Kategorie:
Arbeitsmarkt und Arbeitsmarktpolitik

Neujahrsansprache der Bundeskanzlerin – Eine atemberaubende Flucht aus der Wahrheit

Festtagsansprachen von Politikern sollen den Gemeinsinn ansprechen und bei den Menschen Zuversicht schaffen. Das ist ein legitimes Anliegen. Aber die Neujahrsansprache der Kanzlerin strotzte nur so von Selbstlob und von neoliberalem „Neusprech“. Das Gesagte und das Gemeinte, die Ansprache und die Wirklichkeit könnten nicht weiter auseinander liegen. Man muss nur einmal Satz für Satz hinterfragen, was sich hinter dem Gesprochenen verbirgt und welche Täuschungsversuche hinter den Worten stecken. Wolfgang Lieb

Erwerbstätigenquote der über 55-Jährigen gestiegen – Ein Erfolg der Reformpolitik?

Durch die positive Entwicklung auf dem Arbeitmarkt sind in der Vergangenheit benachteiligte Gruppen verstärkt wieder in die Erwerbstätigkeit zurückgekehrt. Wie aus dem “Nationalen Strategiebericht – Sozialschutz und soziale Eingliederung 2008 bis 2010” der Bundesregierung (16/10138) hervorgeht , lag die Zahl der sozialversicherungspflichtig Beschäftigten im März 2008 wieder bei 27,22 Millionen und entsprach damit dem Stand des Jahres 1998. Die Zahl der Arbeitslosen sank im Jahr 2007 auf jahresdurchschnittlich 3,77 Millionen und entsprach damit dem Stand des Jahres 1994. Erfreut zeigt sich die Bundesregierung in der Unterrichtung, dass die Erwerbstätigenquote der über 55-Jährigen wieder über 50 Prozent liegt. Mit einem Wert von 51,5 Prozent sei im Jahr 2007 bereits das für 2010 angestrebte Lissabon-Ziel übertroffen worden. Vermutlich wird der Anstieg der Zahl der sozialversicherungspflichtig Beschäftigten und die höhere Erwerbstätigenquote der über 55-jährigen von der Bundesregierung wieder als Erfolg der „Reform“-Politik dargestellt werden. Dazu ein paar vorsorgliche Anmerkungen von Wolfgang Lieb

Angela Merkel: “Mit mir werden keine Reformen zurückgedreht”

„Während meiner Kanzlerschaft werden sinnvolle Reformen an keiner Stelle zurückgedreht. Das sage ich ausdrücklich beispielsweise mit Blick auf Bestrebungen, die Rente mit 67 auszuhöhlen, einen einheitlichen, flächendeckenden, gesetzlichen Mindestlohn einzuführen, die Förderung der Altersteilzeit durch die Bundesagentur für Arbeit wieder auszubauen oder das arbeitsmarktpolitische Instrumentarium auszuweiten…
Wir werden weiter auf unserem Kurs notwendiger Veränderungen gehen. Die von meinem Vorgänger Bundeskanzler Schröder begonnenen und von der Union – das wollen wir nicht vergessen – damals mitgetragenen Reformen haben wesentlich zum jetzigen Aufschwung beigetragen“, so die Kanzlerin in der Wirtschaftswoche. Beschönigung, Unwissen oder gezielte Gehirnwäsche durch permanente Wiederholung derselben unbelegten und von der Wirklichkeit längst widerlegte Behauptungen?

Bewerbungsrede aus abgehobener Warte

Horst Köhler genießt nach letzten Umfragen unter allen Politikern das höchste Ansehen. Ob ihm aber die Bürgerinnen und Bürger jemals zugehört haben? Hätten Sie ihm jemals zugehört, dann müssten sie feststellen, dass er eine Meinung vertritt und politische Ziele postuliert, die von der überwiegenden Mehrheitsmeinung der Bürgerinnen und Bürgern diametral abweicht. So auch in seiner Berliner Rede 2008, die eigentlich keine Rede an die Bevölkerung war, sondern die Rede eines schwarz-gelben Präsidenten, der um die Anhänger des Agenda-Kurses bei Rot und Grün warb.

