Darf man nicht mehr für eine gesamteuropäische Friedensordnung sein?
Gestern hatten wir davon berichtet, dass jetzt der Druck auf die Linkspartei, sich anzupassen, wächst. Als besonderes Test-Beispiel für die angeblich dringende Notwendigkeit zur Anpassung wird in den öffentlichen Debatten die Außen- und Sicherheitspolitik bemüht. Wenn sich die Linkspartei nicht zum Lissabon-Vertrag und nicht zur NATO und ihrer Politik bekennt, dann steht sie quasi außerhalb des politischen Anstands – so der von allen konkurrierenden Parteien vermittelte Gesamteindruck. Das Thema wird auffallend hochgespielt. Am Beispiel der Äußerungen Egon Bahrs bei Anne Will wird die Widersprüchlichkeit dieses Ansinnens besonders deutlich. Albrecht Müller
Im gestrigen Beitrag war angekündigt worden, auf die Forderung Egon Bahrs an die Linkspartei zurückzukommen. Ich wiederhole kurz: Egon Bahr, den ich sonst sehr schätze, übernahm – ähnlich wie Hans Jochen Vogel in anderen Sendungen – die Rolle des Ratgebers an die Linken. Das Reden vom Fünfparteiensystem sei Quatsch, meinte Egon Bahr. Es gebe nur vier Parteien, die sich gegenseitig für regierungsfähig halten. Das sei auch berechtigt. Er könne die Linkspartei nicht mitzählen, möglicherweise auch 2013 noch nicht, wenn sie sich nicht in einem fundamentalen Punkt bewegt. Sie müsse sich bewegen, indem sie die wichtigsten Verträge, die unser Land abgeschlossen hat, anerkennt, zum Beispiel EU und NATO. Das ist aus dem Munde von Egon Bahr eine sehr seltsame Einlassung:
Die Linkspartei fordert in ihrem Wahlprogramm [PDF – 320 KB] auf Seite 39, die NATO solle durch ein kollektives Sicherheitssystem unter Beteiligung Russlands ersetzt werden.
Diese Forderung entspricht nicht nur dem, was Egon Bahr häufig gefordert hatte, es entspricht auch dem, was die SPD in ihrem Berliner Grundsatzprogramm [PDF – 890 KB] vom 20. Dezember 1989 gefordert hatte. Ich zitiere aus der Originalfassung. Dieses ist am 17.4.1998 geändert worden. Die entscheidenden Passagen sind im Kern identisch:
Unser Ziel ist es, die Militärbündnisse durch eine europäische Friedensordnung abzulösen. Bis dahin findet die Bundesrepublik Deutschland das ihr erreichbarer Maß an Sicherheit im atlantischen Bündnis, vorausgesetzt, sie kann ihre eigenen Sicherheitsinteressen dort einbringen und durchsetzen, auch ihr Interesse an gemeinsamer Sicherheit. Der Umbruch in Osteuropa verringert die militärische und erhöht die politische Bedeutung der Bündnisse und weist ihnen eine neue Funktion zu: Sie müssen bei Wahrung der Stabilität, ihre Auflösung und den Übergang zu einer europäischen Friedensordnung organisieren. Dies eröffnet auch die Perspektive für das Ende der Stationierung amerikanischer und sowjetischer Streitkräfte außerhalb ihrer Territorien in Europa.
Diese Forderung SPD nach einer europäische Friedensordnung, die der Forderung der Linkspartei im Kern entspricht, wurde nach dem Ende der Blockkonfrontation und nach dem Fall der Mauer formuliert. Egon Bahr war an der Formulierung maßgeblich beteiligt. Das ist mir noch gut in Erinnerung, weil er zusammen mit mir in seinem Abgeordnetenbüro den Entwurf für diesen Text formuliert hat. Eine neue Passage im schon vorher erarbeiteten Entwurf des neuen Grundsatzprogramms war nötig geworden, weil die Mauer gefallen war und Ost und West nicht mehr feindselig gegeneinander standen.
