Urteil zur Vorratsdatenspeicherung: Verfassungsrechtlicher Opportunismus
Ein Pyrrhus-Sieg: Aus diesem Sieg vor dem Bundesverfassungsgericht gehen die 35.000 Kläger auf Dauer eher geschwächt hervor. Das gestrige Urteil des Bundesverfassungsgerichts zur Vorratsdatenspeicherung hat zwar die innerdeutsche Regelung für nichtig erklärt, dennoch ist eine Speicherungspflicht in dem im Telekommunikationsgesetz vorgesehenen Umfang mit Art. 10 Grundgesetz „nicht schlechthin unvereinbar“. Vor allem aber ist die EU-Richtlinie 2006/24/EG, die durch die verfassungswidrig erklärten innerstaatlichen Gesetze nur umgesetzt werden sollte, durch das Urteil nicht tangiert.
Wie beim Hartz-IV-Urteil wird pathetisch die Unverletzlichkeit des Grundrechts beschworen, um dann dem Gesetzgeber viel Gestaltungsfreiheit zu geben, das Fernmeldegeheimnis wieder einzuschränken. Und wie beim Urteil über den EU Reformvertrag schreckt das höchste deutsche Gericht vor einer Auseinandersetzung mit dem EU-Recht zurück.
Das kann man eigentlich nur verfassungsrechtlichen Opportunismus nennen. Wolfgang Lieb
Kern des Urteils
Die Neuregelungen der Telekommunikationsüberwachung und anderer verdeckter Ermittlungsmaßnahmen zur Umsetzung der EU-Richtlinie über die Vorratsdatenspeicherung sowie die entsprechende Anpassung der Strafprozessordnung aus dem Jahre 2007 verstoßen gegen Art. 10 Abs. 1 Grundgesetz und sind nichtig.
Die von den Anbietern von Telekommunikationsdiensten im Rahmen von behördlichen Auskunftsersuchen erhobenen aber noch nicht übermittelten, sondern bisher nur gespeicherten Telekommunikationsverkehrsdaten sind unverzüglich zu löschen und dürfen nicht an die ersuchenden Stellen übermittelt werden.
So lautet im Kern der Urteilsspruch von 6 der 8 Richter des Bundesverfassungsgerichts über die innerstaatliche gesetzliche Umsetzung der durch eine EU-Richtlinie aus dem Jahre 2006 vorgeschriebenen Vorratsdatenspeicherung.
Vorratsdatenspeicherung mit dem Grundgesetz nicht unvereinbar
Allerdings ist „eine sechsmonatige anlasslose Speicherung von Telekommunikationsverkehrsdaten für qualifizierte Verwendungen im Rahmen der Strafverfolgung, der Gefahrenabwehr und der Aufgaben der Nachrichtendienste, wie sie die §§ 113a, 113b TKG (Telekommunikationsgesetz) anordnen, … mit Art. 10 GG nicht schlechthin unvereinbar.“
Es bedürfe jedoch eine „dem besonderen Gewicht des hierin liegenden Eingriffs hinreichend Rechnung“ tragende Ausgestaltung, die den „Verhältnismäßigkeitsanforderungen“ genüge.
Das Gericht sieht die Gefahr
Das Gericht sieht zwar bei einer solchen Speicherung „einen besonders schweren Eingriff mit einer Streubreite, wie sie die Rechtsordnung bisher nicht kennt.“ Die Mehrheit des Senats erkennt auch durchaus die Gefahren eines solchen Eingriffs:
„Auch wenn sich die Speicherung nicht auf die Kommunikationsinhalte erstreckt, lassen sich aus diesen Daten bis in die Intimsphäre hineinreichende inhaltliche Rückschlüsse ziehen. Adressaten, Daten, Uhrzeit und Ort von Telefongesprächen erlauben, wenn sie über einen längeren Zeitraum beobachtet werden, in ihrer Kombination detaillierte Aussagen zu gesellschaftlichen oder politischen Zugehörigkeiten sowie persönlichen Vorlieben, Neigungen und Schwächen.