EU-Richtlinie über die Arbeitszeit – Entsetzen in Spanien

Der deutsche Ressortchef Olaf Scholz (SPD) wurde in der FR, zitiert: “Das sind wichtige Bausteine eines sozialen Europas. Sie sorgen dafür, dass Wettbewerb nicht auf dem Rücken der Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer ausgetragen wird.” In Spanien wird das völlig anders gesehen. Es waren Großbritannien und Deutschland, diejenigen Länder, die in den letzten Jahren nach der für sie ungünstigen Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofes über Ruhezeiten und Bereitschaftsdienste eine Novellierung der Arbeitszeitregelung vorantrieben haben. Ihre Erfolgsaussichten verbesserten sich schlagartig, als in Frankreich und in Italien die Rechte die Regierung übernahmen. Spanien hatte bis dato mit Hilfe der Regierung Prodis und Chiracs die jetzig eingetretene Novellierung verhindern können. Die Berichterstattung in Spanien ist dementsprechend anders als in Deutschland. Bereits am 9.06.08, also vor Übereinkunft der Arbeitsminister, berichtete die spanische Presse hierüber und über die Ablehnung der spanischen Regierung des deutschen und britischen Standpunktes. Entsprechend bestürzt reagierte die Öffentlichkeit in Spanien nach der Übereinkunft. Widerstand im Europäischen Parlament, über die IAO, aber auch über Streiks ist angekündigt. Unser Leser Ulrich Fischbach hat für uns zwei Beiträge aus der spanischen Zeitung El Pais übersetzt.

Mindestlohn in Deutschland notwendig – Kein Gegensatz zwischen sozialer Gerechtigkeit und Beschäftigung

Niedriglohnbeschäftigung ist in Deutschland in den letzten Jahren durch die Erosion des Tarifsystems stark gewachsen. Gleichzeitig hat sich die Struktur des Niedriglohnsektors geändert. Er ist an den Rand des Arbeitsmarktes gewandert, die Aufstiegschancen haben sich vermindert. Im Vergleich zu Ländern mit Mindestlöhnen ist die Lohndifferenzierung nach unten sehr hoch. Sie kann durch einen Mindestlohn ohne Beschäftigungsverluste korrigiert werden. Die ökonomische Theorie sieht Gestaltungsspielräume für Mindestlöhne durch Produktivitätssteigerungen oder bei Nachfragemacht der Unternehmen (Monopson, Oligopson). Empirische Untersuchungen zu Mindestlöhnen zeigen, dass die Beschäftigung von Erwachsenen nicht beeinträchtigt wird und geringe Risken bei Jugendlichen bestehen. Durch eine schrittweise Einführung wie in Großbritannien mit begleitender Evaluation kann man die Risiken auch in Deutschland beherrschen. Es kommt nicht nur auf das „Ob“, sondern auch auf das „Wie“ von Mindestlöhnen an. Mindestlöhne sind ein notwendiges Korrektiv auf Arbeitsmärkten mit ungleicher Machtverteilung, wie sie sich in Deutschland herausgebildet
haben. Gerhard Bosch, Präsident des Instituts Arbeit und Qualifikation (IAQ) an der Universität Duisburg-Essen, hat uns diesen Beitrag zur Verfügung gestellt.

Wer sich bei seiner Urteilsbildung auf eines unserer Leitmedien verlässt, sollte stattdessen besser Achterbahnfahren.

Die Propaganda und Meinungsbildung zum Thema Verlagerung von Arbeitsplätzen ist ein Musterbeispiel dafür, wie sehr die Meinungsbildung bei uns von modischen Trends geprägt ist und im übrigen von manchen Journalisten als eine Art von Sport betrieben wird. Allerdings mit einem erkennbaren Ziel: Druck auf Löhne und Lohnnebenkosten auszuüben.

