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Sozialstaat

Eine andere Republik – Hartz IV und die Folgen

Der frühere Wirtschafts- und Arbeitsminister Wolfgang Clement hat das im Volksmund als „Hartz IV“ bezeichnete Vierte Gesetz für moderne Dienstleistungen am Arbeitsmarkt seinerzeit die „Mutter aller Reformen“ genannt. Tatsächlich hat sich Deutschland in den zehn Jahren seit Einführung der Arbeitsmarktreform am 1. Januar 2005 tiefgreifend gewandelt: Sowohl die von dem Gesetzespaket unmittelbar Betroffenen wie auch ihre Angehörigen und die mit ihnen in einer „Bedarfsgemeinschaft“ zusammenlebenden Personen werden stigmatisiert, sozial ausgegrenzt und isoliert. Auch für alle übrigen Gesellschaftsmitglieder hat sich die soziale Fallhöhe durch Hartz IV erheblich vergrößert, weshalb die Furcht vor dem materiellen Absturz sogar in der Mittelschicht um sich greift. Die mit den Hartz-Reformen in Gang gesetzte soziale Abwärtsspirale erschwert den normalen Alltag vieler Durchschnittsbürger/innen, beeinträchtigt jedoch auch deren aufrechten Gang. Von Christoph Butterwegge.

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Der Mensch ist kein Renditefaktor!

Der Geschäftsführer des Paritätischen Wohlfahrtsverbandes hat sich mit einem Alarmruf in die Reihe jener Querdenker eingereiht, die seit kurzem gegen das von traditionellen Ökonomen konstruierte Modell des Menschen rebellieren, mit dem sie die real existierende Wirtschaft zu erklären suchen. Sie haben ein wohlinformiertes, rational kalkulierendes und ausschließlich auf den eigenen Nutzen ausgerichtetes Individuum entworfen, das von allen sozialen Bindungen, normativen Überzeugungen und Mitgefühl für anderen losgelöst ist, das mit anderen nur dann kooperiert, wenn es dem eigenen Vorteil dient. Wenn sie damit im Elfenbeinturm ihrer Wissenschaft bleiben würden, könnten sie keinen Schaden anrichten. Aber sie erheben den Anspruch, dass dieses Denkmuster wie eine fremde Besatzungsmacht alle sozialen Sphären beherrscht – die Gesundheits- und Pflegedienste, die Bildungs- und Sozialeinrichtungen sowie die öffentliche Verwaltung. Eine Rezension von Ulrich Schneiders Buch „Mehr Mensch! Gegen die Ökonomisierung des Sozialen“. Von Friedhelm Hengsbach [*]

Jahresgutachten des „Sachverständigenrats“: „Wirtschaftswissenschaft“ als Arbeitgeberpropaganda

“Es ist nicht ganz trivial zu verstehen, wie ein Beschluss, der noch nicht in Kraft ist, jetzt schon die konjunkturelle Dämpfung hervorrufen kann” sagte gestern Angela Merkel. Selbst die Kanzlerin kann auf das Jahresgutachten 2014/14 des Sachverständigenrats nur noch mit Spott reagieren. Da werden über 400 Seiten vollgeschrieben und am Ende kommen die „Wirtschaftsweisen“ zu dem Ergebnis, dass die von der deutschen Politik zu verantwortenden Hauptursachen für die „wirtschaftliche Eintrübung“ die abschlagfreie Rente ab 63, die Ausweitung der Mütterrente und der noch gar nicht eingeführte Mindestlohn seien. Um zu diesem Befund zu kommen, hätte es auch gereicht die Pressestellen der Arbeitgeberverbände, Herrn Henkel von der AfD oder die professoralen Botschafter der Initiative Neue Soziale Marktwirtschaft (INSM) anzurufen.
Da ist die Wirtschaft durch den Glauben an die „Märkte“ weltweit an die Wand gefahren, das hindert den „Sachverständigenrat“ nicht, als Titel für sein Jahresgutachten „Mehr Vertrauen in Marktprozesse“ zu wählen. Das Credo der Mehrheit dieser „Ökonomen“ scheint zu sein: „Umso schlimmer für die Wirklichkeit, wenn sie unserer Ideologie“ nicht folgt. Von Wolfgang Lieb.

