Hinweise des Tages

Albrecht Müller
Ein Artikel von:

(KR/AM/WL)
Heute unter anderem zu diesen Themen:

  • Interview mit Heiner Flassbeck
  • Letzter Akt des Bankendramas: Enteignung
  • Wirtschaftskrise in Deutschland: Jetzt mal ehrlich
  • Die Lobbyisten triumphieren
  • Verscheuern statt Schreddern
  • Kenneth Rogoff : “Was gerade vor sich geht, ist unvorstellbar”
  • Schock am Katzentisch
  • Finanzministerium blockierte verschärfte Bankenaufsicht
  • Gerechtigkeit und Wirtschaftspolitik
  • Genosse Optimismus: Müntefering redet sich die Sonntagsfrage schön
  • Lohnuntergrenzen in Europa steigen
  • Mimikry um Ypsilanti
  • Verstaatlichung von britischen Privatschulen
  • Bericht von Pariser Großdemo und Hintergründe
  • Großbritannien in der Krise: Zurück an die Nähmaschinen
  • Britische Jobs für britische Arbeiter
  • “Steckt die Banker in den Bau”

Vorbemerkung: Dieser Service der NachDenkSeiten soll Ihnen einen schnellen Überblick über interessante Artikel und Sendungen verschiedener Medien verschaffen.

Wir kommentieren, wenn wir das für nötig halten. Selbstverständlich bedeutet die Aufnahme in unsere Übersicht nicht in jedem Fall, dass wir mit allen Aussagen der jeweiligen Texte einverstanden sind. Wenn Sie diese Übersicht für hilfreich halten, dann weisen Sie doch bitte Ihre Bekannten auf diese Möglichkeit der schnellen Information hin.

  1. Interview mit Heiner Flassbeck
    Moderator: Herr Flassbeck, lassen Sie uns kurz gemeinsam anhören, was Sie anders als viele andere vor ziemlich genau einem Jahr vorhergesagt haben, übrigens hier im Deutschlandfunk.
    Heiner Flassbeck (Anfang 2008): Durch den extremen Export-Boom der letzten Jahre ist Deutschland viel verwundbarer, als es jemals vorher war. Das wird überhaupt nicht zur Kenntnis genommen. Von daher spricht alles dafür, dass es doch einen gewaltigen Rückschlag in diesem Jahr geben wird.
    Man sieht ja in den USA: Die diskutieren sofort ein Konjunkturprogramm. Bei uns ist das Tabu. Natürlich muss man etwas gegensteuern. Man muss. Zum Beispiel kann man darauf vorbereiten, öffentliche Investitionen sehr schnell in Gang zu setzen, was sicher sehr viel direkter und unmittelbarer wirkt als Steuersenkungen oder ähnliche Dinge, die jetzt so am Rande diskutiert werden. Also man kann sich vorbereiten und insofern muss man hier ein vollständiges Umdenken in Berlin einfordern.
    Quelle 1: DLF [Audio/MP3]
    Quelle 2: DLF [Text]

    Siehe dazu auch:

    Das Spiel geht weiter
    Wenn die Währungsspekulation zusammenbricht, steht uns die nächste Krise bevor. Deshalb brauchen wir endlich internationale Regeln für ein globales Währungssystem.
    Von Heiner Flassbeck und Friederike Spiecker
    Quelle: TAZ

