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Titel: Rentner-Mobbing wegen 0,64 Prozent – „Generationenkrieg“ statt „Klassenkampf“

Datum: 14. April 2008 um 9:25 Uhr
Rubrik: Generationenkonflikt, Kampagnen/Tarnworte/Neusprech, Rente
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Ab 1. Juli 2008 sollen die Renten um 1,1 Prozent steigen. Nach der derzeit geltenden Rentenformel wären sie nur um 0,46 Prozent gestiegen. Mit diesem lächerlichen Anstieg wagte die Bundesregierung jedoch nicht vor die Rentner zu treten, deshalb hat sie den „Altersvorsorgeanteil“ (also den sog. Riesterfaktor) für zwei Jahre ausgesetzt und auf die Jahre 2012/2013 verschoben, was die Renten zusätzlich um 0,64 Prozent auf 1,1 Prozent erhöht. Mit der vorübergehenden Aussetzung des Riesterfaktors wird von den Gegnern dieser Rentenerhöhung ein Generationenkonflikt inszeniert. Das regelrechte Rentner-Mobbing lenkt von zwei viel entscheidenderen Problemen ab. Diese sind

  1. die aktuelle Einkommensverteilung, die sich im geringen Anstieg der Löhne und Gehälter im vergangenen Jahr um nur 1,4 Prozent auswirkt,
  2. und

  3. die Umdeutung der Debatte um mehr Verteilungsgerechtigkeit in der heutigen Gesellschaft zu einem Konflikt zwischen Jung und Alt: Statt „Klassenkampf“ nun also „Generationenkrieg“.

Wolfgang Lieb

„Die Alten übernehmen die Macht“ titelte Bild am 10.4.08, und in der Ausgabe vom 11.4.08 lautet die Schlagzeile: „Alt-Bundespräsident warnt vor Rentner-Demokratie“ (die auch gleichlautend in Springers „Die Welt“ erschien). Auslöser dieses Alten- und Rentner-Mobbings ist das Hinausschieben der Rentenkürzung durch den sog. Riesterfaktor um zwei Jahre. Gemessen an den 60 Rentenanpassungen der zurückliegenden 30 Jahre (siehe dazu den heutigen Beitrag) eine wahrlich marginale Veränderung.

Worüber in der veröffentlichten Meinung nicht geredet wird, ist die Tatsache, dass die nach der bisherigen Gesetzeslage geringe Rentenerhöhung von 0,46 Prozent vor allem auf zwei Dinge zurückzuführen ist, die in auffälligem Widerspruch zum allgemeinen Aufschwunggerede stehen:

  • Der Aufschwung ist nicht bei den Lohn- und Gehaltseinkommen angekommen. Die Löhne sind – jedenfalls was ihren Eingang in die Rentenformel anbetrifft – nur um 1,4 Prozent gestiegen. Da aber der Anstieg der Renten eben von der Erhöhung der Bruttolöhne abhängig ist, ergab sich nach der seit 2002 gültigen Rentenformel nur eine Rentenerhöhung von 0,46 Prozent.
  • Dieser geringe Lohn- und Gehaltsanstieg wurde im Hinblick auf die Rente zusätzlich geschmälert, weil der von Walter Riester eingeführte „Altersvorsorgeanteil“ (also der sog. „Riesterfaktor“) die Rentenanpassung an die Bruttolöhne mindert.

Diesen recht komplizierten Sachverhalt will ich nochmals zu erklären versuchen:

Der „Altersvorsorgeanteil“ wird ab 2002 fiktiv vom Bruttolohn der Arbeitnehmer abgezogen, weil man damit den Einstieg in die private Riester-Rente fördern wollte. Dieser „Altersvorsorgeanteil“ wurde erstmals 2002 mit 0,5 % vom Bruttolohn angesetzt, und er sollte kontinuierlich im Laufe der folgenden Jahre auf insgesamt 4% vom Brutto ansteigen (also auf den Betrag, den die Arbeitnehmer von ihrem Bruttolohn mindestens einsetzen müssen, um eine Riester-Rente abschließen zu können).

Der „Altersvorsorgeanteil“ wird also sozusagen vorab und fiktiv von den Bruttolöhnen und Gehältern abgezogen. Um diesen Anteil wird die Lohnhöhe geschmälert, an die die Beiträge für die gesetzliche Rente anknüpfen. Vereinfacht gesagt, der Riesterfaktor mindert die Anpassung der Renten an die Lohnsteigerungen.

Die Aussetzung dieses im Jahre 2002 willkürlich eingeführten Riesterfaktors für zwei Jahre soll also nun ein Beweis für die Übernahme der Macht der Alten und für den Übergang in die „Rentner-Demokratie“ sein?

Um den Konflikt zwischen den Generationen richtig anzufachen, arbeitet Bild mal wieder mit falschen Horrorzahlen: „Der größte Posten im Bundeshaushalt – 100 Milliarden Euro – geht in diesem Jahr für die Alterssicherung drauf“, ist dort zu lesen.

