Jeder Fünfte würde Sarrazin wählen

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So oder so ähnlich lauten heute hunderte von Zeitungsüberschriften. Angestoßen wurde dieser „Sarrazin-Alarm“ von Bild am Sonntag. Dahinter steckt ein perfides Doppelspiel der Springer-Presse: Es ist der Versuch einen Rechtsschwenk in der deutschen Politik herbeizuführen, indem man die Parteien vor einer Gefahr von Rechts warnt, wenn Union und SPD als sog. Volksparteien sich nicht der von der Bild-Zeitung selbst mit angefachten Stimmungslage der Bevölkerung anpassen sollten. Und die meisten Medien fallen auf diesen billigen Trick rechtskonservativer politischer Meinungsmache herein. Wolfgang Lieb

Parteien sollen sich der angefachten Stimmungslage anpassen

Unter der Überschrift „Wie groß wäre eine Partei der Unzufriedenen?“ veröffentlichte Bild am Sonntag gestern eine bei Emnid in Auftrag gegebene Umfrage, die Schlagzeilen macht. Danach könnten sich 18 Prozent der Befragten vorstellen, eine Partei zu wählen, deren Vorsitzender Thilo Sarrazin heißt. Eine Partei unter dem Vorsitz von Friedrich Merz hätte sogar bei 20 Prozent Sympathien und eine Gauck-Partei würde sogar ein Viertel der Befragten wählen. Im Kommentar zu dieser Meldung wird aus diesem Umfrageergebnis scheinheilig der Schluss gezogen, das sei eine „kräftige Mahnung an die Noch-gerade-so-Volksparteien Union und SPD, sich der Sorgen und Nöte des Volkes anzunehmen“.

Mit diesem „Sarrazin-Alarm“ wird jedoch nicht mehr und nicht weniger als ein perfides Doppelspiel inszeniert: Es ist der Versuch, einen Rechtsschwenk in der Politik herbeizuführen, indem man die Parteien vor einer Gefahr von Rechts warnt, wenn sie sich nicht der von der Bild-Zeitung selbst mit angefachten Stimmungslage der Bevölkerung anpassen sollten.

Da trifft es sich gut, dass nicht nur 59% der CDU/CSU-Wähler Ja zu den Sarrazin-Behauptungen sagen, sondern auch 54% der FDP-Anhänger, 50% der SPD-Wähler und sogar 55% der Sympathisanten der LINKEN. Eine massive Aufforderung an alle Parteien (am wenigsten an die Grünen, wo verhältnismäßig wenige Anhänger (24%) die Sarrazin-Äußerungen unterstützen), sich solchen Positionen, wie sie Sarrazin vertritt, anzunähern.

Diese Aufforderung ist besonders widersprüchlich, als gerade die Springer-Zeitungen, die Politik bei zentralen Themen, wie etwa jüngst bei der Rente mit 67, beim Afghanistan-Militäreinsatz, bei der Laufzeit von Atomkraftwerken oder bei der Sicherung des Sozialstaats stets davor warnt, der Meinung der überwiegenden Mehrheit zu folgen.

Die Bild-Zeitung hat Sarrazins Hetze erst zum öffentlichen Thema gemacht

Dieses Doppelspiel hat damit begonnen, dass die gleichfalls im Springer-Verlag erscheinende Bild-Zeitung zunächst in einer mehrtägigen Kampagne einem Millionenpublikum mit dicken Balkenüberschriften die von Sarrazin verbreiteten Ängste vor eine Überfremdung in Deutschland verbreitete. Dieses Blatt hat die Wut ihrer überwiegend weniger Wohlhabenden Leser erst so richtig auf schmarotzende Ausländer und vor allem auf kulturell und genetisch angeblich minderwertige Einwanderer aus islamischen Ländern gelenkt. Erst nachdem sich Sarrazin zum „Juden-Gen“ ausgelassen hat, hat man sich wohl im Springer-Verlag an die Unternehmensgrundsätze erinnert. „Das Herbeiführen einer Aussöhnung zwischen Juden und Deutschen“ gehört eben auch für die Bild-Journalisten zur vertraglichen Verpflichtung. Man sah sich also im Hause Springer gezwungen, sich von der Person Sarrazin abzusetzen, aber das gängige Muster der Bild-Zeitung in krisenhaften Zeiten den Zorn der Verlierer auf diejenigen zu lenken, denen es noch schlechter geht und den Hass auf Minderheiten zu schüren, die sich nicht wehren können, wurde natürlich beibehalten.

Das Doppelspiel funktioniert

Zum Doppelspiel gehört also, zunächst einmal in der Bevölkerung ein vergiftetes Klima zu schaffen, in dem man latent vorhandene Aggressionen gegen Minderheiten und Randgruppen anheizt und dann von der Politik und den Parteien zu verlangen, dem geschürten Volkszorn nachzugeben, und die zu Schuldigen abgestempelten, wie auch immer zu sanktionieren.