  2. Letzter Akt des Bankendramas: Enteignung
    Schon Anfang der Woche beginnt der letzte Akt im Drama Bankenrettung. Dann wird die Vorlage aus dem Hause von Finanzminister Peer Steinbrück (SPD) zum formellen Gesetzentwurf. Er regelt als ultima ratio die Enteignung von Alteigentümern der Banken. Denn die bisherigen staatlichen Möglichkeiten, die im ersten Bankenrettungspaket ersonnen worden sind, reichen angesichts der Schwere der Krise nicht mehr aus. Jetzt geht es nämlich nicht mehr nur um Teilverstaatlichung, sondern um die Möglichkeit, dass der Staat eine private Bank komplett übernehmen kann.
    Von Robert von Heusinger
    Quelle: FR
  3. Wirtschaftskrise in Deutschland: Jetzt mal ehrlich
    Neues aus der Krise: Die Politiker wissen, dass die Lage schlimmer ist, als das Volk glaubt. Aber zugeben wollen sie es nicht. Es ist Zeit, alle Karten auf den Tisch zu legen.
    Am 8. Oktober 2008 war die Krise noch jung, man möchte fast sagen: unschuldig. An jenem Mittwochabend luden die Bundeskanzlerin und ihr Finanzminister die Chefs der wichtigsten Zeitungen ins Kanzleramt, um ihnen eine Botschaft zu übermitteln. Die lautete: Wir wissen zwar nicht genau, was in zwei oder drei Wochen ist, aber würden doch sehr herzlich um Ihr Vertrauen bitten und vor allem darum, dass Sie keine schlechte Stimmung machen, denn dazu ist die Lage zu ernst. …
    Spätestens im März wird Deutschland voll von der Wirtschaftskrise erfasst, dann werden sich die Firmenpleiten häufen und die Arbeitslosenzahlen steigen. Die Leute ahnen das, ihnen schwant, dass die Regierung keinen rechten Plan hat, so wenig übrigens wie die Zeitungen. …
    Auch die Regeln der Wirtschaftsforscher gelten nicht mehr, ihre Prognosemodelle versagen. Noch im Oktober sah Klaus Zimmermann, der Chef des Deutschen Instituts für Wirtschaftsforschung (DIW), “keine Anzeichen für eine Rezession”; Anfang Dezember sagte er, dass “das Konjunkturklima nach wie vor gut” sei; seit Januar nun erwartet das DIW “eine tiefe Rezession”. Was sagt er als Nächstes? …
    Die Krise entwickelt sich schneller, als die Politik reagieren kann …
    Auf einmal geht es um Entscheidungen, von denen noch vor zwei Monaten niemand ernsthaft glaubte, sie je treffen zu müssen. Reichen 100 Milliarden Euro an Bürgschaften noch aus, um bedrohte Industrieunternehmen vor dem Kollaps zu bewahren? Wo ist die Grenze staatlichen Handelns? Gibt es eine Grenze?
    Wahrscheinlich hat noch nie zuvor eine deutsche Regierung in so kurzer Zeit so viel Expertise eingeholt, wie es diese in den vergangenen Monaten getan hat. …
    Aber es wirkt doch ungewollt hilflos, wenn Michael Glos das voraussichtliche Wirtschaftswachstum auf zwei Stellen hinter dem Komma genau beziffert – auf minus 2,25 Prozent. Tatsächlich kann Glos sich nicht einmal bei der Zahl vor dem Komma sicher sein. Auf die kommt man nur, wenn die Konjunkturpakete der Regierung eine größere Wirkung haben als alle Konjunkturpakete der Vergangenheit. …
    Auch Deutschland hat davon profitiert, dass die USA so sehr über ihre Verhältnisse lebten. Es waren die Amerikaner, die unsere Autos kauften und unsere Maschinen. Insofern sind auch die Deutschen an der Krise beteiligt. Sie waren Exportweltmeister, weil die Amerikaner Schuldenweltmeister waren. …
    Sogar Keynesianer ahnen, dass es den Regierungen schwerfallen wird, die riesigen Schuldenberge, die in dieser beispiellosen Weltrezession angehäuft werden, je wieder abzutragen. …
    Es liegt etwas zutiefst Beunruhigendes darin, dass sich die Reichweite von Erfahrungswerten und Prinzipien so verringert. Und doch müssen uns jene am meisten irritieren, die am wenigsten irritiert sind. “Die Krise ändert nichts an unserem Konzept”, sagt Hermann Otto Solms, Finanzexperte der FDP, und meint damit sein Steuersenkungsprogramm. Wenn aber niedrigere Steuern das richtige Konzept im Aufschwung sind, wie können sie es zugleich im Abschwung sein? …
    Auch die CSU fordert unablässig niedrigere Steuern, aber natürlich nicht weil sie wüsste, dass das gegen diese Krise helfen würde. Vielmehr glaubt die Partei immer noch, sie habe die Wahl in Bayern verloren, weil die Kanzlerin ihr seinerzeit verwehrte, Steuersenkungen zu versprechen. Die CSU bekämpft also nicht die Krise von morgen, sie versucht immer noch die Wahlen von gestern zu gewinnen. …
    Noch kreiden die Bürger es den Parteien nicht an, wie sie mit der Krise umgehen. Aber noch ist die Krise auch nicht bei den Bürgern angekommen. …
    Und wenn wir über unsere Verhältnisse gelebt haben, wie die Kanzlerin sagt, warum macht diese Regierung dann so viele Schulden wie keine vor ihr?
    Der Staat verbrennt das Geld der Bürger, um Fehler der Banken auszugleichen. Dieses Handeln mag alternativlos sein, weil die Kosten des Nichthandelns weit größer sein könnten. Aber in alldem liegt auch eine ungeheure Provokation, und es fragt sich, wie lange die Wähler sich das gefallen lassen. Es ist also höchste Zeit, dass die Politik sich etwas einfallen lässt, eine Botschaft, einen Appell, ein Projekt. Die Koalition muss nicht so tun, als hätte sie alles im Griff, sie braucht die Krise auch nicht mehr schönzureden, doch eines kann man von ihr verlangen: dass sie den Bürgern sagt, was sie tun sollen. …
    So erzeugt die wirtschaftliche Depression politische Umwälzungen und Konflikte in hoher Zahl und Intensität. Die Menschheit geht durch eine heiße Phase.
    Von Marc Brost und Bernd Ulrich.
    Quelle: DIE ZEIT