Nach offiziellen Angaben des Bundesministeriums für Arbeit und Soziales fließen 2008 aber nur 78,5 Milliarden Euro an Zuschüssen aus dem Bundeshaushalt in die Rentenversicherung. Das ist zweifellos auch noch ein sehr hoher Betrag. Der ganz überwiegende Teil dieser staatlichen Zuschüsse dient jedoch nicht etwa dazu, Rentenkürzungen bzw. Beitragserhöhungen zu vermeiden, sondern zur Finanzierung so genannter „versicherungsfremder Leistungen“. Also von Leistungen, die die Rentenversicherung laut Sozialgesetz finanzieren muss, denen aber keine Beitragszahlungen seitens derjenigen Versicherten, die in den Genuss dieser Leistungen kommen, zugrunde liegen.

Dazu zählen etwa Leistungen für Kindererziehungszeiten (11,715 Mrd. €) oder für die Rentenanteile aus Anrechnungszeiten und Ersatzzeiten (z.B. für Wehr- und Kriegsdienst), vereinigungsbedingte Leistungen, Leistungen an Aussiedler, Kriegsfolgelasten, arbeitsmarktbedingte Leistungen, Höherbewertung von Beitragszeiten oder Familienleistungen.

Wer nur auf die Höhe der staatlichen Zuschüsse schielt, unterschlägt weiterhin, dass mit den Rentenversicherungsbeiträgen auch solche Leistungen bezahlt werden, die eigentlich aus Steuermitteln finanziert werden müssten, also z.B. alle Risiken von Rehabilitationsmaßnahmen, Rentenleistungen bei Erwerbsminderung oder bei Erreichen einer bestimmten Altersgrenze sowie ggf. Rentenzahlungen an Hinterbliebene.

In der Vergangenheit wurde eine ganze Reihe von gesamtgesellschaftlichen Aufgaben der Solidargemeinschaft der Gesetzlichen Rentenversicherung übertragen, die richtigerweise aus den allgemeinen Steuermitteln bezuschusst werden. Damit wurde übrigens die Ökosteuer gerechtfertigt, und auch aus der Erhöhung der Mehrwertsteuer sollte ein Prozent für diese Zuschüsse abgezweigt werden.
Die Prozentanteile der Bundeszuschüsse an den Ausgaben der gesetzlichen Rentenversicherung lagen Anfang der 60er Jahre bei 25 Prozent. Anfang der 70er Jahre sanken sie auf Grund eines günstigen Konjunkturverlaufs und hoher Beschäftigung auf etwa 13 Prozent. Infolge der Vereinigungsmodalitäten und der stagnierenden Wirtschaft mit steigender Arbeitslosigkeit in den 90er Jahren sind sie wieder auf über 25 Prozent angestiegen.

Siehe die Entwicklung der Bundeszuschüsse:

Bundeszuschüsse
Quelle: Bundeszentrale für politische Bildung

Der Prozentanteil der Zuschüsse liegt also etwa so hoch wie 1963. Der Anstieg seit den 90er Jahren hat nichts, aber auch gar nichts mit der Alterung der Gesellschaft, sondern mit den einigungsbedingten Sonderlasten, mit der Arbeitslosigkeit und mit den stagnierenden Beiträgen aufgrund der stagnierenden Löhne zu tun.

Dieser Exkurs auf die Entwicklung der Bundeszuschüsse sollte nur verdeutlichen, wie in der gegenwärtigen Debatte mit Fakten manipuliert wird, um gesellschaftliche Gruppen – diesmal Jung gegen Alt – gegeneinander aufzuhetzen.

Dieses „Rentner-Mobbing“ ist ein geradezu grandioses Ablenkungsmanöver:

Da findet nur etwa die Hälfte aller Schulabgänger einen Ausbildungsplatz, da stehen immer mehr Studierwillige vor dem numerus clausus an unseren Universitäten, da werden immer mehr Erwerbswillige in Niedriglohnberufe oder in Leiharbeit abgedrängt, da findet immer mehr Umverteilung von unten und von der Mitte nach oben statt (siehe den Verteilungsbericht des DGB), da findet eine zunehmende ökonomische und soziale Spaltung der Gesellschaft statt – aber von allen diesen zunehmenden Ungerechtigkeiten ist nicht die Rede, stattdessen wird zum Kampf gegen die Alten aufgerufen.

Schlimm ist, dass z.B. die Aussagen von Herzog (der als einziger Bundesbediensteter bis zu seinem Lebensende die ungekürzten Bezüge eine Bundespräsidenten als Versorgung genießen kann) überwiegend kritiklos in zahllosen Medien nachgeplappert werden. Geben Sie nur mal bei Google „Herzog“ in die „News-Suche“ ein. Man erschrickt.
Und das alles, weil die Rente nach jahrelangen faktischen Kürzungen außerplanmäßig um genau 0,64 Prozent angehoben werden soll.