Dass dieses Doppelspiel funktioniert, konnte man gleichfalls gestern in Bild am Sonntag im Interview mit der Bundeskanzlerin bestätigt finden: „Es gibt Sanktionen und die müssen greifen“ oder „Strenge ist wichtig“, sagte Angela Merkel ganz im Sinne konservativer und rechtslastiger Integrationskonzepte. Und auch in der SPD schwenkt der rechte Flügel auf Sarrazins sozialdarwinistische Thesen ein.

Die Schuld wird auf diejenigen verlagert, die in den Problemen stecken

Kennzeichnend für deren autoritären Lösungskonzepte für real vorhandene Probleme ist, dass nicht nach den Ursachen und schon gar nicht nach den eigenen Fehlern beim Zulassen oder gar bei der Herbeiführung dieser Probleme gefragt wird, sondern dass man die Schuld bei denen sucht, die in den Problemen stecken.

Das gleiche Denkmuster steckte übrigens etwa auch hinter den Hartz-„Reformen“: Galt Arbeitslosigkeit über lange Zeit eher als Schicksalsschlag eines darniederliegenden Arbeitsmarktes, so wurde mit den Hartz-„Reformen“ das Leitbild gewechselt.
Die neue Parole vom „Fördern“ und vor allem vom „Fordern“ implizierte den Vorwurf, es handle sich bei einer Entlassung und bei längerer Arbeitslosigkeit um ein persönliches Versagen und nicht um eine verfehlte Wirtschaftspolitik. Das Druckmittel des tiefen Falls in die Bedürftigkeit mit Hartz IV und die begleitenden Kampagnen gegen den sog. Missbrauch von Sozialleistungen, wobei sogar regierungsamtlich von „Schmarotzern“ oder „Parasiten“ [PDF – 183 KB] gesprochen wurde, machten Arbeitslose für ihr Schicksal „eigenverantwortlich“ und stempelte Langzeitarbeitslose zu Faulenzern und Drückebergern.

Schon zu dieser Propaganda gegen Hartz IV-Empfänger hatte die Bild-Zeitung ihren Teil beigetragen. Mit solchen Stigmatisierungen in Form von persönlichen Schuldzuweisungen werden ganz bewusst Keile in die Gesellschaft getrieben und die gesellschaftliche Spaltung als Mittel der Politik eingesetzt.

Es ist das altbekannte und in der Geschichte oft eingesetzte zynische Spiel der Oberklasse, die Aggressionen der Masse statt gegen die herrschende Politik und gegen die Ausbeuter selbst zu lenken, den Hass auf die in der sozialen Hierarchie noch weiter unten Stehenden abzuleiten. Es ist das alte Spiel des Anheizens des Klassenkampfes im Armenhaus.
Damit kann man von dem unsozialen „Sparpaket“ und auch bestens von den Schmarotzern auf den Finanzmärkten ablenken, deren soziale Integration schon längst abhanden gekommen ist.

Dass Sarrazins Rechtspopulismus auf fruchtbaren Boden fallen, ist nicht erstaunlich

Dass laut einer anderen Emnid-Umfrage im Auftrag des Focus (auch ein Blatt, das sich als Vorkämpfer für eine konservative Wende versteht) 62 Prozent der Bundesbürger die Äußerungen von Sarrazin über Migranten in Deutschland als „berechtigte Denkanstöße“ betrachten, kann – nach allem was man aus früheren Untersuchungen weiß – eigentlich nicht überraschen. Schon eine 2006 publizierte Studie „Vom Rand zur Mitte“ und eine Erhebung aus dem Jahre 2008 mit dem Titel „Bewegung in der Mitte, Rechtsextreme Einstellungen in Deutschland“ [PDF – 656 KB], machten deutlich, dass bis wie weit in die Mitte der Gesellschaft hinein rechtsextreme Tendenzen verbreitet sind. So meinten schon lange vor Sarrazin etwa 15,4% der Deutschen, ein “Führer”, der Deutschland mit starker Hand regiert, wäre durchaus “zum Wohle aller“. Dass Ausländer nur hierher kämen, um den Sozialstaat auszunutzen, hielten 36,9% für eine zustimmungsfähige Aussage. Und gar 39,1% meinten, Deutschland sei “in einem gefährlichen Maß überfremdet”.

Die aktuellen Umfragen sind also nicht, wie der Medienwissenschaftler Norbert Bolz gestern Abend bei Anne Will meinte, ein „Geschichtszeichen“, sondern die schon seit einigen Jahren zunehmenden Tendenzen zu rechtsextremen Lösungsmustern, brauchten von Sarrazin und seinen ausdrücklichen Mitläufern oder den Biedermännern nur noch zusätzlich aktiviert zu werden.

Ursachen für das Anwachsen der Ausländerfeindlichkeit

Mehrere sich kumulierende Ursachen haben zum Anwachsen des rechten bis rechtsextremen Potentials und der Ausländerfeindlichkeit in der Bevölkerung beigetragen:

Die Wahrheit lag längst auf dem Tisch

Sarrazin und auch diejenigen, die ihm nicht im Ton, aber in der Sache Recht geben, tun gerade so als würden endlich einmal unausgesprochene Wahrheiten ungeschminkt auf den Tisch gelegt werden.