    Kommentar AM: Auf diesen Artikel wird vor allem deshalb hingewiesen, weil er von Autoren stammt, die lange gebraucht haben, bis sie merkten, dass ihre neoliberale Ideologie nicht gerade das Gelbe vom Ei ist. Immerhin erfahren wir in dem Artikel, dass Bundeskanzlerin und Finanzminister die Spitzen unserer Medien für den 8. Oktober 2008 nach Berlin eingeladen hatten, um sie auf die Krise einzustimmen. Richtig mit der Bundesregierung und ihrer unglaublich zögerlichen Reaktion auf die Krise abzurechnen, wagen die Autoren nicht. Der Artikel ist ein Dokument der Ratlosigkeit einschließlich der Klagen über die hohen Schulden, die angeblich von den Konjunkturprogrammen verursacht werden. Inklusive der Behauptung, Konjunkturprogramme hätten früher nicht gewirkt. Immerhin entdecken die Autoren, wie unsinnig die Steuersenkungsforderungen der FDP und der CSU sind. Auch der Bundeskanzlerin, so muss man nach den neuesten Meldungen hinzufügen.

  4. Die Lobbyisten triumphieren
    Kurz vor Weihnachten erhielt Bundeskanzlerin Merkel ein Schreiben mit einem ungewöhnlichen Doppelbriefkopf: Rechts oben prangten nebeneinander die Logos vom VDA – des Verbandes der Automobilindustrie – und der IG Metall. Eine ungewöhnliche Koalition. In ihrem Brief warnen Automobilverband und Gewerkschaft die Bundeskanzlerin eindringlich davor, dass die deutsche Automobilindustrie auf die »schwerste Krise ihrer Geschichte« zusteuere. Als »Gegenmaßnahmen« fordern sie, einen »starken Marktimpuls« und »eine CO2-basierte Kfz-Steuer einzuführen«. Der Hilferuf war unterzeichnet von der Creme der deutschen Automobilindustrie: von Opel-Boss Hans Demant, dem Daimler-Chef Dieter Zetsche, dem Betriebsratsvorsitzenden von Porsche Uwe Hück und seinem Pendant bei Mercedes Erich Klemm sowie sechs anderen Spitzenmanagern und -gewerkschaftern. Um den SPD-Teil der Regierung mit einzubinden, gingen Kopien an den Außenminister Frank-Walter Steinmeier, Finanzminister Peer Steinbrück und Umweltminister Sigmar Gabriel.
    Quelle: Zeit

    Siehe dazu auch:

    Verscheuern statt Schreddern
    Die Bundesregierung verkauft ihre Abwrackprämie gerne auch als „Umweltprämie“. Ein Etikettenschwindel, wie sich jetzt zeigt. Denn die Regelung lädt ein zum Betrug. Polizei und Umweltschützer warnen: Viele Alt-Autos, für die der Staat die Abwrackprämie zahlt, werden danach wieder auf den Straßen rollen. MONITOR machte die Probe aufs Exempel und verkaufte zum Schein ein zur Verschrottung vorgesehenes Auto gleich dreimal wieder. Sogar die Wiederzulassung in Deutschland war möglich. Dabei wäre ein wirksamer Betrugs-Schutz eigentlich ganz einfach.
    Quelle: ARD/Monitor

  5. Kenneth Rogoff: “Was gerade vor sich geht, ist unvorstellbar”
    Harvard-Professor Kenneth Rogoff ist kein Fan der Bad Bank, er fordert radikalere Maßnahmen: Die Verstaatlichung von Banken. Im SPIEGEL-ONLINE-Interview erklärt der ehemalige IWF-Chefvolkswirt die Vorteile eines “kontrollierten Konkurses” – und warum sich Europa schneller erholen wird als die USA.
    Quelle: Spiegel online