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Das Dilemma mit der Pflege im Alter und der Finanzierung der Pflegedienste

Der Klassiker: Die Oma stürzt und bricht sich dabei den Oberschenkelhals. Ein Vorfall, wie er jedes Jahr tausendfach über Familien hereinbricht, die mit Beruf und Ausbildung der Kinder schon bis an die Grenzen ihrer Leistungsfähigkeit belastet sind. Wer jetzt nicht kurzen Prozess machen kann oder will und die Oma ins Heim verfrachtet, steht vor dem Problem, dass eine häusliche Pflege von den Familienmitgliedern allein auch bei bestem Willen praktisch nicht zu leisten ist. Dies gilt erst recht, wenn zur körperlichen Gebrechlichkeit noch der geistige Verfall durch Demenz hinzu kommt. In dem Augenblick kommt dann ganz schnell der Wunsch nach einem ambulanten Pflegedienst, der hier helfen könnte. Am Besten sofort oder zumindest noch am gleichen Tag. Es sollte doch möglich sein, dass die häusliche Pflege kurzfristig von einem Pflegedienst übernommen wird. Und dann wundert man sich, dass es nicht so schnell geht, weil keiner der Pflegedienste ad-hoc über freie Kräfte verfügt. Dies hat viel mit äußerst knappen Budgets, steigenden Kosten und somit fehlenden Spielräumen zu tun. Von Christoph Jehle[*]

25 Jahre Mauerfall – Einige Anregungen zum Nachdenken

Angesichts des oft selbstgerechten Tonfalls in den Jubelfeiern des 25. Jahrestages des Mauerfalls, einige Anregungen zum Nachdenken, die zeigen, dass viele, die die persönliche politische Freiheit der Menschen in der DDR angeblich so am Herzen lag ganz, ganz anderes im Sinn hatten. Von JK.

Die Rektorenkonferenzen als Trutzburgen rückwärtsgewandter Bildungspolitik treten die Studiengebührendebatte wieder los

Zum Wintersemester 2014/2015 schafft Niedersachsen als letztes Bundesland die Studiengebühren ab. In Hessen, Baden-Württemberg, Nordrhein-Westfalen, Hamburg und im Saarland wurden nach Wahlniederlagen von CDU und FDP, die Studiengebühren wieder abgeschafft. Selbst in Bayern wagte die mit absoluter Mehrheit wiedergewählte CSU nicht, die 2013 abgeschaffte Campus-„Maut“ wieder einzuführen. Doch die Studiengebührenbefürworter geben keine Ruhe. Diesmal fangen die Hochschulrektoren an mobil zu machen. Einmal mehr zeigt sich darin die Geringschätzung der Hochschulleiter gegenüber dem Gesetzgeber und vor der Meinung der überwiegenden Mehrheit in der Bevölkerung. Der neuerliche Vorstoß belegt, dass die Rektorenkonferenzen zu Trutzburgen konservativer Bildungspolitik geworden sind und dass sie selbst Wein trinken und ihren Studierenden Wasser predigen. Von Wolfgang Lieb

Minijobs: 30 Jahre falsche Beschäftigungspolitik und eine fatale Weichenstellung

„Zahl der Minijobber hat sich verdoppelt“, so titelte Der Tagesspiegel und mit ihm eine Reihe anderer Zeitungen am vergangenen Freitag. Gemeint war, das Ende 2013 rund 2,35 Millionen Menschen einem Minijob als zusätzlichem Nebenjob nachgegangen waren, doppelt so viele wie vor zehn Jahren. Die Zahl der insgesamt geringfügig Beschäftigten habe im Dezember 2013 bei knapp 7,65 Millionen gelegen. Die vorab veröffentlichten Zahlen stammen aus einer noch nicht allgemein zugänglichen Antwort der Bundesregierung auf eine parlamentarische Anfrage der Grünen zur Entwicklung der geringfügigen Beschäftigung.

