Die unendliche Leistungsträgerlüge
Heiner Flassbeck hat sich, angestoßen von Äußerungen Peter Sloterdijk wie in einem gerade erschienen Interview in der Süddeutschen Zeitung („Wider die Verteufelung der Leistungsträger“), mit diesen obskuren Vorstellungen auseinandergesetzt. Unten finden Sie Flassbecks Beitrag. Ich halte Sloterdijk für einen mit Steuergeld besoldeten Ignoranten. Er beschäftigt die öffentliche Debatte mit albernen Vorstellungen („Gaben- und Spendencharakter der zivilen Steuer“) und eine sich für seriös haltende Zeitung wie die SZ bietet ihm wieder einmal Raum. Albrecht Müller
Die unendliche Leistungsträgerlüge
Von Heiner Flassbeck
Ein Diskussionsbeitrag für die Nachdenkseiten
(Eine kürzere Version dieses Artikels erschien in „Wirtschaft und Markt“ im Januar 2010)
Es gibt Geschichten, die kann man hundert oder gar tausend Mal erzählen und die Zuhörer bekommen dennoch nie genug davon. Das sind in der Regel schöne Geschichten. Die Zuhörer beginnen jedes Mal von Neuem zu träumen von einer heilen Welt, in der ein wunderbar freundlicher Herrscher nur an einem einzigen kleinen Schräubchen dreht und schon fließt der Honig in Strömen und die Tauben braten sich im Fluge selbst.
So ist es mit der unendlichen Steuer- und Leistungsträgergeschichte. Seitdem das Wirtschaftswunder Anfang der 70er Jahre brutal sein Ende fand, wird von unseren Politikern immer wieder, Jahr für Jahr, Wahl für Wahl, die schöne Geschichte von den magischen Steuersenkungen erzählt. Man müsse die Steuern für die „Leistungsträger“ senken und schon sei alles gut. Leistungsträger, das sei nämlich die Spezies von Mensch, die – gut ausgebildet und leistungsfähig – gerne ihr Bestes geben würde, aber unter der Abgabenlast des Staates so ächzt, dass sie viel weniger “Leistung” erbringt, als eigentlich von ihr zu erwarten wäre. Nähme der Staat seine Last nur weg, wäre der Rest ein Leichtes und die Wirtschaft florierte.
Die Geschichte ist so schön, weil sie immer funktioniert, ganz gleich wie viel Last der Staat schon weggenommen hat. Immer wird es einen Politiker oder einen besonders klugen Philosophen wie Peter Sloterdijk geben, der sagt „es ist immer noch zu viel“. Da die Mehrheit der Politiker seit vielen Jahren an die Geschichte glaubt, haben sie die Steuerbelastung für die Leistungsträger schon mächtig reduziert, also etwa von einem Steuersatz für die Menschen mit den höchsten Einkommen von 56 Prozent auf 42 Prozent. Da ächzt der Leistungsträger zwar etwas weniger, aber die Bürde des Staates drückt noch immer schwer.
Also weiter runter mit den Sätzen. 35 Prozent will die Partei der Leistungsträger jetzt, aber warum soll das reichen? Wer „Leistung“ bringt, wird immer noch bestraft mit dem Höchstsatz! Wo ist die Logik? Warum sollen diejenigen, die schon die “Leistung” bringen, auch noch die größte Last für den Staat tragen? Der Leistungsträger trägt doch schon die Gemeinschaft, die in der sozialen Hängematte also, warum sollte er noch mehr tun? Nein, der Leistungsträger muss richtig entlastet werden und das heißt, er muss weniger zahlen als diejenigen, die keine „Leistung“ bringen. Eigentlich muss er absolut entlastet werden, weil er ja schon die “Leistung” trägt.
Wenn man aber die vollkommen entlastet, die „Leistung“ bringen, woher bekommt der Staat dann das Geld für die Justiz, für die Polizei, für die Verteidigung, für die Strassen und für die Bildung? Offenbar von den anderen. Wer aber sind die anderen? Die Nicht-Leistungsträger! Die haben dummerweise aber keine Einkommen, weil sie ja keine „Leistung“ erbringen. Dann gibt es aber keinen Staat, jedenfalls gibt es niemand, der die Polizei, die Verteidigung, die Strassen oder die Bildung kostenlos zur Verfügung stellt. Das müssen die Leistungsträger dann einzeln bezahlen, wenn sie es haben wollen, und die anderen gucken in die Röhre.
Welchen Anteil von ihrem Einkommen zahlen dann die Leistungsträger für ihre Justiz, ihre Verteidigung, für ihre Strassen, ihre Polizei und die Bildung ihrer Kinder, nicht zu vergessen der Preis für die hohen Mauern, die sie bauen müssen, um sich und ihre Kinder vor denen zu schützen, die keine „Leistung“ bringen und kein Einkommen haben? 35 Prozent oder 42 oder doch gar 53 Prozent? Wie ist das dann mit der zusätzlichen Belastung für die privaten Justiz-, Sicherungs- und Bildungsdienste? Kommt dann Sloterdijk und spendet Trost nach dem Motto: Niemand nimmt dir Leistungsträger etwas unter Zwang und ungerechtfertigt ab, also ertrage die Kosten ohne zu klagen?