    Kommentar AM: Rogoff gilt als hoch qualifiziert. In seinem Interview konnte ich dafür nicht sonderlich viele Belege entdecken. Zum Beispiel:
    Wieso ist es wichtig, dass die Banken nach einer Verstaatlichung „schnell wieder in private Hände übergeben“. Er spricht davon, sie sollten „schnellstmöglich“ reprivatisiert werden. Diese wiederholten Forderungen kommen mir zumindest komisch vor. Vor der Reprivatisierung sollte zumindest das Personal ausgetauscht werden. Das geht nicht so schnell. Und warum eigentlich?
    Rogoff wiederholt die These vieler anderer, kleine und mittlere Unternehmen hätten zurzeit große Schwierigkeiten, Geld aufzutreiben. „Es gibt keinen Kredit“, behauptet er. – Wo sind die Belege? Zu welchen Bedingungen, zu welchen Zinsen? Nach meiner Einschätzung fehlt es mindestens so sehr an Aufträgen und damit an Kreditnachfrage.
    Rogoff wird gefragt, wie sich seiner Meinung nach die europäischen Regierungen bislang in der Finanzkrise geschlagen hätten. Er antwortet: „So weit, so gut.“ Der Mann hat wenig Ahnung. Er gibt wieder, was der große Strom der veröffentlichten Meinung über die Leistung z.B. von Merkel und Steinbrück verbreitet.
    Fazit: Nach Lektüre dieses Interviews werde ich vorsichtiger mit Texten von Rogoff umgehen.

