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Titel: 70 Prozent der Deutschen würden Köhler wählen. – Wie das?

Datum: 22. Mai 2009 um 16:10 Uhr
Rubrik: Agenda 2010, Bundespräsident, Das kritische Tagebuch, Neoliberalismus und Monetarismus
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Am 23. Mai 1949 wurde das Grundgesetz verkündet. Genau 60 Jahre später dürfte Horst Köhler zum zweiten Mal zum Bundespräsident gewählt werden. Die Wahl in der Bundesversammlung ist weitgehend Formsache, dort spiegeln sich die Mehrheiten im Bundestag und in den Länderparlamenten wieder und dort haben eben Schwarz-gelb zusammen mit den gleichfalls konservativen freien Wählervereinigungen eine knappe Mehrheit. Diese konservative Mehrheit ergibt sich daraus, dass die SPD seit der letzten Wahl zum Staatsoberhaupt eine Wahl nach der anderen verloren hat, zuletzt in Bayern und Hessen. Es reicht also nicht einmal mehr zu einer Mehrheit von Rot-rot-grün. Köhler profitiert also vor allem vom Niedergang der SPD.
Das ist aber nur die parteipolitische Seite der Präsidentenwahl.
Viel deprimierender ist allerdings, dass Köhler, wenn er direkt vom Volk gewählt würde noch eine viel deutlichere Mehrheit erhielte.
Wie ist es zu erklären, dass ein Hardliner des Weiter-so in der Bevölkerung eine derart unkritische Unterstützung und Sympathie erfährt? Wolfgang Lieb

Köhler steht mehr noch als es etwa die Kanzlerin und Parteivorsitzende der CDU auszusprechen wagt, für die Politik der neoliberalen Reformen, für die es nach allen bekannten Umfragen in der Bevölkerung keine mehrheitliche Zustimmung gibt.

  • 56 % der Befragten meinen, dass es in Deutschland eher ungerecht zugeht (Deutschlandtrend).
  • 57 % sind reformskeptisch (Polis/Sinus)
  • 58 Prozent halten die Hartz-Reformen alles in allem für nicht gut (ZDF-Politbarometer August 2007)
  • 78 Prozent sind für die Einführung eines gesetzlichen Mindestlohns für alle Branchen (ebd.)
  • Gleichfalls 78 Prozent sind gegen die Rente mit 67.
  • 73% glauben nicht daran, dass durch die Lockerung des Kündigungsschutzes und eine Ausweitung der Probezeit auf 24 Monate in ihrem Betrieb neue Arbeitsplätze geschaffen würden.

Zu vielen weiteren Reformen der Agenda 2010, etwa zur Rentenreform, zur Arbeitslosenversicherung etc., ist die Haltung der Bevölkerung gleichfalls mehrheitlich ablehnend.
Nach der gewiss reformfreudigen McKinsey Studie „Perspektive Deutschland“ (2006) hält die Hälfte der Teilnehmer die bisherigen „Reformen“ nicht für erfolgreich, und kaum jemand (15%) glaubt davon profitieren zu können.
Die große Mehrheit ist für den Sozialstaat und sozialen Ausgleich (Alle Quellen siehe “Armut gefährdet unsere Demokratie”).

Köhler war während seiner ersten Amtszeit kein überparteilicher Repräsentant des gesamten Volkes, sondern – und das als höchstes Staatsorgan – ein Parteigänger der neoliberalen „Reformer“. Als es noch zur Strategie dieser „Systemveränderer“ gehörte, Katastrophengemälde über unser Land an die Wand zu malen, um ihre sog. „Strukturreformen“ durchzusetzen, gehörte Köhler zu den Schwarzmalern. Man erinnere sich etwa nur an seine Begründung für die Auflösung des Bundestags vor vier Jahren. Er sprach damals von einer „ernsten Situation“, in der unser Land stünde, dass „unsere Zukunft und die unserer Kinder…auf dem Spiel“ stehe und er verwies auf eine „nie da gewesene kritische Lage“ der öffentlichen Haushalte (an der er nebenbei bemerkt als Finanzstaatsekretär durch die falsche Finanzierung der Einheit kräftig mitgewirkt hat). „Die Worte mit denen er seine Entscheidung begründete, ließen erkennen, dass er tatsächlich an die von Merkel und Westerwelle herbeigesehnte politische Kehrtwende glaubte. Das haben ihm viele politische Kommentatoren zu Recht angekreidet, widersprach es doch der präsidialen Unabhängigkeit. Aus heutiger Sicht erscheint die von ihm damals beschworene Krisensituation fast schon paradiesisch.“ So schreibt heute (21./22. Mai 2009) Sibylle Quenett im gewiss Köhler gewogenen Kölner Stadt-Anzeiger.

