Echte linke Positionen etablieren
Wie sieht eine echte linke Politik aus? Ganz einfach: Sie nimmt sich der Sorgen und Nöten der wenig Privilegierten ernsthaft an. Doch genau daran fehlt es in Deutschland. Das meint der Politikwissenschaftler Andreas Nölke, der mit seinem gerade veröffentlichten Buch „Linkspopulär – Vorwärts handeln statt rückwärts denken. Gegen den Rechtsruck“ ein alternatives linkes Programm vorstellt. Im Interview mit den NachDenkseiten erklärt Nölke, der an der Frankfurter Goethe-Universität lehrt, wie ein solches Programm aussehen sollte und was es bedeutet, wenn die Etablierung eines solchen Programmes ausbleibt. Das Interview führte Marcus Klöckner.
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Sollte die AfD nach dem Vorbild von anderen rechten Parteien in Europa „einen oberflächlichen sozialpolitischen Linksschwenk“ vornehmen „und sich damit noch fester im Milieu der Arbeiter und unteren Mittelschichten verankern“, dann erwartet Nölke, dass es sich mit „einer echten linken Politik und einer grundlegenden Reduktion von Armut für lange Zeit erledigt haben“ wird.
Ein Interview über die unterschiedlichen Ebenen der Armut, den Verwerfungen in unserer Gesellschaft und eine Position, die Nölke als „linkspopulär“ bezeichnet.
Herr Nölke, in Ihrem Buch gibt es ein Kapitel, das trägt die Überschrift „Armut inmitten des Reichtums“. Was meinen Sie damit?
Obwohl Deutschland im Vergleich zu seinen Nachbarländern ein vergleichsweise hohes Wirtschaftswachstum und eine niedrige Arbeitslosigkeit aufweist, sind substantielle Teile der Gesellschaft ökonomisch abgehängt und haben keine Aussicht auf nachhaltige Besserung.
Wer ist in Deutschland arm? Haben Sie Zahlen?
Nach dem „Armutsbericht 2016“ des Paritätischen Wohlfahrtsverbands betrifft das etwa jeden Sechsten. Frauen sind stärker betroffen als Männer, Menschen mit Migrationshintergrund stärker als Alteingesessene. Besonders gravierend ist die Situation alleinerziehender Mütter und die Kinderarmut. Nach den Berechnungen der Hans-Böckler-Stiftung leben knapp zwanzig Prozent der Jungen und Mädchen in armen oder armutsgefährdeten Familien. Überwiegend sind Menschen mit Teilzeitbeschäftigung von Armut betroffen, oft in befristeten Stellen, in einem Zeitarbeitsverhältnis, in geringfügiger Beschäftigung oder in einem Werkvertrag.
In den Medien hören wir immer wieder: Uns geht es gut. Und: Deutschland ist ein reiches Land. Wie kann es sein, dass es Menschen in diesem reichen Land gibt, denen es überhaupt nicht gut geht, weil sie in Armut leben und oder von Armut bedroht sind?
Neben der langsam – aber aufgrund der Rentenreformen und der Zunahme prekärer Beschäftigung auch stetig – wachsenden Altersarmut ist dafür vor allem die Entwicklung des Niedriglohnsektors während der letzten beiden Jahrzehnte verantwortlich. Deutschland hat inzwischen den mit Abstand größten Niedriglohnsektor in West- und Nordeuropa. Die Arbeitslosigkeit ist im Kontext der Herausbildung dieses Sektors zwar gesunken, die verbleibenden Arbeitslosen leiden aber stärker unter Armutsgefährdung als ihre Leidensgenossen in allen anderen Staaten der EU. Und bei der gesunkenen Arbeitslosigkeit sollte man bedenken, dass es hier vor allem um die Aufspaltung ganzer Stellen in Teilzeitstellen und die Auslagerung an Solo-Selbständige geht – die Anzahl der Normalarbeitnehmer und der insgesamt geleisteten Arbeitsstunden liegt heute immer noch unter der der frühen 1990er Jahre.
Sie heben in Ihrem Buch hervor, dass es eine objektive und subjektive Dimension der Armutsproblematik gibt. Können Sie bitte erläutern, was Sie damit meinen?
