Das Falsche – zur falschen Zeit am falschen Ort
Das sogenannte Sparprogramm der schwarz-gelben Regierung wird in die Geschichte eingehen. Aber nicht als der endgültige Durchbruch in Sachen Staatsverschuldung, sondern als Beginn einer verlorenen Dekade. Es wird als klassischer Ausdruck für den Tunnelblick einer Regierung betrachtet werden, die im entscheidenden Jahr 2010 nicht einmal im Ansatz begriffen hatte, was die Stunde geschlagen hatte. Von Heiner Flassbeck
Seit mindestens zwei Jahren wird international mit Verve diskutiert, wie man die globalen Ungleichgewichte bekämpfen kann, ohne die globale Konjunktur abzuwürgen. Und siehe da, es hat sich ein weitgehender Konsens herausgebildet, der darauf hinausläuft, mit verteilten Rollen zu arbeiten. Auf der einen Seite die Länder, die weit unter ihren Verhältnissen gelebt haben, das sind all diejenigen, bei denen das gesamte Land einen Überschuss gegenüber dem Rest der Welt aufweist, die Länder mit Leistungsbilanzüberschuss also. Auf der anderen stehen diejenigen, die Leistungsbilanzdefizite aufweisen, also über ihren Verhältnissen gelebt haben, weil sie als Land insgesamt mehr ausgeben als eingenommen haben.
Nimmt man die Verschuldung des Staates, also das öffentliche Haushaltsdefizit und die gesamte Staatsverschuldung als weiteres Kriterium mit hinzu, lautet die Regel für vernünftiges Verhalten, dass diejenigen Staaten, die Leistungsbilanzüberschüsse aufweisen und zudem eine relativ geringe Staatsverschuldung wesentlich mehr zur Anregung der Binnennachfrage tun sollten als diejenigen, die bei beidem hoch im Defizit sind. Nach diesem einfachen Muster gibt es genau zwei Länder auf dieser Welt, die prädestiniert wären für eine Anregung der Binnennachfrage und auch groß genug wären, um das zu leisten: China und Deutschland. Da China mit einem unglaublich massiven staatlichen Anregungsprogramm und boomender Binnennachfrage sowie explodierender Importe seinen Teil schon getan hat, gab es zuletzt nur noch einen Kandidaten auf der Liste, der die „Welt hätte retten können“.
Nun ist das vorbei. Ohne einmal links oder rechts zu schauen, ohne die internationalen Warnungen, wie sie zuletzt der amerikanische Finanzminister Tim Geithner in Berlin in aller Deutlichkeit ausgesprochen hatte, noch einmal hören zu wollen, hat sich die Bundesregierung ein Wochenende lang aufs staatliche Sparen gestürzt und „das größte Sparprogramm der deutschen Geschichte“ geboren. Dieses Programm ist aber nicht nur, wie viele beklagen, ungerecht, einseitig und Ausdruck reinster Klientielorientierung. Nein, dieses Programm ist weltwirtschaftlich einer der größten Fehler, die je gemacht wurden.
Deutschland lebt nämlich schon wieder vom Export allein. Alles, was jetzt Aufschwung genannt wird, ist der Tatsache zu verdanken, dass die deutsche Wirtschaft immer noch extrem wettbewerbsfähig ist, oder sogar wegen der Euro-Schwäche noch wettbewerbsfähiger geworden ist. Der Überschuss in der Leistungsbilanz, der in den vergangenen beiden Jahren etwas gesunken war, wird wieder massiv steigen. Alle Prognosen für das Wirtschaftswachstum in diesem Jahr unterstellen, dass der weitaus größte Wachstumsbeitrag vom Außenhandel kommt. Was wiederum bedeutet, das in anderen Ländern der gleiche Beitrag vom Wachstum abgezogen werden muss, weil es auf der Welt insgesamt keinen Wachstumsbeitrag vom Außenhandel gibt, denn die Welt als Ganzes kennt nun mal keinen externen Handel und schon gar keine Salden aus diesem Handel.
Das mindeste, was man trotz all der anderen Fehler hätte erwarten können, wäre eine einfache Rechnung nach dem Motto gewesen, wenn wir schon Menschen belasten, die nicht unmittelbar mit dem Desaster der Finanzkrise zu tun hatten, dann belasten wir wenigstens die, die es leicht verkraften und deswegen ihre Ausgaben nicht einschränken werden. Wiedereinführung der Vermögenssteuer oder Wiederanhebung des Spitzensteuersatzes wären einfache Maßnahmen zur Umsetzung eines solchen Konzepts gewesen. Aber selbst das ging nicht durch die ideologische Zensur. Nicht einmal wirtschaftliche Vernunft konnte die ideologische Barriere überwinden. Warum man nicht wenigstens eine Börsenumsatzsteuer eingeführt hat, wo man doch vorgibt, eine Finanztransaktionssteuer einführen zu wollen, wird ohnehin ein Rätsel für den bleiben, der versucht, nicht bei allem und jedem an die große Konspiration des Finanzkapitals zu glauben.
Deutschland macht mit diesem Paket unbeirrt weiter, was es seit 30 Jahren als allein selig machend erkannt hat, obwohl es in der Europäischen Währungsunion damit gerade mal wieder gegen die Wand gefahren ist: Es schnallt selbst den Gürtel enger und macht die Handelspartner zu Schuldnern. Wenn sie dann zu viele Schulden haben, zeigt man mit Fingern auf sie und fordert sie auf, doch das Gleiche wie Deutschland zu tun. Die kleine logische Hürde, dass es schlicht unmöglich ist, dass alle ihre Wettbewerbsfähigkeit verbessern und Leistungsbilanzüberschüsse haben, kümmert uns nicht. Wir werden uns doch bei ideologisch bedeutsamen Fragen nicht von der Logik stören lassen.
So ist das Ergebnis ganz einfach. Die Europäer gehen gemeinsam in die Deflation, weil überall der Gürtel enger geschnallt und Löhne gesenkt werden. Die kurzfristigen Gewinne an Wettbewerbsfähigkeit gegenüber dem Rest der Welt durch die Lohnsenkung und den schwachen Euro werden sie eine Weile in dem Glauben bestärken, den richtigen Weg gefunden zu haben. Dann, wenn es eigentlich schon endgültig zu spät ist, werden sie sich noch über die Aufwertung des Euro freuen, der steigt, weil die ganze restliche Welt einschließlich Chinas zum Superschuldner des Eurolandes geworden ist. Erst in der großen Krise des Jahres 2015 werden sie endgültig feststellen, dass dieses Europa keine Zukunft hat. Dann wird man den einfachen Menschen in Deutschland, die schon 15 Jahre keinerlei Einkommenszuwachs und keinen Konsumzuwachs mehr gesehen haben, wieder erklären, dass sie zu lange über ihre Verhältnisse gelebt haben.
Quelle: Wirtschaft und Markt, Juli 2010