberg interessiert? Wohl kaum. Während die deutschen Medien es geschafft haben, den Nahostkonflikt mal wieder unter dem Label „Antisemitismus“ einzuordnen, interessiert diese urdeutsche Sichtweise außerhalb des Einflussbereiches deutscher Medien nur die wenigsten. Es ist kein Zufall, dass eine junge Schwedin sagt, was sich junge Deutsche nicht zu sagen und nicht zu denken wagen, und dafür unter anderem in den Niederlanden bejubelt wird. Selbstverständlich wird die gesamte Debatte aufgrund der deutschen Geschichte hierzulande anders geführt. Die deutsche Debatte kann jedoch kein Monopol darauf beanspruchen, in anderen Ländern und Gesellschaften, mit einer anderen Geschichte, die gleiche Gültigkeit zu haben.
Gerade in Skandinavien hat die politische Linke bei der gesamten Nahost- und Palästina-Thematik einen unverkrampfteren Blick und sieht den Konflikt nicht durch die deutsche, sondern durch die globale Brille. Allein das wird von den deutschen Meinungsmachern als Affront verstanden. Was erlaube Greta? Hinzu kommt, dass die heutige Jugend auch biografisch weiter von den historischen deutschen Verbrechen entfernt ist. Auch das mag dem deutschen Medien- und Politikestablishment nicht gefallen; letztlich zeigt es aber nur die eigentlich selbstverständlichen Unterschiede in der Debatte. Und wie bei vielen anderen Themen muss das deutsche Establishment auch beim Nahostkonflikt lernen, dass der Rest der Welt sich nicht sonderlich für die deutsche Perspektive interessiert. Mit absurden Moralpredigten und Antisemitismusvorwürfen wird man daran ganz sicher nichts ändern können.
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Titelbild: SPIEGEL-Cover