Bei der subjektiven Armut geht es um Abstiegssorgen und den Eindruck, aus der Gesellschaft ausgegrenzt zu werden. Bei der objektiven Armut geht es um harte Fakten wie relative Armut – also weniger als sechzig Prozent des mittleren Einkommens der Bevölkerung – und absolute Armut, im Fachjargon als „erhebliche materielle Entbehrung“ bezeichnet. Unter letzterer, die etwa über Phänomene wie eine kalt bleibende Heizung oder jeden zweiten Tag ohne eine vollwertige Mahlzeit abgebildet wird, leiden nach dem Armuts- und Reichtumsbericht der Bundesregierung beispielsweise 600.000 Kinder. Bei der objektiven Armut geht es auch um die zunehmende soziale Trennung in unseren Städten, bei denen die Ärmeren in bestimmten Stadtvierteln an der Peripherie konzentriert werden, mit besonders gravierenden Konsequenzen im Bildungssystem.
Und die subjektive Ebene in Sachen Armut?
Bei der subjektiven Seite geht es um ein ganzes Bündel von Phänomenen. Es geht um Angst eines sozialen Abstiegs im Alter, da unser reformiertes Rentensystem den Lebensstandard nicht mehr aufrechterhalten kann. Es geht um die Sorge, dass es den eigenen Kindern materiell schlechter gehen wird als einem selbst. Es geht um die Einstellung, jede Arbeit und jede Arbeitsbelastung akzeptieren zu müssen, unabhängig von der gesundheitlichen Belastung. Es geht um die Befürchtung, dass der befristete Job nicht mehr verlängert wird, weil man dem Arbeitgeber nicht gefällt oder weil es noch billigere Arbeitskräfte gibt. Es geht um die Erwartung, bei einem Jobverlust direkt in das Hartz-Fürsorgesystem abzusacken. Und es geht um die Vertreibung aus der vertrauten Umgebung, in eine unwirtliche Peripherie.
Gerade die subjektive Ebene darf im Hinblick auf die negativen Auswirkungen auf eine Gesellschaft nicht unterschätzt werden, oder?
Die subjektive Ebene birgt für unsere Gesellschaft womöglich eine noch größere Sprengkraft als die objektive Ebene der Armut. Das Kernproblem ist hier die Gefahr einer grundsätzlichen Abwendung von der Gesellschaft und insbesondere vom politischen System. Diese Abwendung kann auf Dauer die Stabilität der Demokratie gefährden. Es gibt inzwischen viele Studien, die zeigen, dass die meisten Menschen in den ärmsten Gruppen der Gesellschaft schon lange nicht mehr wählen gehen, weil sie die Hoffnung aufgegeben haben, dass die Politik ihre Situation grundlegend verbessert. Besonders deutlich ist diese Abwendung von der Politik im Vergleich der Wahlbeteiligung zwischen den reichen und armen Vierteln westdeutscher Großstädte. So sind etwa bei der letzten Landtagswahl in Köln-Hahnwald 82 Prozent der Wahlberechtigten wählen gegangen, in Köln-Chorweiler aber nur 32 Prozent.
Welche Auswirkungen sind noch zu beobachten?
Im Kontext der Aufnahme einer großen Menge von Geflüchteten in den Jahren 2015/2016 ist die resignative Haltung der weniger privilegierten Gesellschaftsgruppen vielerorts in eine eher aggressive Haltung umgeschlagen. Gerade die ärmeren Gruppen – bis hin in die untere Mittelschicht – spüren, dass dadurch die ohnehin schon scharfe Konkurrenz um Jobs für formal nicht so hoch Qualifizierte, um Sozialtransfers und um bezahlbaren Wohnraum in Großstädten noch weiter verschärft wird. Sie haben sich in der Folge in nicht geringer Zahl zur Wahl der AfD entschlossen – nicht weil sie das chauvinistische und neoliberale Programm der Partei schätzen, sondern weil es die einzige Möglichkeit war, den etablierten Parteien einen Denkzettel zu versetzen. Und es half in der Folge überhaupt nicht, dass die durchaus legitimen Sorgen dieser Bevölkerungsgruppen durch das liberale Bürgertum – und leider auch durch viele Repräsentanten der Linken – als dumpfer Neid, als „postfaktisch“ oder gar als rassistisch verunglimpft wurden.
Was bedeutet das denn nun für eine Gesellschaft?
