Kategorie:
Bundesverfassungsgericht, Verfassungsgerichtshof

Bundesverfassungsgericht: Neuregelung der “Pendlerpauschale” verfassungswidrig

Der Zweite Senat des Bundesverfassungsgerichts hat entschieden, „dass diese Neuregelungen mangels verfassungsrechtlich tragfähiger Begründung mit den Anforderungen des allgemeinen Gleichheitssatzes des Art. 3 Abs. 1 GG an eine folgerichtige Ausgestaltung einkommensteuerrechtlicher Belastungsentscheidungen nicht vereinbar und verfassungswidrig sind.
Der Gesetzgeber ist danach verpflichtet, rückwirkend auf den 1. Januar 2007 die Verfassungswidrigkeit durch Umgestaltung der Rechtslage zu beseitigen. Bis zur gesetzlichen Neuregelung ist die Pauschale des § 9 Abs. 2 Satz 2 EStG – vorläufig – ohne die Beschränkung auf Entfernungen erst ab dem 21. Kilometer anzuwenden.“ Wolfgang Lieb

Öffentliche Haushalte: Höchster Richter fordert Schuldenverbot

Hans-Jürgen Papier, Präsident des Bundesverfassungsgerichts, sieht wegen der riesigen Staatsverschuldung die Leistungsfähigkeit des Rechts- und Sozialstaats in Gefahr. Er hält striktere Vorschriften und eine umfassende Übertragung von Staatsaufgaben in private Hände für nötig.
Hier greift der oberste Verfassungsrichter in eine aktuelle politische und wirtschaftspolitische Debatte ein. Das ist nicht seine Aufgabe. Dieses Interview mit Bild am Sonntag ist in mehrerer Hinsicht „beachtlich“.

Studiengebührenurteil des Hessischen Staatsgerichtshofs: Chancengleichheit durch Verschuldung

Mit Wortverdreherei und juristischer Rabulistik gelingt es der Mehrheit der Richter am hessischen Verfassungsgerichtshof, den eindeutigen Wortlaut des Artikels 59 der Hessischen Landesverfassung in sein Gegenteil zu wenden. Aus der Unentgeltlichkeit des Studiums wird die Zulässigkeit des Bezahlstudiums für alle. Wer kein Geld hat, muss sich eben verschulden, dann hat er genauso viel, wie derjenige, der Geld hat. Ein klassischer Fall von Oberschichten-Justiz.

Der Einsatz deutscher Soldaten in AWACS-Flugzeugen über der Türkei hätte der Zustimmung des Bundestags bedurft – doch das Urteil des Bundesverfassungsgerichts ist leider nur ein Pyrrhussieg

Das Urteil des Bundesverfassungsgerichts vom 7. Mai 2008 ist in mehrfacher Hinsicht von Bedeutung:

  1. Aktuell, weil es die die Rolle der Bundeswehr als „Parlamentsarmee“ bekräftigt und die schleichende Ausdehnung der militärischen Entscheiddungskompetenzen der Exekutive begrenzt,
  2. rückblickend für die juristische Beurteilung der deutschen Beteiligung am Irak-Krieg,
  3. für die Zukunft, weil es den Plänen der CDU/CSU für ein neues Sicherheitskonzept enge Grenzen setzt.
  4. Spannender wird aber nun die Frage werden, wie sich dieses Urteil zu Artikel 28a des EU-Reformvertrages verhält, in dem die Sicherheits- und Verteidigungspolitik auf die Europäische Union übertragen wird und unter Führung der Union militärische „Missionen“ auch mit Hilfe der Bundeswehr durchgeführt werden dürfen.

Wolfgang Lieb

ödp klagt gegen EU-Reformvertrag

Der in den Volksabstimmungen in Frankreich und den Niederlanden abgelehnte EU-Verfassungsvertrag ist zwar Geschichte. Weil jedoch die inhaltliche Substanz dieses Verfassungsvertrags im Vertrag von Lissabon erhalten bleibt und somit die kritischen Teile der Sicherheits- und Militärpolitik in den überarbeiteten EU-Reformvertrag eingeflossen sind, hat die Ökologisch demokratische Partei (ödp) Klage vor dem Bundesverfassungsgericht eingereicht. Nach Auffassung des ödp-Bundesvorsitzenden Klaus Buchner sei der EU-Reformvertrag weder mit dem deutschen Grundgesetz noch mit der Charta der Vereinten Nationen vereinbar. Buchner betont, dass die ödp keineswegs europafeindlich sei, seine Partei sehe aber keinen anderen Ausweg als den Gang nach Karlsruhe, um ein undemokratisches und militarisiertes Europa zu verhindern. Von Christine Wicht