  6. Schock am Katzentisch
    Ironischerweise ist es gerade die nahezu vollständige Übernahme der Finanzsektoren in den meisten osteuropäischen Ländern durch das westliche Finanzkapital, die nun die EU nötigen dürfte, den wirtschaftlichen Ruin der Region mit aller Macht zumindest aufzuschieben. Einer Analyse der ehemaligen Investmentbank Morgan Stanley zufolge zählt das Engagement westlicher Banken in Osteuropa zu deren größten Risikobereichen. Die EU-Geldhäuser haben sich laut der Studie mit insgesamt 1500 Milliarden US-Dollar (ca. 1150 Milliarden Euro) zwischen Baltikum und Schwarzmeer engagiert. Stark exponiert sind Finanzinstitute aus Italien, Frankreich, Schweden, Griechenland und insbesondere Österreich. Letztere haben in Osteuropa beispielsweise Kredite in Höhe von 224 Milliarden Euro vergeben, was in etwa drei Vierteln der jährlichen Wirtschaftsleistung Österreichs entspricht. (…)
    Im gesamten osteuropäischen Raum etablierte sich während der Jahre des Booms eine Defizitkonjunktur – ähnlich der, wie sie auf weitaus höherer Ebene in den USA zu finden war. Der durch westliche Kreditinstitute finanzierte, konsumgetriebene Wirtschaftsaufschwung kam wiederum hauptsächlich westlichen Konzernen zugute, die längst die dortigen Einzelhandelsmärkte dominieren. Die Dynamik dieser Kreditorgie wird beispielsweise an der privaten Verschuldung in Bulgarien ersichtlich, die 2007 um wahnsinnige 60,4 Prozent stieg. In Rumänien waren es 55,2 Prozent. Auch in Polen fand 2007 mit einer Zunahme privater Verschuldung um 40 Prozent eine ähnlich dramatischer Prozeß statt. Diese Kredite gingen zu einem großen Teil in den Konsum, der in vielen osteuropäischen Staaten zweistellige Zuwachsraten verzeichnen konnte. (…)
    Die Länder Ostmitteleuropas und Osteuropas haben im ersten Halbjahr 2008 für 84 Milliarden Euro deutsche Waren aufgenommen. Die Region ist somit für die deutsche Exportwirtschaft bereits wichtiger als die USA (59,2 Milliarden Euro) oder China (43,6 Milliarden Euro). Diese kreditgenerierte Nachfrage bricht nun zusammen und läßt den grauen kapitalistischen Alltag in viele jüngst aus dem Boden gestampfte Konsumtempel Osteuropas einkehren.
    Quelle: Junge Welt
  7. Finanzministerium blockierte verschärfte Aufsicht
    Die taumelnde Hypo Real Estate Holding (HRE) operierte nach Informationen des SPIEGEL jahrelang in einer Gesetzeslücke.
    Zwar waren ihre Bankentöchter dem Kreditwesengesetz (KWG) und damit der Bundesanstalt für Finanzdienstleistungsaufsicht (BaFin) unterworfen, die Muttergesellschaft jedoch nur eingeschränkt. Bereits im Frühling 2007 hatte die BaFin beim Bundesministerium der Finanzen eine Änderung beantragt. Auch Finanzholdings sollten voll unter BaFin-Aufsicht gestellt werden, um sie wirksamer kontrollieren zu können.
    Doch das Ministerium handelte nicht. Erst nach einem zweiten Vorstoß der BaFin lag im Sommer 2008 der Entwurf für eine entsprechende Änderung des KWG vor. Unterstützt wurde das Vorhaben der BaFin vom Zentralen Kreditausschuss aller deutschen Banken. Die Schließung der “aktuell bestehenden bankaufsichtsrechtlichen Regelungslücke für Konzernstrukturen, an deren Spitze eine Finanzholding-Gesellschaft steht, (…) wird von uns begrüßt”, schrieb der Ausschuss am 9. September in einer Stellungnahme an das Ministerium.
    Nun tritt die Änderung im Rahmen der Fortentwicklung des Pfandbriefrechts voraussichtlich im April in Kraft – zwei Jahre nach dem Vorstoß der BaFin.
    Quelle: Spiegel
  8. Gerechtigkeit und Wirtschaftspolitik
    Man kann nur mutmaßen, wie Erhard die Tatsache beurteilen würde, dass heute eine Million Vollzeitbeschäftigte das Existenzminimum nur mit staatlichen Hilfen nach dem Sozialgesetzbuch II (vulgo Hartz IV) erreichen. Ein staatlich aufgestockter Lohn unterhalb eines existenzsichernden Mindestlohns bedeutet nichts weniger als eine dauerhafte Lohnsubvention zum Vorteil einzelner Arbeitgeber. Von einer derartigen Lohnpolitik hätte sich ein Ordoliberaler wie Erhard, der eine Dauersubventionierung einzelner Branchen und Unternehmen prinzipiell ablehnte, wegen ihres wettbewerbsverzerrenden Charakters wohl mit Grausen abgewandt. Erhard lebte noch in einer Zeit, in der ein Großteil der Arbeitgeber einem Arbeitgeberverband oder einer Handwerksinnung angehörte und sich zur Einhaltung des Tarifgefüges verpflichtete. (…)
    Erhard fand seinen wirtschaftspolitischen Meister im Sozialdemokraten Karl Schiller, der von 1966 bis 1969 Wirtschaftsminister der Großen Koalition war. Während Kanzler Erhard noch im Herbst 1966 fälschlicherweise einen Inflationsanstieg anstatt einer Rezession erwartete, analysierte Schiller die konjunkturelle Lage richtig und bekämpfte die Stagnation mit Investitionsprogrammen. Die erstmalig angewandte antizyklische Ausgabenpolitik des Staates wurde nicht mit höheren Staatsschulden, sondern durch eine Steuererhöhung finanziert. Eine Mineralölsteuererhöhung um drei Pfennig diente zur Finanzierung einer Infrastrukturoffensive in Straßenbau und Nahverkehr. (…)
    Schiller war in der SPD der sechziger und frühen siebziger Jahre nicht gerade ein Zentrist und am allerwenigsten ein Linker. In der SPD nach Gerhard Schröder fände sich Karl Schiller links von der Mitte seiner Partei und deutlich links von den Protagonisten der Agenda 2010. Trotz aller Ähnlichkeiten ihres technokratischen Politikverständnisses hätte Schiller sicherlich Schwierigkeiten, seine Positionen bei Peer Steinbrück zu entdecken.
    Für eine Volkspartei links von der Mitte ist das glaubwürdige Verkörpern der “Sozialen Symmetrie” eine Lebensnotwendigkeit. Der Armuts- und Reichtumsbericht der Bundesregierung von 2008 zeigt, dass sich die Einkommens- und Vermögensschere unter der (Mit-)Regierung von Sozialdemokraten weiter öffnete. (…)
    Erstaunlicherweise werden die Veränderungen im politischen Koordinatensystem der Bundesrepublik von den Massenmedien überwiegend nur verzerrt wahrgenommen. Als der Hamburger Parteitag der SPD im Herbst 2007 einige Härten der Hartz-Gesetze für ältere Arbeitslose milderte, wurde dies als ein Bruch mit der Agenda 2010 und sogar als ein Linksruck der SPD interpretiert. Die sozial- und wirtschaftspolitischen Positionen der SPD haben sich weitaus weniger verschoben als das politische Koordinatensystem der Beobachter, die die SPD weiter links von der Y-Achse verorten als zuvor, obwohl sich ihre Position kaum veränderte. Mit seinem Prinzip der “Sozialen Symmetrie” wäre Karl Schiller heute ein Revisionist an der Agenda 2010.
    Quelle: FAZ