Ich nehme eine wachsende Polarisierung in unserer Gesellschaft wahr, zwischen einem formal hochgebildeten und kosmopolitisch orientierten Bürgertum auf der einen Seite und den eher sesshaften und weniger akademisch gebildeten Gruppen auf der anderen Seite. Die Gräben zwischen diesen Gruppen werden eher noch tiefer. Ich sehe auch eine schleichende Erosion der Demokratie, durch Wahlenthaltung oder durch die Wahl einer Partei, der AfD, die deutliche Vorbehalte gegenüber unserem politischen System artikuliert. Und ich sehe eine wachsende Verachtung der Politiker, die inzwischen auf den letzten Platz der beruflichen Gruppen zurückgefallen sind, denen vertraut wird – noch hinter Werbefachleuten und Versicherungsvertretern. Und bei manchen Menschen führt diese Polarisierung inzwischen zur Gewalt, wie die drastisch gestiegene Zahl der Angriffe gegen Amts- und Mandatsträger zeigt.
Auch wenn wir an dieser Stelle kaum alle Gründe diskutieren können, die überhaupt dazu geführt haben, dass sich schwere gesellschaftliche Verwerfungen in unserem Land erkennen lassen. Aber vielleicht holzschnittartig: Wo liegen denn aus Ihrer Sicht die Ursachen?
Nun, ich würde hier bei der Wirtschafts- und Sozialpolitik anfangen. Deutschland hat in den letzten Jahrzehnten darauf gesetzt, durch Lohnzurückhaltung, geringe öffentliche Investitionen, Kürzungen in den Sozialsystemen und den Aufbau eines Niedriglohnsektors eine Wirtschaftsstrategie zu fahren, die andere Länder durch niedrigere Preise für Exportprodukte auskonkurriert und so die Arbeitslosigkeit in Deutschland reduziert. Diese Strategie hat nicht nur zu wirtschaftlichen Verwüstungen in anderen europäischen Ländern geführt, sondern auch bei uns zu stark zunehmender Vermögensungleichheit, einer Erosion der Mittelklassen und den bereits diskutierten Armutsphänomenen.
Was hat die Politik noch falsch gemacht?
Generell hat sie das Phänomen der ungebändigten Globalisierung als unabänderliches Schicksal hingenommen – oder diese Globalisierung noch intensiviert – anstatt den demokratischen und sozialen Nationalstaat und die zwischenstaatliche Kooperation als Schutzschilde gegen die zerstörerischen und auch nicht von Natur aus zwangsläufigen Aspekte dieses Phänomens hochzuhalten. Wir sehen das an der mangelnden Regulierung der Finanzmärkte, die zur globalen Finanzkrise geführt hat und noch immer bei weitem nicht ausreicht. Wir sehen das an einer Europäischen Union, die sich zunehmend in einen wirtschaftsliberalen Eurosuprastaat verwandelt, mit tiefen Eingriffen in die nationale Demokratie und in Arbeitnehmerrechte. Wir sehen das bei der unzureichend gebremsten Migration, bei der die negativen Auswirkungen auf Arbeitsmärkte, Sozialleistungen und Wohnungen für unsere ärmeren Bevölkerungsgruppen ignoriert werden. Und wir sehen das bei einer Außen- und Sicherheitspolitik, die immer noch auf kostspielige und kontraproduktive Interventionen in anderen Weltregionen setzt.
Wie kommt es, dass in dieser Situation die Linkspartei nicht mehr Wähler hat?
Nun, die Linkspartei zeichnet sich positiv dadurch aus, dass sie der Armutsbekämpfung durch eine besser finanzierte Sozialpolitik einen größeren Stellenwert beimisst als alle anderen Parteien. Auch bei einer weniger interventionistischen Sicherheitspolitik und einer strengeren Regulierung der Finanzmärkte findet die Linkspartei jenseits ihrer aktuellen Wähler viel Zustimmung. Ein Problem wird sicher sein, dass viele Menschen die Kritik der Linkspartei am dominanten Wirtschafts- und Sozialmodell teilen, aber bei der Partei keine kompetente Wirtschaftsstrategie erkennen können, die ein starkes wirtschaftliches Wachstum mit einer besseren Verteilung zu kombinieren verspricht. Aber das Kernproblem in Bezug auf die begrenzten Wahlergebnisse der Linkspartei – trotz großer Armut und Ungleichheit – liegt aus meiner Sicht in der zunehmend kosmopolitischen Haltung der Partei. Die Parteiführung der Linkspartei steht der EU wesentlich positiver gegenüber als große Teile der ärmeren Bevölkerungsgruppen in Deutschland. Und in der Flüchtlingskrise hat sich die Parteiführung auf die Seite der Bundesregierung gestellt, anstatt auf die Seite dieser Gruppen. Generell sehe ich hier eine zunehmende Umorientierung der Partei, weg von der Vertretung der formal weniger gebildeten und sozioökonomisch an den Rand gedrängten Bevölkerungsgruppen und hin zum Milieu der urbanen und universitär gebildeten Gruppen, denen die Grünen inzwischen zu „mittig“ geworden sind.