Je nach Nutzung der Telekommunikation kann eine solche Speicherung die Erstellung aussagekräftiger Persönlichkeits- und Bewegungsprofile praktisch jeden Bürgers ermöglichen. Auch steigt das Risiko von Bürgern, weiteren Ermittlungen ausgesetzt zu werden, ohne selbst hierzu Anlass gegeben zu haben. Darüber hinaus verschärfen die Missbrauchsmöglichkeiten, die mit einer solchen Datensammlung verbunden sind, deren belastende Wirkung. Zumal die Speicherung und Datenverwendung nicht bemerkt werden, ist die anlasslose Speicherung von Telekommunikationsverkehrsdaten geeignet, ein diffus bedrohliches Gefühl des Beobachtetseins hervorzurufen, das eine unbefangene Wahrnehmung der Grundrechte in vielen Bereichen beeinträchtigen kann.“
Ist private Speicherung ein Schutz?
„Maßgeblich“, dass eine solche Speicherung unter bestimmten Maßgaben mit Art. 10 Abs. 1 GG vereinbar sein kann, sei zunächst, „dass die vorgesehene Speicherung der Telekommunikationsverkehrsdaten nicht direkt durch den Staat, sondern durch eine Verpflichtung der privaten Diensteanbieter verwirklicht wird. Die Daten werden damit bei der Speicherung selbst noch nicht zusammengeführt, sondern bleiben verteilt auf viele Einzelunternehmen und stehen dem Staat unmittelbar als Gesamtheit nicht zur Verfügung.“
Das Gericht tut also gerade so, als wäre die informationelle Selbstbestimmung des Bürgers geschützt, wenn die Daten bei Privaten gespeichert sind. Das ist nach den zahlreichen Datenskandalen etwa bei Telekom oder bei der Bahn bis hin zu dem Handel mit CDs mit geheimen Bankdaten mit Verlaub eine ziemlich naive Sichtweise der Karlsruher Richter. Wie sollten die geforderten Schutzvorkehrungen gegenüber den Telekommunikationsanbietern aussehen?
Speichern ja, aber nicht so
Verfassungsrechtlich unbedenklich sei eine vorsorglich anlasslose Speicherung von Telekommunikationsverkehrsdaten, wenn sie „eine Ausnahme bleibt“ und „die Freiheitswahrnehmung der Bürger nicht total erfasst und registriert“ werde. Dazu bedürfe es „hinreichend anspruchsvoller und normenklarer Regelungen zur Datensicherheit, zur Begrenzung der Datenverwendung, zur Transparenz und zum Rechtsschutz.“
Ähnlich wie beim Urteil über die Hartz IV-Regelsätze, in dem Karlsruhe pathetisch das „menschenwürdige Existenzminimum“ hervorhob, werden auch hier nachdrücklich die Gefahren eines Eingriffs in das Fernmeldegeheimnis beschrieben, doch im Ergebnis wird Vorratsdatenspeicherung grundsätzlich als mit der Verfassung vereinbar erklärt, wenn der Gesetzgeber bei der Umsetzung bestimmte Verfahrensregeln einhält.
Begründeter Verdacht und konkrete Gefahr
Der Abruf der gespeicherten Daten müsse „den durch bestimmte Tatsachen begründeten Verdacht einer auch im Einzelfall schwerwiegenden Straftat“ voraussetzen. Die entsprechenden Straftatbestände habe der Gesetzgeber abschließend (vorher) festzulegen. Der Verhältnismäßigkeitsgrundsatz gebiete es, dass ein Abruf der Daten nur zulässig ist, wenn „eine durch bestimmte Tatsachen hinreichend belegte, konkrete Gefahr für Leib, Leben oder Freiheit einer Person, für den Bestand oder die Sicherheit des Bundes oder eines Landes oder zur Abwehr einer gemeinen Gefahr“ vorliege.
Immerhin muss also für den Abruf der (ohnehin) gespeicherten Daten durch staatliche Organe, ein „begründeter Verdacht“ und eine „konkrete Gefahr“ vorliegen. Und positiv zu würdigen ist, dass auch ein Zugriff der Nachrichtendienste auf solche Daten eingeschränkt wird. Aber andererseits sind die Gefahrentatbestände (z.B. „Abwehr einer gemeinen Gefahr“) wiederum so offen beschrieben, dass im Zweifel auch Daten abgerufen werden könnten, wenn zu einer Demonstration aufgerufen wird, bei der es zu Gewaltausbrüchen (= gemeine Gefahr) kommen könnte. Auch hier wird also dem Gesetzgeber und vor allem den staatlichen Organen wieder ein großer Gestaltungsspielraum zuerkannt.