    Anmerkung KR: Paul Nolte hatte in der FAZ wieder einmal einen seiner Beiträge als Historiker zur Legitimierung der Umverteilung von unten nach oben abgeliefert. Sein Text „Abschied von der Gerechtigkeit“ ist allerdings dermaßen schlecht, geradezu unlesbar, dass wir ihn eigentlich ignorieren wollten.
    Ob diese intellektuelle Fehlleistung der FAZ nun doch etwas peinlich ist? Immerhin setzt sie selbst mit diesem Artikel von Christopher Kopper, Wirtschaftshistoriker und Privatdozent an der Universität Bielefeld, einen Kontrapunkt. Abgesehen von einigen beschönigenden Anmerkungen zu den Privatisierungen in Deutschland und der wohl unvermeidlichen Polemik gegen die Linkspartei lesenswert.

  9. Genosse Optimismus: Müntefering redet sich die Sonntagsfrage schön
    Miese Umfragewerte? Für SPD-Chef Müntefering kein Problem seiner Partei, sondern der Demoskopen – er sieht die Sozialdemokraten im Aufwind und ihren Spitzenkandidaten schon so gut wie im Kanzleramt. Auch die Kollegen an der SPD-Spitze sehen im Keller der Umfragen beste Aussichten.
    Dresden – Die Demoskopen sehen die Sozialdemokraten seit Wochen im Keller. Nach dem desaströsen Wahlergebnis in Hessen sieht Forsa die SPD nur noch bei 22 Prozent, das sind nur noch acht Prozentpunkte Abstand zur FDP. Allensbach zählte zwar 26,9 Prozent, aber auch das ist für eine Truppe, die sich Volkspartei nennt, natürlich mager.
    Trotzdem: Die SPD-Spitze lässt sich durch die anhaltend grausigen Umfragewerte nicht beirren. Parteichef Franz Müntefering meldete am Wochenende grundsätzliche Zweifel an der Aussagekraft von sogenannten Sonntagsfragen. Die Menschen wüssten genau, dass nächsten Sonntag keine Bundestagswahl sei, sagte Müntefering der “Welt am Sonntag”. “Entscheidend ist die Frage, wie nachhaltig überzeugt die Menschen von ihren derzeitigen Präferenzen sind. Was wird die Botschaft am Wahltag sein? Darum geht es.”
    Die Mehrheit für Schwarz-Gelb in Hessen lässt nach Meinung des SPD-Chefs keine Rückschlüsse darauf zu, was bundesweit möglich ist: “Schwarz-Gelb hat keine gesellschaftliche Mehrheit”, sagte Müntefering weiter. “Hessen war ein Sonderfall.” Viel wahrscheinlicher sei seiner Ansicht nach eine Regierung mit Frank-Walter Steinmeier – in einer Ampelkoalition mit den Grünen und den Liberalen, denn: “Die FDP kann sich in ihren Kernbereichen Liberalität, Bürgerrechte, Bildung, Menschenrechte und sogar in ökonomischen Fragen mit den Grünen und uns arrangieren.”
    Quelle: Spiegel online

    Kommentar AM: Mal wieder etwas vom maßlos überschätzten Müntefering. Seine Theorien und Erwartungen zu den Aussichten einer Ampelkoalition sind geradezu abenteuerlich. Müntefering blendet die Entwicklung der FDP aus und Müntefering blendet die Chancenlosigkeit einer auf den rechten Flügel geschrumpften SPD aus. Dass ihm überhaupt noch jemand etwas an Wahlchancen zutraut, hat mit einer Legende zu tun, die er und sein früherer Wahlhelfer Machnig seit 1998 sehr erfolgreich gepflegt haben – der Legende, Müntefering und seine Kampa hätten die Wende von Kohl zu Schröder möglich gemacht. Tatsächlich hatte die SPD ohne Tutun Münteferings dank eines spannungsreichen Wettlaufs zweier Personen – Lafontaine und Schröder – zwischen Dezember 1997 und dem März/April 1998 ihre Werte bei der politischen Stimmung von 40 % auf 52 % angehoben. Während des von Müntefering reklamierten, im März/April 1998 beginnenden Wahlkampfes sank die politische Stimmung für die SPD bis zum Wahltermin im September 1998 auf 41 %. Das reichte gerade noch. Das Ergebnis von 40,9 % war jedenfalls am allerwenigsten Müntefering und Machnig zu verdanken. Dennoch hält sich diese Legende. Die SPD wird auch für diese Fehleinschätzung Münteferings bei den Wahlen im September 2009 bezahlen.