Warum soll man heute für die europäische Friedensordnung nicht mehr eintreten dürfen? Warum soll dieses Programm ein Hinderungsgrund für die Zusammenarbeit zwischen SPD und Linkspartei sein? Das würde man doch nur dann annehmen können, wenn man die Entwicklung der NATO Politik einschließlich der Intervention außerhalb des NATO-Bereichs, einschließlich der militärischen Intervention zu Gunsten der Rohstoffversorgung unseres Landes, einschließlich der massiven Aufrüstung der mittel- und osteuropäischen NATO-Staaten und vor allem einschließlich der Osterweiterung bis an die Grenzen Russlands und am Ende auch noch unter Einschluss von Ukraine und Georgien für sinnvolle Taten hält.
Viele, auch viele Sozialdemokraten, halten diese Entwicklung für falsch. Auch viele Fachleute vom Schlage eines Egon Bahr halten diese Entwicklung für sehr gefährlich und für eine Vergeudung von Ressourcen in der Rüstung.
Warum sich Egon Bahr zum Hochspielen dieser Barriere gegen eine Zusammenarbeit hergibt, ist mir schleierhaft. Es ist nur soviel zu erkennen, dass sich die bisherige SPD-Führung genauso wie das rechtskonservative Lager, die Grünen und viele Medien darauf verständigt haben, diesen angeblichen grundsätzlichen Unterschied hochzuspielen.
Die NATO darf man doch gerade in ihrer heutigen Zielrichtung nicht für sakrosankt erklären. Wer dies tut, der wird auch wenig mitzureden haben, wenn diese NATO eine Entwicklung nimmt, die für uns wirklich gefährlich werden kann, weil neue Gräben aufgerissen werden. Auf der Linie dieser Akzeptanz alles dessen, was die NATO tatsächlich tut, lag auch das Schweigen zu der vorgesehenen Einrichtung von Raketensystemen in Tschechien und Polen. Ohne die eigenständige Entscheidung Obamas gegen diese Planung wäre es dabei geblieben.
Der SPD und unserer Sicherheit täte es jedenfalls besser, die SPD würde sich auch bei diesem Thema ihrer Wurzeln erinnern und gelegentlich ihre bisherigen Grundsatzprogramme studieren. Ich zitiere aus dem Berliner Grundsatzprogramm noch einige andere Sätze:
Im Bündnis muss der Grundsatz gleicher Souveränität gelten.
Das gilt für uns immer noch nicht. Die USA nutzen uns als Flugzeugträger und Nachschubbasis für militärische Interventionen, zu denen wir nicht ja gesagt haben.
Die Bundeswehr hat ihren Platz im Konzept gemeinsamer Sicherheit. Sie hat ausschließlich der Landesverteidigung zu gehen. Ihr Auftrag ist Kriegsverhütung durch Verteidigungsfähigkeit bei struktureller Angriffsunfähigkeit.
Auch diese Festlegung von 1989 ist in der Praxis der militärischen Interventionen im Kosovo Krieg und im Krieg in Afghanistan unbedacht weggekippt worden.
Angesichts der vielen ursprünglichen Gemeinsamkeiten auf dem Gebiet der Außen- und Sicherheitspolitik ist die Konstruktion grundsätzlicher Unterschiede ziemlich dämlich. Sie verhindert nämlich den Aufbau einer politischen Alternative zum rechtskonservativen Lager. Wenn man die Option einer linken Mehrheit schaffen will, dann muss man anders miteinander umgehen. CDU und FDP haben im Wahlkampf bewiesen, dass eine gemeinsame Machtperspektive und der einigermaßen freundliche Umgang zwischen kommenden Koalitionspartnern bei Wahlen hilfreich ist. Das war übrigens auch die Erfahrung der SPD beim Zu-Stande-Kommen der sozialliberalen Koalition im Jahr 1969 und bei vielen späteren Wahlen, bei denen es um die Stabilisierung von sozialliberalen Koalition ging. Das gilt für Nordrhein-Westfalen zum Beispiel genauso wie für Rheinland-Pfalz.