Übermittlungsverbot nur für einen engen Kreis
Für einen engen Kreis von auf besondere Vertraulichkeit angewiesenen Telekommunikationsverbindungen (also Organisationen in sozialen oder kirchlichen Bereichen) soll es ein grundsätzliches Übermittlungsverbot von gespeicherten Daten geben. Rechtsanwälte oder Journalisten, deren Schutz mindestens genauso wichtig wäre, sind allerdings nicht geschützt.
Keine „diffuse Bedrohlichkeit“ durch Geheimdienste?
Das Gefühl einer „diffusen Bedrohlichkeit“ müsse durch wirksame Transparenzregeln aufgefangen werden. Doch davon werden die Nachrichtendienste wiederum ausgenommen. Sind es aber nicht gerade die geheimdienstlichen Überwachungen, die dieses Gefühl der diffusen Bedrohlichkeit schaffen?
Barrieren
Sicher, im Rahmen der Strafverfolgung werden einige Barrieren werden aufgebaut:
- heimliche Verwendung der Daten nur durch richterliche Anordnung und bei nachträglicher Benachrichtigung,
- sofern heimlich erhobene Daten vor Gericht verwandt werden, ist eine nachträgliche gerichtliche Kontrolle vorzusehen,
- es sind Sanktionen bei Rechtsverletzungen vorzusehen. (Allerdings wird auch hier wieder ein „weiter“ Gestaltungsspielraum zuerkannt.)
Wer allerdings die schon derzeit schon lasche richterliche Kontrolle bei Überwachungsmaßnahmen bedenkt, kann sich durch derartige Barrieren nicht gerade beruhigt zurücklehnen. Und in den seltensten Fällen, dürften Polizei oder Staatsanwälte sich vor Gericht auf heimlich erhobene Daten beziehen.
Keine Auskunft über IP-Adressen „ins Blaue hinein“
Erheblich weniger Anforderungen stellt das Gericht, wenn Behörden Auskunft über einen Inhaber einer IP-Adresse erhalten wollen. Zwar werde dadurch der Umfang der Anonymität im Internet begrenzt, deshalb dürfe eine solche Auskunft „nicht ins Blaue hinein eingeholt“ werden.
(Ins Blaue hinein, scheint ein Sprachbild des Ersten Senats zu sein, mit der gleichen Formulierung wurden schon die bisherigen Regelsätze bei Hartz IV gerügt.)
Anleitung an den Gesetzgeber
Die Prüfmaßstäbe, die das Gericht aufstellt, sind eher eine Anleitung an den Gesetzgeber, unter welchen Bedingungen das Bundesverfassungsgericht eine Vorratsdatenspeicherung passieren lassen würde, als ein Erfolg der Datenschützer. Das Urteil bleibt weit hinter den Anträgen der Beschwerdeführer zurück. Die Speicherung ist keineswegs vom Tisch. Die Argumente dagegen, werden lapidar damit vom Tisch gewischt. Die EU-Richtlinie gilt.
Immerhin wäre es ein Erfolg, wenn der Datensammelwut etwa beim Elektronischen Einkommensnachweis oder beim SWIFT-Abkommen durch dieses Urteil neu thematisiert würde.
Und wenigstens darf eine Speicherung bis zum Erlass neuer Gesetze nicht stattfinden und 4 Richter des 8-köpfigen Senats setzten durch, dass die bisherigen Daten zu löschen sind.
Eiertanz um EU-Recht
Fast belustigend ist der Eiertanz, den das Bundesverfassungsgericht um das EU-Recht und vor allem um seine Zuständigkeit bei der Prüfung dieses supranationalen Rechtes gegenüber dem Europäischen Gerichtshof aufführt.
Schon beim Urteil über den EU Reformvertrag ließ das Gericht das EU-Recht ungeprüft passieren und rügte nur die innerstaatlichen Gesetze. Genauso wird auch beim Urteil über die Vorratsdatenspeicherung die Richtlinie 2006/24/EG des Europäischen Parlaments und des Rates über die Vorratsdatenspeicherung aus dem Jahre 2006 nicht weiter problematisiert. Auf die Argumente der Beschwerdeführer gerade gegen diese Richtlinie geht das Gericht gar nicht erst ein. Zwar seien nach dieser Richtlinie die Anbieter von Telekommunikationsdiensten dazu verpflichtet die Daten für mindestens sechs Monate und höchstens zwei Jahre zu speichern und für die Verfolgung von schweren Straftaten bereit zu halten, aber dort seien keine näheren Regelungen zur Verwendung der Daten enthalten und die Maßnahmen zum Datenschutz würden im Wesentlichen den Mitgliedsstaaten überlassen.