Das gehört mit zu den gröbsten Irreführungen.

Seit Jahren kann man in allen Bildungsberichten nachlesen, dass der Anteil der Kinder mit Migrationshintergrund unter den Schulabbrechern deutlich überdurchschnittlich ist, dass solche Kinder in den weiterführenden Schulen unterrepräsentiert sind, dass ein hoher Prozentsatz ohne Berufsausbildung bleibt. Schon immer wurde auf die Sprachbarrieren hingewiesen. Die Städtplaner warnten schon seit langem vor Gettobildung und „Parallelgesellschaften“ in den Großstädten. Und auch die Kriminalitätsstatistiken wiesen einen überdurschnittlich hohen Ausländeranteil aus.

Wer also „Klartext“ haben wollte, brauchte nur die Fakten zur Kenntnis zu nehmen. Tatsache ist allein, dass diese jedermann erkennbaren Probleme politisch nicht zur Kenntnis genommen wurden und zwar deshalb, weil bis zum vom damaligen Innenminister Schily vorgelegten „Zuwanderungsgesetz“ im Jahre 2002 geleugnet wurde, dass Deutschland ein Einwanderungsland ist.

Erkenntnisverweigerung

Man muss sich das nochmals vor Augen halten: Bereits 1952 wurden die ersten Italiener, damals noch illegal ins Land geholt (Karl-Heinz Meier-Braun, Deutschland, Einwanderungsland, 2002). Das Anwerbeabkommen mit der Türkei wurde schon im Jahre 1961 abgeschlossen. Über 40 Jahre hat man sich nicht der Tatsache gestellt, dass man zwar „Arbeitkräfte erwartet (hat), aber Menschen gekommen“ (Bundespräsident Gustav Heinemann) und geblieben sind. Es gibt zahllose Beispiele, die belegen, wie sich gerade konservative Politiker mit Kampfrhetorik gegen eine wirkungsvolle Integrationspolitik stemmten. Man denke etwa an die Unterschriftenaktion eines Roland Koch im Wahlkampf 1999, bei der 5 Millionen Unterschriften gegen die doppelte Staatsbürgerschaft gesammelt wurden, oder an die „Kinder statt Inder“-Parole von Jürgen Rüttgers. Noch 2006 behauptete der damalige Innenminister Wolfgang Schäuble: „Wir waren nie ein Einwanderungsland und wir sind’s bis heute nicht“. Den Ausländern wurde zumal in Wahlzeiten ständig signalisiert: „Ihr seid unerwünscht“. Integrationspolitik ist deshalb auch nicht nötig.

Wenn Angela Merkel im Interview in Bild am Sonntag behauptet, zu rot-grünen Zeiten hätten viele „einen sogenannten Multi-Kulti-Traum geträumt“ so ist das eine glatte Ablenkung von der ausländer- und integrationsfeindlichen Politik ihrer eigenen Partei und vor allem auch ihres Ziehvaters Helmut Kohl, während dessen 16-jähriger Regierungszeit.
Bis heute gibt es keine umfassende Bildungsförderung für ausländische Kinder.

Prekarität und Fremdenfeindlichkeit

In mehreren Analysen hat der Bielefelder Konfliktforscher Wilhelm Heitmeyer nachgewiesen, dass Fremdenfeindlichkeit eine ursächliche Folge von mangelnder sozialer Unterstützung bei Arbeitslosigkeit und Unsicherheit am Arbeitsplatz bzw. sich ausbreitender Niedriglöhne sind.

Ungleichwertigkeit

Weiter hat Heitmeyer nachgewiesen, dass der Druck ökonomischer Verhältnisse erhebliche Auswirkungen auf die Einstellung gegenüber anderen Menschen hat. Nur wer etwas leiste, zähle, der Rest werde als Last empfunden.

Deutsche Ansichten
Quelle: Der Tagesspiegel

„Das Eindringen von Kalkülen der Marktwirtschaft in die Gesellschaft, die so zur Marktgesellschaft wird, zeigt sich in diesem Denken“, ist die Schlussfolgerung Heitmeyers.

Es ist also keine Leistung auf soziale Missstände hinzuweisen, sondern ein leichtes Spiel für soziale Demagogen. So können sie von den Ursachen für manifeste Probleme in der Gesellschaft und für die politischen Fehler, die mit dazu geführt haben, ablenken. Die Methode ist: Nicht etwa die eigenen Fehler sind schuld an der misslungenen Integration von Ausländern, sondern umgekehrt werden die Migranten zu Sündenböcken erklärt.

Das perfide dabei ist, dass damit gleichzeitig gerade einer konservativen, ja sogar rechtsreaktionären Politik Vorschub geleistet werden soll, die über die Jahrzehnte zu den Zuständen geführt hat, über die sich die Verursacher nun den Mund zerreißen.

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