Die Umgehung des Grundgesetzes über die europäische Überwachungs-Union

Mit der Eingrenzung der Online-Durchsuchung und dem Urteil gegen den “Großen Lauschangriff” hat das Bundesverfassungsgericht Schäubles Überwachungsmanie Grenzen gesetzt. Doch das grundgesetzliche Gebot unbedingter Achtung einer Sphäre der ausschließlich privaten – “höchstpersönlichen” – Entfaltung droht durch eine “europäische Sicherheitsarchitektur” umgangen und ausgehöhlt zu werden.
Christine Wicht gibt einen Überblick über die Vielzahl schon eingeführter und geplanter europaweiter Überwachungsmaßnahmen durch Datennetze und Ermittlungs- und Informationstechnologien.

Karlsruhe: Der Dienstherr als Herr der Beamten

Die Verlängerung der Arbeitszeit begegnet keinen verfassungsrechtlichen
Bedenken. Mit diesem lapidaren Beschluss hat die 1. Kammer des Zweiten Senats des Bundesverfassungsgerichts eine Verfassungsbeschwerde eines bayerischen Beamten gegen die seit dem 1. September 2004 geltende Anhebung der regelmäßigen wöchentlichen Arbeitszeit für Beamte von 40 auf 42 Stunden nicht zur Entscheidung angenommen.
Gerade zeitgerecht zu den Tarifauseinandersetzungen im Öffentlichen Dienst, wo die Arbeitgeber eine Verlängerung der Arbeitszeit verlangen, präsentiert das oberste Gericht eine Entscheidung, die auf jegliches Pro und Contra von Arbeitszeitverlängerungen verzichtet und geradezu obrigkeitsstaatliche Züge erkennen lässt. Wolfgang Lieb

Der Bewusstseinswandel der Bevölkerung im Hinblick auf die freiwillige Angabe persönlicher Daten

Millionen Bürger geben in Internetplattformen völlig sorglos Personalien, Gewohnheiten und private Fotos von sich preis. Der Trend der Konsumenten geht zur Kundenkarte, so trägt laut Statistik jeder Deutsche heute im Durchschnitt 4,5 Kundenkarten im Portemonnaie, Tendenz steigend. Der Kunde offenbart damit automatisch detaillierte Auskünfte über sein persönliches Kaufverhalten und wird inzident zum Datenlieferanten und zur Zielscheibe zielgerichteter Werbung. Dies ist ein neues Phänomen, wenn man bedenkt, welch vehemente Proteste noch die Volkszählung in den 1980er Jahren in der Bevölkerung ausgelöst hat, weil Bürger nicht bereit waren eine Vielzahl persönlicher Daten anzugeben. Der Wert des seinerzeit vom Verfassungsgericht hervorgehobene “Recht auf informationelle Selbstbestimmung” scheint nun vollkommen ignoriert zu werden. In den letzten 25 Jahren hat sich ein Bewusstseinswandel in der Bevölkerung vollzogen, der nur schwer nachvollziehbar ist, Skepsis und Widerstand im Hinblick auf unkontrollierte Datenverwendung sind praktisch nicht mehr vorhanden. Von Christine Wicht

Die Föderalismusreform II muss zu einer Verbesserung der Finanzierungsstrukturen für Bildung führen

Am 15. Dezember 2005 wurde die Föderalismusreform I verabschiedet. Ziel dieser Reform war die Belebung des Wettbewerbs zwischen den Bundesländern. Schon damals kritisierte Wolfgang Lieb auf den Nachdenkseiten: „Mehr Wettbewerb bringt [.] eine Stärkung des Rechts des Stärkeren zwischen den Ländern.“ Nun steht die Föderalismusreform II an – eine gute Gelegenheit, das Thema Bildung erneut auf die Tagesordnung zu setzen. Klemens Himpele hat sich dazu zu Wort gemeldet.

Hochschulen sollen selbst über die Zahl der Studienplätze entscheiden können

Unter der Überschrift „Weg mit den alten Zöpfen“ drängt Bundesbildungsministerin Annette Schavan auf eine Abschaffung der Kapazitätsverordnungen. Solche Verordnungen wurden vor allem durch das sog. Numerus Clausus-Urteil durch die Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts in den 70er Jahren erzwungen. Das Gericht hatte in mehreren Urteilen entschieden, dass öffentlich finanzierte Hochschulen auf Grund des Grundrechts der Berufsfreiheit nach Art. 12 GG, des Gleichheitssatzes und des Sozialstaatsprinzips zu einer erschöpfenden Nutzung der an den Hochschulen vorhandenen Ausbildungskapazitäten und zu einer vergleichbaren Auslastung der verschiedenen Hochschulen verpflichtet seien.
Die Bundesregierung fordert nun die Länder auf, die auf diesen Urteilen basierenden Kapazitätsverordnungen abzulösen: „Die Freiheit der Länder und Hochschulen, miteinander in Wettbewerb zu treten, die Studienplatzvergabe zu dezentralisieren, Studienentgelte zu erheben und damit die Lehrbedingungen… deutlich zu verbessern, verdeutlicht, wie unzeitgemäß die Orientierung an einer maximalen Kapazitätsausschöpfung ist“, sagt die Bundesregierung in einer Antwort auf eine Kleine Anfrage der FDP-Fraktion [PDF -760 KB]. Wolfgang Lieb