Was für ein Aufreger. Als wären die Minijobs plötzlich wie Pilze aus dem Boden geschossen. Dabei ist die geringfügige Beschäftigung nicht erst seit heute die nach der Teilzeitbeschäftigung am weitesten verbreitete „atypische“ Beschäftigungsform in Deutschland. Von Markus Krüsemann.

Was ist die amerikanische Linke?

Ein neuer Bericht von Norman Birnbaum. Wie immer interessant und danke vielmals dem Autor und Carsten Weikamp, der den Text übersetzt hat. Albrecht Müller.

Wie das Herbstgutachten 2014 eine Kampagne gegen Mindestlohn und Rente mit 63 lostrat

Zweimal im Jahr, jeweils im Frühjahr und im Herbst, legen mehrere Wirtschaftsforschungsinstitute im Auftrag der Bundesregierung ein gemeinsames Gutachten zur ökonomischen Lage vor. Regelmäßig nutzen sie diese Gelegenheit, um in Politik und Öffentlichkeit neoliberal Stimmung zu machen – diesmal einmal mehr gegen Mindestlohn und gegen Verbesserungen bei der Rente. Diese seien für die derzeit zu beobachtende Dämpfung des Wirtschaftsaufschwungs mitverantwortlich, so suggerieren die Autoren. Medien und CDU/CSU sprangen sofort darauf an. Von Patrick Schreiner[*].

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Wider die Demografie-Demagogie

„Die Demagogie mit der Demografie“ ist der Titel einer gerade bei KLARtext e.V., einem kleinen Frankfurter Verein, der schon des Öfteren – beispielsweise hier, hier, hier und hier – von sich reden machte, erschienenen Broschüre. Auch die aktuelle Publikation ist dabei wieder dem Ziel verpflichtet, aufzuzeigen und zu argumentieren: „Die Grenzen verlaufen zwischen oben und unten, nicht zwischen den Völkern“. Wie wichtig derlei auch und gerade in Bezug auf die vermeintliche „Überalterung“ unseres Landes ist, offenbart bereits ein flüchtiger Blick in den deutschen Blätterwald. Denn immer wieder ist es die Demografie, die als vermeintlicher Nachweis dafür herhalten muss, dass sich „die Gesellschaft“ ihre sozialen Sicherungssysteme nicht mehr leisten könne und „reformiert“ werden müsse. Doch stimmt das überhaupt? Jens Wernicke sprach hierzu mit Günter Berg, Mitglied im Wissenschaftlichen Beirat von Attac und neben Gerd Bosbach dem zweiten Autor der Veröffentlichung.

Ebola – die Katastrophe hinter der Katastrophe und der erbärmliche Zynismus Deutschlands

Die Nachrichten aus den drei von Ebola am stärksten heimgesuchten westafrikanischen Ländern Guinea, Liberia und Sierra Leone könnten kaum schlechter sein – seit Ausbruch der Epidemie hat die Weltgesundheitsorganisation nun bereits mehr als 8.900 bestätigte Ebola-Fälle registriert. Für Dezember geht man nun von bis zu 10.000 neuen Fällen aus – pro Woche, wohlgemerkt! Bis Ende Januar 2015 kalkulieren die Experten mit 200.000 bis 250.000 Erkrankungen. Das ist für die drei bitterarmen Länder, von denen zwei sich gerade eben langsam von einem langwährenden Bürgerkrieg erholen, eine echte Katastrophe. Mindestens genau so schlimm wie die direkten sind jedoch die indirekten Folgen der Epidemie. Allen drei Staaten droht kurz- bis mittelfristig eine humanitäre Katastrophe mit Hungersnöten und mittel- bis langfristig eine tiefe Wirtschaftskrise, die die gesamte Region destabilisieren könnte. Aus Deutschland ist leider keine Hilfe zu erwarten. Von Jens Berger.

Länderfinanzausgleich: Ist Bayern sogar im Minus?