Der Kabarettist Georg Schramm hat damals in satirischer Zuspitzung einen Antrag auf Amtsenthebung von Bundespräsident Köhler wegen arglistiger Täuschung des deutschen Volkes vorgeschlagen.

Köhler dekliniert z.B. in seiner Rede vor dem Arbeitgeberforum in Berlin am 15. März 2005 den gesamten Kanon der Miesmacherei der Wirtschaftsverbände durch: „Auflagen“, „Regulierungen“, „Bürokratie“, „Tarifverträge“, „immer neue Wohltaten und Geschenke“, „hohe Abgaben“, „hohe Löhne“, „hohe Lohnnebenkosten“, „abschreckendes Steuersystem“ – „deshalb ist die Arbeitslosigkeit über Jahrzehnte immer weiter gestiegen“. Seine Lösungsvorschläge hätte auch einer der auf diesem Forum anwesenden Arbeitgeber aufsagen können, so einseitig und so orthodox wirtschaftsliberal waren seine Vorschläge.

Köhler repräsentierte mit seinen von ihm geradezu notorisch vertretenen wirtschaftspolitischen Positionen noch nicht einmal die Große Koalition von Union und SPD, nein, er war ein dezidiert schwarz-gelber Präsident. Köhler ist ein „abgeschnittener Präsident… Er ist die Hinterlassenschaft einer nicht zustande gekommenen schwarz-gelben Koalition“ schrieb Heribert Prantl in der Süddeutschen Zeitung.

So kritisierte Köhler etwa die marginale Verlängerung des Arbeitslosengeldes für Ältere durch die amtierende Bundesregierung als „offensichtlichen“ Paradigmenwechsel, der „die Beschäftigungsschwelle des Wachstums wieder“ anhebe. Hinter dieser in ökonomischer Phraseologie verpackten Aussage steckt das Menschenbild, dass man auf die (angeblich faulen und lieber Freizeit statt Arbeit wählenden) Arbeitslosen nur ausreichend existenziellen ökonomischen Druck ausüben müsse, damit sie Arbeit zu jedem angebotenen Preis und unter allen Bedingungen annehmen. Kurz: Alle, die längere Zeit arbeitslos sind, muss man durch massiven Druck zu Arbeit zwingen: Wer nicht arbeitet, soll auch nicht essen. „Vorfahrt für Arbeit“ (eine von Köhlers Lieblingsphrasen) um jeden Preis!

Er bemühte sich als Staatsoberhaupt nicht einmal, eine Brücke zwischen der mehrheitlich skeptischen bis ablehnenden Haltung der Bevölkerung gegenüber der Agenda 2010 und der Politik der Regierenden zu bauen. Im Gegenteil er verweigerte jede kritische Bestandsaufnahme der sog. „Reformpolitik“ und mahnte bei jeder Gelegenheit etwa mit seiner „Agenda 2020“ eine Erhöhung der Reformdosis an. Er forderte stets noch mehr Wettbewerb, noch offenere Märkte und mehr Freiheit und Selbstverantwortung. Er wandte sich ständig gegen „immer neue Eingriffe“ des Staates [PDF – 40 KB] und propagierte den „schlanken Staat“, der sich auf seine Kernaufgaben besinnen solle.

Köhler hängt dem schlichten Bild vom Arbeitsmarkt als einem Kartoffelmarkt an. Motto: Preis (Lohn) runter, Angebot (Arbeit) auf dem Markt (Arbeitsmarkt) geräumt! So das schlichte gedankliche Konstrukt. Dieser „Preismechanismus“ trifft jedoch noch nicht einmal für den „Gütermarkt“ zu, denn auch dieser besteht aus einer riesigen Vielzahl von Märkten mit ganz unterschiedlichen Produkten, vom Brötchen bis zum Rolls Royce. Noch weniger passt dieses gedankliche Konstrukt für den Arbeitsmarkt, wo ja auch ganz unterschiedliche Fähigkeiten nachgefragt werden.

Diese eindimensionale Denklogik finden wir auch bei Köhlers Argumentation gegen den Mindestlohn: „Ein Mindestlohn, der von den Arbeitgebern im Wettbewerb nicht bezahlt werden kann, vernichtet Arbeitsplätze“. Da ist Köhler ganz auf der Seite der radikalsten Verfechter des Preisfetischs auf dem Arbeitsmarkt.