  10. Mimikry um Ypsilanti
    Ging es in Hessen wirklich um den „Wortbruch“ Andrea Ypsilantis? Oder wurde die Entsorgung eines politischen Projekts betrieben?
    Was sich in Hessen zwischen den beiden Landtagswahlen vom 27. Januar 2008 und vom 18. Januar 2009 abspielte, war zunächst ein „Fall Koch“, wurde dann zum „Fall Beck“ und im weiteren nur noch zum „Fall Ypsilanti“. Als solcher wurde dieser zu einer beispiellosen „medialen Jagd“, wie es der Politikwissenschaftler Martin Hecht bereits am 25. September 2008 in der „Frankfurter Rundschau“ feststellte. Selbst nach dem Scheitern des hessischen SPD-Regierungsprojekts am 3. November und nach ihrem Rückzug von einer erneuten Spitzenkandidatur ging das „mediale Kesseltreiben“ gegen Andrea Ypsilanti weiter.
    Von Hermann Scheer.
    Quelle: Blätter
  11. “Steckt die Banker in den Bau”
    US-Präsident Barack Obama ist eigentlich kein Mensch, der leicht die Fassung verliert. Als er am Donnerstagnachmittag nach einer Sitzung mit Finanzminister Timothy Geithner die Reporter in das Oval Office einließ, war Obama jedoch merklich aufgebracht. Anlass für seinen ungewohnten Temperamentsausbruch war die Meldung des Rechnungsprüfers des Staates New York, dass sich die Vorstände der Finanzinstitute an der Wall Street im Jahr 2008 Boni in Höhe von 18,4 Milliarden Dollar ausgezahlt hatten.
    “Es wird eine Zeit für sie geben, Profite zu machen und eine Zeit, sich Boni auszuzahlen. Aber jetzt ist nicht diese Zeit”, wetterte der Präsident. “Finanzminister Geithner und ich gedenken, diese Botschaft unmissverständlich klar an die Wall Street zu senden.” …
    Die New York Times-Kolumnisten Maureen Dowd nannte Thain einen “skrupellosen Leichenfledderer” und forderte, ihn in Ketten zu legen und einen Schauprozess mit ihm zu veranstalten. US-Vize-Präsident Joe Biden schlug in dieselbe Kerbe: “Ich würde diese Jungs sofort in den Bau stecken. Sie haben immer noch die gleiche Mentalität, die uns hier hineingeritten hat.” Und tatsächlich erhob der Generalstaatsanwalt des Staates New York, Andrew Cuomo, diesen Rufen folgend, am Dienstag Anklage gegen Thain. …
    Quelle: FR

    Kommentar AM: Der amerikanische Vizepräsident sagt anders als unsere Regierenden wenigstens, was Sache ist: Das Verhalten der Banker ist streckenweise kriminell. In diesem Zusammenhang muss ich auf einen Eintrag in den NachDenkSeiten vom 17. August 2007 hinweisen: „Die Blase – das Werk von Kriminellen, kriminellen Vereinigungen und Hehlern.“