Bundesverfassungsgericht: Sozialstaat nach Kassenlage

Sowohl die am Preisindex ausgerichtete Rentenanpassung zum 1. Juli 2000 als auch deren Unterbleiben zum 1. Juli 2004 seien gesetzliche Maßnahmen, die von dem gewichtigen öffentlichen Interesse bestimmt seien, einem Finanzierungsdefizit der gesetzlichen Rentenversicherung entgegenzuwirken. Maßgebend für die Ausrichtung der Rentenanpassung am Ziel des Inflationsausgleichs zum 1. Juli 2000 sei der sprunghafte Anstieg der Staatsverschuldung gewesen.
Die Gründe für die Staatsverschuldung und die Frage, ob die jeweilige Finanzpolitik richtig oder falsch war, all das interessiert die Richter nicht. Das Bundesverfassungsgericht hält Rentenanpassungen je nach Kassenlage für verfassungsgemäß. Wolfgang Lieb

Jutta Roitsch: Föderaler Schlussakt. Von der kreativen Kooperation zum ruinösen Wettbewerb

Die erste große Koalition in der Bundesrepublik unter Kurt Georg Kiesinger und Willy Brandt führte ihn ein, die zweite große Koalition unter Angela Merkel und Franz Müntefering schafft ihn ab: Nach über 35 Jahren hat der kooperative Föderalismus ausgedient. Nach einer parlamentarischen Beratungszeit von nur fünf Monaten wurde in Bundestag und Bundesrat ein Eingriff in das Grundgesetz vorgenommen, der die bisherige Machtbalance zwischen Bund und Ländern grundlegend verändert.
Jutta Roitsch hat uns ihren Beitrag zur Entwicklung und den Zielen der Föderalismusreform zur Verfügung gestellt. Er ist in den Blättern für deutsche und internationale Politik 8/2006 abgedruckt. Siehe auch NachDenkSeiten vom 20. Dezember 2005.

Der Präsident des Bundesverfassungsgerichts, Hans-Jürgen Papier, reiht sich in die Truppe der Lobbyisten für die private Altersvorsorge ein.

CSU-Mitglied Papier hat sich zwar bisher als erzkonservativer Jurist, aber nicht gerade als Rentenversicherungsexperte einen Namen gemacht. Nun schlägt er in der WELT Alarm und stellt in Frage, ob angesichts des Absinkens der gesetzlichen Rente, die Beitragserhebung noch verfassungsrechtlich legitimiert wäre.
Er stützt sich dabei offenbar auf eine Behauptung des bekannten Freiburger Versicherungslobbyisten Raffelhüschen, wonach junge Menschen „aus der Rentenversicherung weniger herausbekommen, als sie eingezahlt haben.“ Alle Leitmedien plappern diese „Meldung“ unkommentiert und unkritisch nahezu wortwörtlich nach. Bedarf es eines konkreteren Beweis dafür, dass wir eine freiwillige Gleichschaltung der Medien haben, zumal wenn es gegen die sozialstaatlichen Sicherungssystem geht?

Der Präsident des Bundesverfassungsgerichts erklärt das Sozialstaatspostulat des Grundgesetzes zur politischen Verfügungsmasse und der Bundespräsident pflichtet ihm sofort bei.

„Die Bundesrepublik Deutschland ist ein demokratischer und sozialer Bundesstaat“ lautet Artikel 20 des Grundgesetzes. Der Präsident des Bundesverfassungsgerichts, Hans-Jürgen Papier meint dagegen in der FAZ:

Die Grundlagen unserer Verfassung basieren auf dem Prinzip der Eigenverantwortung“ und „das Sozialstaatsprinzip des Grundgesetzes belässt dem Gesetzgeber einen weiten Gestaltungsspielraum.

„Wir müssen ein neues Verhältnis finden in der Tat zwischen kollektiver Absicherung und Eigenverantwortung“, pflichtete ihm unser Bundespräsident im DLF bei.
Damit segnet unser oberster Repräsentant des Staates und unser oberster Richter letztlich alles ab, was an Abbau des Sozialstaates noch politisch vorangetrieben werden mag.