Der Generationenkonflikt wird jedoch nicht nur von einigen reaktionären Medien und Lobbyisten geschürt, sondern indirekt auch ganz offiziell von der Regierung selbst. Dazu muss man nur einmal auf der Internetseite des Bundesfinanzministers die Umfrage zum Bundeshaushalt 2009 lesen:

„Es ist ungerecht gegenüber nachkommenden Generationen, wenn wir ihnen eine immer größere Schuldenlast aufbürden.“ Oder: „Selbst wenn die Schulden weiter wachsen, sollte der Staat zu Lasten künftiger Generationen neue Schulden machen, um kurzfristig die Ausgabenwünsche zu finanzieren?“

Der Finanzminister bedient sich dabei eines zwar gängigen, aber völlig irreführenden Vergleichs:

Den Staatsschulden stehen zu jedem Zeitpunkt Forderungen und Zinseinnahmen derjenigen gegenüber, die dem Staat das Geld geliehen haben. Es werden also auch künftig nicht die nachkommenden „Generationen“ belastet, sondern eine künftige Gruppe von Bürgern zugunsten einer anderen, die im Besitz der Staatsobligationen ist. Da Kredite an den Staat typischerweise von den Wohlhabenderen gegeben werden können, empfangen diese also auch wieder die Auszahlungen, und zwar völlig egal ob sie jung oder alt sind.

Mit der ausschließlichen Bezugnahme auf die „Generationengerechtigkeit“ werden somit soziale Ungleichheitsstrukturen innerhalb der Bevölkerung, die aktuell und über die Generationen hinweg bestehen, ausgeblendet und diese soziale Ungleichheit in einen Generationenkonflikt umgedeutet. Es wird also von einer Armuts-Reichtumsdebatte abgelenkt und stattdessen ein Krieg zwischen alt und jung beschworen.

Das eigentlich „Ungerechte“ gegenüber der jüngeren Generation ist, dass den Jungen – und zwar durch die Rentenpolitik der letzten Jahre – einerseits sowohl die Bürde aufgeladen wird, über das Umlageverfahren die Älteren zu versorgen, als auch noch zusätzlich privat einen Kapitalstock für ihre eigene Altersvorsorge aufzubauen. Von dieser zusätzlichen Belastung der jungen Generation für die Privatvorsorge soll aber nun gerade abgelenkt und der Unmut auf das Umlagesystem der gesetzlichen Rente gelenkt werden. Kurz: Der Unmut über die Mehrbelastung durch die Privatvorsorge soll auf die Rentner gelenkt werden, die gar nicht privat vorsorgen konnten. Und das auch nicht brauchten, weil sie in ihrem Erwerbsleben nie damit rechnen mussten, dass die gesetzliche Rente derart ruiniert würde.

Dieser Vertrauensbruch gegenüber den Älteren wird nun zu einer Frage der Generationengerechtigkeit umgedeutet. Damit wird aber nur aus einem aktuellen, verteilungspolitischen Problem ein Konflikt zwischen Jung und Alt konstruiert und geschürt.

Zur Kritik an Herzogs Warnung vor einer „Rentner-Demokratie“ siehe auch

Außerdem:

“Versichert euch gefälligst selbst”, lautet die subtile Botschaft – Roman Herzogs neuester Hau
Wie alle Politiker und Journalisten, die den Kampf der Generationen in der Rentenfrage beschwören, kommt auch Herzog ohne jede Empirie aus. Seine Warnung vor der den gesamten Parteienstaat beherrschenden Rentnerfront ist ein reines Wahngebilde. Die Rentner als ökonomische Pressure-Group sind schlechthin nicht existent. In einer Untersuchung des Max-Planck-Instituts für Gesellschaftsforschung kommt Achim Goerres zu dem Ergebnis, dass die These von Rentnern als Ausbremsern einer möglichen weiteren “Reform” des Wohlfahrtsstaates keine Faktengrundlage hat. Wie es sich bei der Annahme einer konservativ-besitzstandswahrenden Grundhaltung der Rentner um einen Mythos handelt. Wenn überhaupt, dann spiegelten die politischen Haltungen der Alten die prägenden Einflüsse ihrer Jugend wieder. Bei der letzten Rentnergeneration war das die Adenauer-Zeit, bei der nächsten werden es die Zeiten der Studentenrevolte und der sozialliberalen Koalition sein. Kein Wunder, dass Roman Herzog angesichts dieser Perspektive statt in muntere “Hau ruck”- jetzt in die “Wehe”-Rufe der Kassandra ausbricht.
Um Roman Herzogs Altersbezüge brauchen wir uns nicht zu sorgen, wohl aber um den Lebensstandard der Rentner, die in den letzten Jahren eine empfindliche Kürzung ihrer Renten hinnehmen mussten. Statt der Rede vom Generationenkrieg wäre ein Blick auf die negative Einkommensentwicklung sowohl bei Rentnern als auch bei Lohnabhängigen angebracht.
Quelle: TAZ

Apropos „Rentner-Demokratie“:
Die Rentenerhöhung wird von 74 Prozent der Bundesbürger begrüßt. Lediglich 17 Prozent lehnen sie als ungerechtfertigt ab, weil die Erhöhung auf Kosten der Jüngeren gehe. Dies ergab eine Emnid-Umfrage für den Nachrichtensender N24.
Anscheinend haben die Rentner schon eine Dreiviertel-Mehrheit hinter sich!


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