  12. Großbritannien in der Krise: Zurück an die Nähmaschinen
    “Steht Großbritannien vor dem Bankrott?” Die Frage war dieser Tage in vieler Munde. Und dann, als sich die Stimmung, trotz weiterer Nachrichten von Entlassungen und Insolvenzen gerade zu beruhigen schien, kam am Mittwoch die Einschätzung des Internationalen Währungsfonds, dass die Rezession England schwerer treffen werde als alle anderen reichen Nationen. Sie steht in direktem Widerspruch zu Gordon Browns Behauptung, Britannien sei gegen die Turbulenzen besser gerüstet als die meisten Länder. Wie ein Mantra wiederholt er, dass wir eine von den Vereinigten Staaten ausgehende globale Krise erleben, die globale Maßnahmen erfordere. Britannien wird als unschuldiges Opfer dargestellt. Dabei hat Labours Politik der leichten Regulierung und hohen staatlichen wie privaten Verschuldung das Land besonders anfällig gemacht.
    Quelle: FAZ
  13. Britische Jobs für britische Arbeiter
    Über eine Woche demonstrierten Arbeiter vor einer Ölraffinerie in Lincolnshire gegen einen Bautrupp italienischer und portugiesischer Arbeiter. Ausgerechnet Premier Gordon Brown lieferte den Arbeitern ihre Parole, als er 2007 in einem Anflug von populistischem Opportunismus “britische Jobs für britische Arbeiter” versprach. In den folgenden zwölf Monaten stieg die Zahl billiger Arbeitsplätze für Immigranten aus Osteuropa um 175 000, während die Arbeitslosigkeit britischer Arbeiter um 45 000 zunahm. Allein im Januar gingen im Zuge der Wirtschaftskrise über 200 000 Jobs verloren. Brown erfuhr von den wilden Streiks, als er beim Weltwirtschaftsgipfel in Davos vor Protektionismus und dem Errichten von Handelsbarrieren warnte. Wirtschaftsminister Lord Mandelson attackierte US-Präsident Barack Obamas Pläne für eine Kampagne, die zum Kauf amerikanischer Produkte ermuntern soll. “Wir haben in der EU einen einheitlichen Markt geschaffen, um Wachstum zu haben, nicht um uns gegenseitig zu bekämpfen”, sagte er.
    So bedeuten die Streiks ein Dilemma für den Premier. Ein Vermittlungsausschuss soll nun prüfen, ob das Bauvorhaben gegen Gesetze verstößt. Aber Brown stand an der Spitze der Forderung nach offenen Märkten in der EU. Als einziges großes Wirtschaftsland gewährte Großbritannien Arbeitern aus Osteuropa freien Zugang zu seinen Arbeitsmärkten. Doch das war in den guten Zeiten. Nun prognostiziert der Internationale Währungsfonds Großbritannien die schwerste Rezession aller Industrienationen mit einem Wachstumsverlust von 2,8 Prozent. In Meinungsumfragen ist Brown wieder weit abgeschlagen.
    Quelle: Tagesspiegel
  14. Verstaatlichung von britischen Privatschulen
    Weil man bereits für Banken und Unternehmen staatliche Rettungsschirme aufgespannt und manche Verstaatlichung eingeleitet hat, ergreift die britische Regierung die Chance oder steht unter dem Zwang, auch die Privatschulen zu verstaatlichen, die sonst schließen müssten. Fünf Schulen sind bereits, wie der Guardian berichtet, in öffentliche Schulen umgewandelt worden. Dabei geht es weniger um die arbeitslosen Lehrer, sondern um die Probleme, die aufkommen, wenn Tausende von Schülern in die sowieso beengten öffentlichen Schulen drängen und der Protest der Eltern für Unruhe sorgen würde. Besonders in London könne schon vermehrt beobachtet werden, dass Eltern ihre Kinder von den Privatschulen nehmen und sie in die öffentlichen Schulen schicken.
    Quelle: Telepolis
  15. Lohnuntergrenzen in Europa steigen
    Dänemark, Schweden und Finnland sowie Deutschland, Österreich, Italien und Zypern haben bislang keinen gesetzlichen Mindestlohn. Die meisten dieser Länder verfügten ­jedoch über “funktionale Äquivalente, die ihnen eine hohe Tarifbindung sichern und damit ein weitgehend funktionierendes System tarifvertraglicher Mindestlohnsicherung ­möglich machen”, so WSI-Forscher Schulten. Dazu zählen beispielsweise die Pflichtmitgliedschaft der meisten österreichischen Unternehmer in der Wirtschaftskammer oder Regelungen in den skandinavischen Ländern: Dort verwalten die Gewerkschaften die Arbeitslosenversicherung, was eine hohe Tarifbindung sichere. Lediglich in Deutschland gebe es keine derartigen Faktoren, so Schulten.
    Quelle: Boeckler-Boxen
  16. Bericht von Pariser Großdemo und Hintergründe
    Eine Million bis 2,5 Millionen Menschen demonstrierten in Frankreich gegen Sarkozys Krisenpolitik. Aber wie geht es jetzt weiter?
    Quelle: Stattzeitung für Südbaden im Internet

    Anmerkung KR: Ein etwas genauerer Blick auf die verschiedenen Gruppen und Strömungen, die den Protest organisierten.

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