„Der Länderfinanzausgleich belohnt das Nichtstun“, ähnlich wie für Griechenland in der Eurokrise müsse es für schwache Bundesländer in Deutschland Anreize und Druck geben, ihren Haushalt in Ordnung zu bringen und Strukturreformen anzustoßen, so äußerte sich Bayerns Finanzminister vor ein paar Tagen im Deutschlandfunk Bayern zahle fast 60 Prozent des Länderfinanzausgleichs, das Land habe 40 Milliarden an andere Länder gegeben, Bayern habe in den 40 Jahren als Nehmerland dagegen nur 5 Milliarden bekommen. Axel Troost der finanzpolitische Sprecher der Bundestagsfraktion DIE LINKE stellt eine etwas andere Rechnung auf.

Wenn das Bundesverfassungsgericht Regierungsversagen sekundiert

In einem gerade veröffentlichten Urteil des Bundesverfassungsgerichts vom 23. Juli 2014 bescheinigt das BVerfG dem Gesetzgeber, sowohl bei der Neufestsetzung des HartzIV-Regelbedarfs als auch bei der jährlichen Fortschreibung des Betrages, verfassungsgemäß gehandelt zu haben. Die Begründung der Karlsruher Richter lässt jedoch an vielen Stellen eine brüchige Argumentation zutage treten. Und wieder einmal wird dadurch Regierungshandeln legitimiert, das zulasten der Ärmsten unserer Gesellschaft geht. Denn damit werden grundlegende Rechte, die im deutschen Grundgesetz zum Schutz der Bürger festgelegt sind, ausgehebelt. Von Lutz Hausstein [*]

Schottland stellt die Systemfrage

Heute stimmen die Schotten über ihre Zukunft ab. Dabei geht es um weit mehr als „nur“ die Frage der formellen Unabhängigkeit. Schottland vs. Großbritannien – das ist auch die das Duell der sozialen Marktwirtschaft gegen den Neoliberalismus und schlussendlich auch das Duell zwischen einer gerechteren Gesellschaft und einem Turbokapitalismus, in dem die Reichen immer reicher und die Armen immer ärmer werden. Doch selbst wenn die Schotten Großbritannien „farewell“ sagen, ist der Erfolg ihres Kampfes für Selbstbestimmung und Gerechtigkeit keinesfalls garantiert. Denn es gibt zahlreiche wichtige Detailfragen, die nach wie vor ungeklärt sind. Von Jens Berger.

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Lese-Rechtschreibschwäche ist keine Krankheit, sondern das Produkt schulischer Selektion

Kinderärzte in Deutschland behandeln einer aktuellen Umfrage zufolge immer mehr Kinder und Jugendliche mit psychischen Auffälligkeiten. 96 Prozent der befragten Mediziner berichten über steigende Zahlen in den vergangenen zehn Jahren. Ähnliches vermeldete vor einiger Zeit bereits das Landesinstitut für Gesundheit und Arbeit des Landes Nordrhein-Westfalen in einem Bericht: “Die kontinuierliche Zunahme von psychischen Erkrankungen und Verhaltensstörungen bei Kindern und Jugendlichen in den letzten Jahren ist besorgniserregend”, hieß es dort. Bei den ambulanten Behandlungsraten fiel die Zunahme bei Kindern und Jugendlichen mit 14,3 Prozent dabei fast doppelt so hoch aus wie in der Gesamtbevölkerung. Der weitaus überwiegende Teil der Behandlungsfälle war dabei auf “Entwicklungsstörungen (F80 bis F89)” und “Verhaltens- sowie emotionale Störungen mit Beginn in der Kindheit und Jugend (F90 bis F98)” zurückzuführen. Was aber liegt wirklich „am Kind“ – und was vielmehr an den Bedingungen [PDF – 152 KB], denen dieses ausgesetzt wird? Jens Wernicke sprach hierzu mit Ulrich Schulte, der als Ausbilder und Wissenschaftler seit Jahren zu Legasthenie, einer der wichtigsten „Entwicklungsstörungen“, arbeitet und forscht.