Köhler feierte die Rente mit 67 als Großtat der Bundesregierung: „Die Große Koalition hat vor allem mit der Föderalismusreform und der Rente mit 67 Handlungsfähigkeit bewiesen. Damit knüpft sie an die historisch wichtige Kurskorrektur der früheren Bundesregierung an, die unter dem Titel Agenda 2010 stand. „Ich halte diese Linie für richtig.“

Köhler prangerte ständig die „gigantische Staatsverschuldung“ an, ohne auch nur anzudeuten, welche Rolle er als früherer Staatssekretär im Bundesfinanzministerium bei der Währungsunion und bei der deutschen Vereinigung für den rapiden Anstieg der Staatsschuld gespielt hat. Köhler ist nicht nur maßgeblich mitverantwortlich für die hohe Verschuldung, er lenkte auch stets sehr geschickt von dieser Verantwortung ab.

Köhler hat kein Klischee der neoliberalen ökonomischen Lehre ausgelassen. Geradezu eine Provokation für die große Mehrheit der Bevölkerung war die „Lehre“, die „wir alle“ aus der derzeitigen Krise ziehen sollten: „Wir haben alle über unsere Verhältnisse gelebt“, verkündete er im März dieses Jahres in seiner Vierten Berliner Rede. Da haben also Banker mit kriminellen Mitteln Billionen verzockt und eingesackt, und jetzt sollen „wir alle“ der „tiefere Grund“ für die Krise gewesen sein. War es vor der Krise die Wettbewerbsfähigkeit, so ist es nun die Krise, mit der Köhler begründet, warum die Bevölkerung den Gürtel enger schnallen soll.

Und dennoch würden ihn laut einer Emnid-Umfrage für Bild am Sonntag (17.Mai 2009) bei einer Direktwahl 70 Prozent der Deutschen wieder zum Bundespräsidenten wählen.

Haben diese Menschen eigentlich Köhler nie zugehört? Haben sie nicht verstanden, was er ihnen einredete? Hat es ihnen nie jemand gesagt?

Die Antwort ist ziemlich einfach. Dazu braucht man nur einmal zu googeln.
Zur Zeit als ich diesen Beitrag schrieb bot Google News 544 Beiträge zur Bundespräsidentenwahl an:

„Horst Köhler ist ein sehr guter und beliebter Bundespräsident. Seine Herausforderin Gesine Schwan hat nicht viel mehr anzubieten als Selbstdarstellung und populistische Botschaften“, schreibt die Financial Times Deutschland.

„Der Quereinsteiger war bislang, auch wenn er sich durchaus noch steigern dürfte, kein schlechter Präsident“, schreibt die Süddeutsche Zeitung.

„Köhler wirkt einfach herrlich unverkrampft, ohne Allüren und sehr normal“, liest man in der Kölnischen Rundschau.

Und so weiter und so fort. Sie können alle Links anklicken, bei nahezu allen Medien schneidet Köhler positiv ab. Und kaum irgendwo finden sich Stimmen, die Gesine Schwan favorisieren – und ganz und gar abgemeldet ist Peter Sodann. An diesem Bild in den Medien hat im Übrigen die SPD mit ihrer Distanz zu Schwan, ja sogar mit ihren offenen Absetzbewegungen (Egon Bahr, Hilsberg, Matschie) kräftig mit gezeichnet.

Wenn man die Berichterstattung über die Bundespräsidentenwahl verfolgt, so könnte man den Eindruck gewinnen, als ginge es hier nicht um eine politische Wahl, sondern um einen Wettbewerb, wer nun der sympathischere Mensch ist. Der Vergleich mit einer Casting-Show à la „Deutschland sucht den Super-Präsidenten“ ist nicht daneben gegriffen. In kaum einem Beitrag, wird auf die Inhalte der Reden von Köhler eingegangen, die ja jedem Journalisten nachlesbar wären. Wenn überhaupt Kritik an Köhler geübt wird, dann an Äußerlichkeiten seines Redestils oder an seinem Auftreten. Politik interessiert offenbar nicht. Köhler ist „putzig“ schrieb die taz. Es herrscht der Boulevard-Journalismus.

Angesichts dieser oberflächlichen Berichterstattung und angesichts dieser Meinungsmache für Köhler, braucht man sich über die Umfragewerte zugunsten des bisherigen Bundespräsidenten nicht zu wundern.

Fazit: Der künftige Bundespräsident ist das Produkt einer schwarz-gelben Mehrheit aus Bundestag und Länderparlamenten. Seine Popularität ist das Ergebnis der dominierenden Meinungsmacht der überwiegend konservativen oder der sog. „bürgerlichen“ Medien.
Solange diese Meinungs-Phalanx nicht durchbrochen wird, gibt es in Deutschland nur wenig Chancen für einen Politikwechsel.
Die Medienkampagne vor der Wahl zum Bundespräsidenten gibt dabei nur den Vorgeschmack für das, was bei der Bundestagswahl auf uns zukommen wird.


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