Aus eigener Erfahrung weiß ich, dass viele Bürgerinnen und Bürger gar nicht anders können, als die Achterbahnfahrt der Meinungsbildung in manchen Medien mitzumachen. Das geht soweit, dass man vor ungefähr zwei Jahren auch in gut ausgebildeten Kreisen wirklich meinte, jetzt würden alle Arbeitsplätze nach draußen verlagert. Weil dort die Löhne niedriger sind. Diese Vorstellung, die Löhne seien allein entscheidend, hatte sich damals in den Köpfen festgesetzt. Deshalb die Panik.

Jetzt hat der „Spiegel“ mal wieder entdeckt, dass es mit der Job-Verlagerung doch nicht so schlimm ist und dass auch andere Standort-Faktoren eine Rolle spielen: Albrecht Müller.

Entscheidung des Europäischen Gerichtshofes – Dienstleistungsfreiheit steht über nationalen Arbeitnehmerrechten

Am 3. April hat der Europäische Gerichtshof (EuGH) in Luxemburg entschieden, dass ein Bundesland bei der Vergabe von öffentlichen Aufträgen keine Tariflöhne vorschreiben kann. Dieses Urteil ist von elementarer Bedeutung, da den im EGV (Vertrag zur Gründung der Europäischen Gemeinschaft) festgelegten wirtschaftlichen Grundfreiheiten eine höhere Priorität eingeräumt wird als den arbeitsrechtlichen Koalitionsfreiheiten gemäß Art. 9 Abs. 3 des Grundgesetzes. Das Urteil zeigt, dass die wirtschaftlichen Grundfreiheiten zugunsten von Unternehmerfreiheiten wirken und die Arbeitnehmer den Bedingungen des Wettbewerbs weitgehend schutzlos ausliefern. Von Christine Wicht

Verteilungsbericht des DGB für das Jahr 2008. Wir zitieren das Wichtigste in Kürze

Trotz des Konjunkturaufschwungs der Jahre 2006 und 2007 sind nicht nur nach den im vergangenen Jahr vorgelegten Zahlen aus amtlicher Statistik und Forschungsarbeiten unabhängiger Institute, sondern auch nach dem Empfinden der breiten Mehrheit der Bundesbürger die Unterschiede zwischen Arm und Reich eher größer geworden. Nur noch 15 Prozent der Bundesbürger sind laut einer repräsentativen Umfrage der Bertelsmann Stiftung davon überzeugt, dass die Einkommensverteilung in Deutschland „im Großen und Ganzen gerecht zugeht“. Weit mehr als 50 Prozent halten die Einkommensverteilung dagegen für ungerecht. Trotz des kräftigen Wirtschaftswachstums der vergangenen zwei Jahre haben sich die Stimmung in der Bevölkerung und die Zufriedenheit mit der Verteilung von Einkommen und Vermögen in Deutschland kontinuierlich verschlechtert. Dies steht in krassem Gegensatz zu Erfahrungen in vorherigen
Aufschwungsphasen, in denen die Mehrheit der Deutschen stets die Einschätzung vertrat, die Boomzeiten würden zu mehr Verteilungsgerechtigkeit beitragen. Wolfgang Lieb

Arm – aber frei? Zur sozialen Situation von Künstlerinnen und Künstlern

Es bedarf immer mal wieder eines Anschubs wie zuletzt des Abschlussberichts der Enquete-Kommission „Kultur für Deutschland“ des Deutschen Bundestages vom Dezember 2007, damit die soziale Situation von Kulturschaffenden in die öffentliche Wahrnehmung rückt und eine Misere deutlich wird: Die hochqualifizierten, meist jüngeren Menschen in den Kulturberufen verdienen jämmerlich wenig und gehören auch von ihrer sozialen Absicherung her dem sog. modernen Prekariat an. Von Petra und Joke Frerichs.

