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Titel: Deflatorische Lohnkürzungspolitik

Datum: 5. Juni 2009 um 13:32 Uhr
Rubrik: Arbeitsmarkt und Arbeitsmarktpolitik, Wirtschaftspolitik und Konjunktur
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Die Finanz- und Wirtschaftskrise wird von vielen Unternehmen dazu benutzt, Druck auf die Löhne auszuüben. Jetzt soll das zum Beispiel auch bei der Deutschen Bahn AG so laufen. Aus betriebswirtschaftlicher Sicht kann man das verstehen. Jedes Unternehmen versucht, seine Kosten zu drücken. Gesamtwirtschaftlich ist das in der jetzigen Situation Gift. Deflatorisches Gift sozusagen. Heiner Flassbeck hat vor kurzem in der Berliner Zeitung am Beispiel der Lohnsenkungen bei Daimler vorgerechnet und erläutert, was das für unsere gesamte Volkswirtschaft bedeutet und wie falsch diese Sparversuche sind. Siehe Anhang. Albrecht Müller.

Die Deutsche Bahn ist noch zu 100 % in den Händen des Bundes. Der Bund ist verantwortlich für die gesamtwirtschaftliche Entwicklung. Also wäre es logisch, die bundespolitisch Verantwortlichen würden wenigstens ihre Stimme gegen die sich ausbreitende deflatorische Lohnpolitik erheben. Es wäre auch ganz hilfreich, wenn sie die Gewerkschaften ermuntern würden, Widerstand zu leisten.

Anhang:

Heiner Flassbeck in der Berliner Zeitung
Daimler: Kein Vorbild für andere

So geht Krisenbewältigung im Betrieb: Daimler macht Verluste und kürzt die Arbeitszeit der Mitarbeiter, die nicht schon in Kurzarbeit sind, im Einvernehmen mit den Gewerkschaften um 10 % ohne Lohnausgleich und verzichtet im Gegenzug auf Kündigungen. Folglich sinkt die Lohnsumme der betroffenen 70 000 Arbeitnehmer um zehn Prozent, was bei einem durchschnittlichen Monatslohn von 4000 Euro (jährliche Lohnsumme 3,36 Mrd. Euro) eine Kostenreduktion für das Unternehmen von … 336 Millionen Euro ergibt. Immerhin, die erwarteten Verluste von Daimler können dadurch erheblich reduziert werden!

So geht Krisenbewältigung in der Volkswirtschaft: Die 336 Millionen, die Daimler spart, verringern bei unverändertem Sparverhalten der Daimler-Mitarbeiter die Nachfrage anderer Unternehmen genau um 336 Millionen. Deren zu erwartende Verluste steigen also genau in dem Masse, in dem sich die von Daimler erwarteten Verluste vermindern. Für die Volkswirtschaft als Ganzes bringt die Sparmassnahme eines Unternehmens folglich schon im ersten Zug keinerlei Verbesserung. Folgen nun aber die anderen Unternehmen wegen steigender erwarteter Verluste dem Daimler Beispiel und kürzen ebenfalls ihre Löhne, was dann?

Nehmen wir an, die Löhne der zehn Millionen (?) Beschäftigten aller Industriebetriebe in Deutschland werden im Laufe dieses Jahres im Einvernehmen mit den Gewerkschaften um zehn Prozent gesenkt, dann sinkt – wiederum bei unverändertem Sparverhalten der Arbeitnehmer – die gesamtwirtschaftliche Nachfrage zusätzlich um etwa 50 Milliarden (?), das sind zwei Prozent des Bruttoinlandsprodukts zusätzlich zu den sechs Prozent minus, die selbst die Regierung erwartet.

Was werden die Unternehmen tun, wenn sie merken, dass ihre Verlusterwartungen nicht aufgehen, weil die Nachfrage schwächer ist als erwartet? Noch einmal mit den Gewerkschaften verhandeln, um 20 Prozent Kürzung zu erreichen? Vielleicht werden sie auch versuchen, ihre Marktanteile bei sinkender Nachfrage dadurch zu halten, dass sie die Kostensenkung für Preissenkungen nutzen. Tut das nur ein Unternehmen, verschlechtert sich wiederum die Situation aller anderen. Tun es alle Unternehmen, sinken die Preise vielleicht so stark, dass die Arbeitnehmer ihren ursprünglichen Kaufkraftverlust wieder ausgleichen können, was hieße, dass sie real so viel in der Tasche haben wie vorher, obwohl sie weniger arbeiten. Eine Deflation wäre allerdings die Folge, die ihrerseits zu Kaufzurückhaltung führen könnte.

Müssen dann erneut die ausbezahlten Löhne sinken, um den vermeintlichen Kostennachteil für die Unternehmen wieder auszugleichen? Man sieht, wie man es auch dreht und wendet, gesamtwirtschaftlich ist Lohnsenkung ein Rohrkrepierer ersten Ranges. Eine Marktwirtschaft kann sich nicht auf diese Art und Weise, aber auch auf keine andere, selbst aus dem Sumpf ziehen. Die Kostensenkung des einen ist immer die Ertragssenkung eines anderen Unternehmens.

Hätte Daimler dagegen zehn Prozent der betroffenen Arbeitnehmer entlassen und würde der Staat diesen Personen einen großzügigen, sagen wir 80 %igen Lohnersatz für die Dauer der Krise aus am Kapitalmarkt zusätzlich aufgenommenen Mitteln leisten, wäre der Nachfrageausfall mit 70 Millionen Euro wesentlich geringer. Gesamtwirtschaftlich stünde in diesem Fall den Versuchen der deutschen Industrie durch Entlassungen ihren Kopf zu retten, nur ein Nachfrageverlust von 0,4 Prozent des Bruttoinlandsprodukts gegenüber und Deflation könnte vermutlich vermieden werden.

Man sieht, die Bewältigung der Krise verlangt das Durchbrechen der Spirale aus Nachfragerückgang und Kostensenkung, nicht deren Verstärkung. Diese Logik müssten auch Unternehmen verstehen, wenn sie von der Politik überzeugend dargelegt wird. Das scheint aber nicht der Fall zu sein, oder hat man etwa gehört, dass auf dem Gipfel der Kanzlerin mit Unternehmens- und Gewerkschaftsführern solch zentralen Fragen diskutiert worden sind?

Warum wird das nicht diskutiert, werden Sie fragen. Einfache Antwort: Weil auch unsere Politiker in der Regel nicht in gesamtwirtschaftlichen Dimensionen denken, sondern wie Unternehmer. Die Agenda 2010, die Reformen des Arbeitsmarktes, die Versuche zur Verbesserung des Standorts Deutschland, alles war unternehmerischem Handeln abgeschaut, ohne jede gesamtwirtschaftliche Perspektive. Solange die deutsche Wirtschaft im Sog der Weltwirtschaft vor sich hin driftete, war das hinnehmbar, in Gegenstrom der Krise ist das tödlich.


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