An dieser Stelle spätestens erkennt auch der vorletzte Philosoph, wie dumm und falsch das Bild von den Leistungsträgern ist. Eine moderne marktwirtschaftliche Ordnung ist nämlich gerade kein System, das davon lebt, dass eine „Handvoll Leistungsträger“ Spitzenleistungen erbringt und daraus sich die Einkommen aller anderen ergeben. Eine moderne Marktwirtschaft ist ein System der Arbeitsteilung, der Spezialisierung des Einzelnen also, in dem das Gesamtergebnis keineswegs mehr der Leistung eines einzelnen oder einiger weniger zugerechnet werden kann. Praktisch alles, was produziert wird, ergibt sich aus einem komplexen Zusammenspiel vieler Leistungen, die zum Teil in der Gegenwart, zum Teil aber auch in der Vergangenheit erbracht worden sind. Dass die Leistungen unterschiedlich entgolten werden, hängt allein mit der Knappheit der „Leistungsträger“ oder ihrer Marktmacht zusammen, in einer Marktwirtschaft aber gerade nicht mit ihrer „Leistung“ in irgendeinem vernünftig zu interpretierenden Sinne.
Wer Tennisbälle sicher über ein Netz schlagen kann, schnell mit einem Auto im Kreis fährt oder populäre Liedchen trällert, wird in der „Leistungsgesellschaft“ schon vor Erreichen des dreißigsten Lebensjahres mit einem ungeheuren Vermögen entlohnt. Wie sinnvoll diese “Leistung” ist, wird nicht einmal gefragt, weil sich die westliche Gesellschaft, freilich ohne zu wissen, was sie tut, im Zuge der neoliberalen Revolution für ein Knappheitsprinzip ohne wenn und aber entschieden hat. Derjenige dagegen, der sein Leben lang die Böden in Universitäten und Betrieben schrubbt, muss statt eine ordentliche Rente zu erhalten, am Ende zum Sozialamt betteln gehen. Noch schlimmer, wer für die Gesellschaft vollkommen unproduktive Geschäfte tätigt, also z. b. auf den Finanzmärkten die Preise für Rohstoffe oder Währungen hoch treibt, weil er und viele seiner Kumpane darauf mit Schulden gewettet haben, erbringt offenbar eine „Leistung“ in der Sloterdijkschen FDP-Welt. Auch wenn dabei schließlich das gesamte System zu kollabieren droht und der kleine Putzmann für die Verluste haften muss, ist der Spieler nach Sloterdijk ein Leistungsträger, weil an dem von ihm selbst aufgeblasenen Spekulationsballon so viel verdient hat, dass er – selbst wenn er brav seine Steuern bezahlt – danach nie wieder arbeiten muss. Das ist nicht die Leistung, die eine Gesellschaft trägt! Weil in einer Marktwirtschaft gerade nicht Leistung belohnt wird, ist es gerechtfertigt und notwendig, dass der Staat wesentlich mehr von denen verlangt, die durch glückliche Umstände, Privilegien oder die inhärente Knappheitslogik des Systems überdurchschnittlich „entlohnt“ worden sind.
Unabhängig davon ist der Staat einer der wichtigsten Vorleister des Systems. Ganz gleich, ob er durch verbesserte Infrastruktur, Rechtssicherheit, mehr Bildung, äußere Sicherheit oder auch durch sozialen Frieden mithilfe einer menschenwürdigen sozialen Absicherung zur Gesamtleistung beiträgt, er ist ein Vorleister wie alle anderen und muss vernünftig bezahlt werden. Bei keinem anderen Vorleister kämen Philosophen und andere Ideologen auf die Idee, die Bezahlung generell in Frage zu stellen, ohne über den Wert und die Qualität der Vorleistung zu reden. Nur beim Staat wird die einfache, aber fundamentale Tatsache der Vorleistung in einer arbeitsteiligen Gesellschaft ignoriert oder von ideologischen Debatten überlagert. Sloterdijk hat es nun sogar geschafft, Freiwilligkeit der Leistungen der Leistungsträger an den Staat ins Spiel zu bringen (SZ vom 5.1.2010). Klar, in der Zukunft gehen wir zur Bank und bieten eine freiwillige Spende für die dort erbrachten Dienstleistungen an, oder wir finanzieren Professoren nur noch aus Spendengeldern. Fragt sich nur, wer den Beruf des Professors noch ergreifen würde, wenn dessen Entlohnung von der Lust und Laune irgendwelcher “Leistungsträger” abhinge?
Leistungsträger in einem funktionierenden und auf lange Sicht erfolgreichen Team sind alle, selbst wenn ab und an der eine oder der andere einen besonders guten Tag hat. Wer die Beiträge der Einzelnen zur Bezahlung der Vorleistungen des Staates in einer arbeitsteiligen Gesellschaft diskutieren will, sollte ehrlich sein und offen die Frage stellen, ob die Armen oder die Reichen – absolut und proportional – mehr beitragen sollen. Da werden sich sicher auch die Geister scheiden. Die dümmliche Phrase von den Leistungsträgern, die ja nur zur Verteidigung der Reichen vorgebracht wird, kann man sich dann aber getrost schenken.