Ökonomisierung von Bildung und Privatisierung von Bildungspolitik – Pädagogische An- und Einsprüche

Die „Wissensgesellschaft“ ist heutzutage in aller Munde. Im Vergleich zu früheren Begriffen wie Industrie- oder Dienstleistungsgesellschaft soll der Begriff der Wissensgesellschaft eine strukturelle Verschiebung in Bezug auf die Wertigkeit von Ressourcen beschreiben: Nicht mehr Rohstoffe, Arbeit und Kapital stehen danach an erster Stelle, sondern Wissen. Die Aneignung, der Zugang, das Haben von und der Umgang mit Wissen soll eine immer größere Bedeutung erlangen. Diese Zeitdiagnose könnte bei Lehrern und Pädagogen Anlass zur Freude sein, könnte mit dem Bedeutungszuwachs von Wissen doch auch das Verstehen, das Begreifen und das Erkennen zum Thema werden. Doch Wissen reduziert sich in der Wissensgesellschaft auf die Vermittlung von „Beschäftigungsfähigkeit“ und Selbstverantwortung im Kontext ökonomischer Sachzwänge. Der philosophische Hintergrund von Bildung durch Effektivitäts- und Effizienzinstrumente aus der Ökonomie abgelöst.
Die Übertragung privatwirtschaftlicher Regulative auf die Bildungseinrichtungen ebnet den Weg zur Ökonomisierung von Bildung.
Von Monika Witsch, Hochschullehrerin für Pädagogik an der Universität DuisburgEssen.

Karlsruhe: Der Dienstherr als Herr der Beamten

Die Verlängerung der Arbeitszeit begegnet keinen verfassungsrechtlichen
Bedenken. Mit diesem lapidaren Beschluss hat die 1. Kammer des Zweiten Senats des Bundesverfassungsgerichts eine Verfassungsbeschwerde eines bayerischen Beamten gegen die seit dem 1. September 2004 geltende Anhebung der regelmäßigen wöchentlichen Arbeitszeit für Beamte von 40 auf 42 Stunden nicht zur Entscheidung angenommen.
Gerade zeitgerecht zu den Tarifauseinandersetzungen im Öffentlichen Dienst, wo die Arbeitgeber eine Verlängerung der Arbeitszeit verlangen, präsentiert das oberste Gericht eine Entscheidung, die auf jegliches Pro und Contra von Arbeitszeitverlängerungen verzichtet und geradezu obrigkeitsstaatliche Züge erkennen lässt. Wolfgang Lieb

BILD hetzt mal wieder gegen Arbeitslose: „85% der Arbeitslosen würden für Job nicht umziehen!“

„Die Hartz-Reformen haben nicht dazu geführt, dass Arbeitslose eher bereit sind, einen neuen Job anzunehmen! Im Gegenteil: Viele Arbeitslose sind mit den Hartz-IV-Leistungen zufrieden und würden auch keine Lohneinbußen in einem neuen Job in Kauf nehmen.“ So lautet ein „alarmierendes Ergebnis“ das in der Ausgabe vom 5.2.08 mit Kommentar von BILD auf Seite 2 gehoben wird.
BILD zieht dabei offenbar auf eine schon etwas länger zurückliegende Studie des IAB [pdf – 272KB] noch einmal hoch.
Dabei wurde nach der Konzessionsbereitschaft von Arbeitslosen gegenüber ihrer letzten Arbeit im Hinblick auf Lohneinbußen gefragt, in einer Grafik wurde u.a. dargestellt, ob Arbeitslose längere Arbeitszeiten, längere Anfahrtswegen gegenüber ihrer früheren Arbeit oder ggf. ein Umzug in Kauf nehmen würden.
Was BILD verschweigt ist der laut Studie dabei von den Arbeitslosen erwartete Lohn: dieser lag durchschnittlich bei knapp 6,80 Euro.
Wer würde aber für einen solchen Niedriglohnjob mit unsicherer Dauer einen teuren Umzug und den Verlust seiner sozialen Bezüge in Kauf nehmen?