Bisherige Rechtsprechung aufgeweicht
Weil das Gericht einmal mehr, einem Konflikt zwischen dem Grundgesetz und europäischem Recht ausweichen will, muss es seine Linie aus dem Volkszählungsurteil aus dem Jahre 1983 aufweichen. Dort hatte das Gericht noch davon gesprochen, dass das Grundgesetz den Bürger “gegen die unbegrenzte Erhebung, Speicherung, Verwendung und Weitergabe seiner Daten” schütze. Der EU-Richtlinie gehorchend muss es nun „eine sechsmonatige anlasslose Speicherung von Telekommunikationsverkehrsdaten“ als grundsätzlich mit dem Grundgesetz vereinbar erklären.
Damit konnten die Bundesverfassungsrichter dem eigentlichen Ziel der Klagenden ausweichen, dass das Gericht die Verfassungsbeschwerde dem Europäischen Gerichtshof vorlegt, um die EU-Richtlinie am Maßstab der Grundrechte des Grundgesetzes zu überprüfen.
Machtprobe mit dem Europäischen Gerichtshof vermieden
Es komme hier auf den Vorrang des Gemeinschaftsrechts gar nicht an, denn schon die Umsetzung der Richtlinie durch innerstaatliche Gesetze sei verfassungswidrig. Das Gericht ist also wieder einmal der „Gretchenfrage“ ausgewichen, ob europäisches Recht höherrangig ist und die Grundrechte des deutschen Grundgesetzes aushebeln kann. Gleichzeitig hat damit das Karlsruher Gericht eine Machtprobe mit dem Europäischen Gerichtshof vermieden und hat sich mit seiner „Reservekompetenz“ begnügt und nur die innerstaatliche Umsetzung des europäischen Rechts an den Maßstäben des Grundgesetzes überprüft.
Dieser Eiertanz des Karlsruher Gerichtes wird spätestens dann sein Ende haben, wenn sich der Europäische Gerichtshof mit der Richtlinie befassen muss.
Allenfalls zarter Wink nach Europa
Wenigstens ein klein wenig löckt das Bundesverfassungsgericht wider den europäischen Stachel:
„Dass die Freiheitswahrnehmung der Bürger nicht total erfasst und registriert werden darf, gehört zur verfassungsrechtlichen Identität der Bundesrepublik Deutschland, für deren Wahrung sich die Bundesrepublik in europäischen und internationalen Zusammenhängen einsetzen muss. Durch eine vorsorgliche Speicherung der Telekommunikationsverkehrsdaten wird der Spielraum für weitere anlasslose Datensammlungen auch über den Weg der Europäischen Union erheblich geringer.“
Die Justizministerin Leutheusser-Schnarrenberger sieht darin eine Aufforderung die Vorratsdatenspeicherung auch auf EU-Ebene auf den Prüfstand zu stellen. Eine wirkliche Schützenhilfe für ein solches Unterfangen ist das Urteil allerdings nicht, denn es hat in opportunistischer Manier die EU-Richtlinie an keiner Stelle in Frage gestellt. Es hat im Gegenteil die Vorratsdatenspeicherung grundsätzlich für verfassungskonform erklärt, wenn der deutsche Gesetzgeber einige Auflagen erfüllt.
Verfassungsrechtlicher und politischer Opportunismus
Das Kuschen des Bundesverfassungsgerichts vor dem Europäischen Recht und vor dem Europäischen Gerichtshof in Luxemburg belegt, dass Karlsruhe das Grundgesetz nicht offensiv gegenüber der europäischen Ebene verteidigt, sondern sich europäischen Vorgaben kritiklos anpasst und nur noch innerstaatlich versucht, das Grundgesetz zu retten – was davon nach der Vorgabe aus Brüssel oder Luxemburg eben noch zu retten ist.
Das ist für mich verfassungsrechtlicher Opportunismus.
Es ist auch politisch opportunistisch, denn es befriedigt, wie Heribert Prantl zu Recht schreibt, „kurzfristig die Gegner der Vorratsdatenspeicherung – und langfristig ihre Befürworter.“
P.S.: Ich beziehe mich bei meiner Kritik im Wesentlichen auf die ausführliche Pressemitteilung des Bundesverfassungsgerichts. Den Wortlaut des Urteils finden Sie hier.