Wie sieht es mit den Sozialdemokraten aus? Was läuft da falsch?
Der Entfremdungsprozess von den weniger privilegierten Gruppen, den ich gerade für die Linkspartei beschrieben habe, ist bei der Sozialdemokratie mindestens genauso festzustellen. Die SPD ist inzwischen eine Partei der Angestellten und ihre Funktionäre sind überwiegend kosmopolitisch orientierte Akademiker. Generell hat die SPD in den vergangenen Jahrzehnten darauf verzichtet, eine klare Alternative zur liberal-exportorientierten Wirtschaftsstrategie von CDU/CSU und FDP zu entwickeln, sie beschränkt sich auf eine leicht sozialere Variante der letzteren. Die Hoffnungen, die die Nominierung des Schulabbrechers Martin Schulz und seines Gerechtigkeitsmottos vorübergehend in breiten Bevölkerungsgruppen geweckt hatten, sind dann jäh enttäuscht worden, mit den bekannten Folgen für das Wahlergebnis der SPD.
Welche Rolle spielen die Medien, wenn es um die Durchsetzung einer echten linken Politik geht?
Ich möchte hier keiner pauschalen Medienkritik das Wort reden. Die Situation vieler Journalisten ist durch Stellenabbau, Beschleunigung der Arbeitsprozesse und Konzentration der Medieneigentümer nicht einfach. Aber insbesondere in der Flüchtlingskrise wurde die Entfremdung zwischen dem Großteil der Journalisten, die zum liberal-kosmopolitischen Bürgertum gehören, und den formal weniger gebildeten und sozio-ökonomisch weniger privilegierten Teilen der Bevölkerung mehr als deutlich. Es gab hier oftmals einen Mangel an Empathie für die Sorgen und Nöte der ärmeren Bevölkerungsgruppen. Besondere Probleme für die Durchsetzung einer echten linken Politik sehe ich aber in den Wirtschaftsredaktionen. Hier wird uns ja fast täglich vorgehalten, dass die Wachstums- und Arbeitslosenraten im Vergleich zu Deutschlands Nachbarländern so gut seien und dass deshalb von Armutsproblemen keine Rede sein könne. Wenn man dem exportorientierten deutschen Wirtschaftsmodell der letzten Jahrzehnte so unkritisch gegenübersteht, sieht man natürlich keinerlei Notwendigkeit für einen grundlegenden Kurswechsel zu einer sozial ausgewogeneren und stärker auf die Binnennachfrage setzenden Alternative. Aber auch hier sollte man entschuldigend hinzufügen, dass die Journalisten ja auch kaum eine Chance auf einen breiteren Horizont haben, angesichts der wenig pluralistischen Ausbildung an den deutschen Wirtschaftsfakultäten.
Sehen Sie einen Ausweg? Was kann getan werden, um den gesellschaftlichen Verwerfungen beizukommen?
Aus meiner Sicht wäre es essentiell, dass eine der Parteien eine Position einnimmt, die ich in meinem Buch als „linkspopulär“ bezeichne. Eine solche Position, die eine überzeugende linke Wirtschaftsstrategie mit einer kosmopolitismusskeptischen Haltung in Fragen von Militärinterventionen, EU-Supranationalisierung und Migration kombiniert, könnte aus meiner Sicht auf breite gesellschaftliche Unterstützung zählen, insbesondere aus dem großen Lager der Nichtwähler und von Teilen der AfD-Wähler. Sollte die Etablierung einer solchen Position nicht gelingen, sehe ich für die Zukunft allerdings noch weitaus schwerwiegendere Verwerfungen voraus. Das gilt insbesondere für den Fall, dass die AfD nach dem Vorbild von FPÖ, Wilders oder – vorübergehend – dem Front National einen oberflächlichen sozialpolitischen Linksschwenk vornimmt und sich damit noch fester im Milieu der Arbeiter und unteren Mittelschichten verankern kann. Dann dürften sich Fragen nach einer Reduktion gesellschaftlicher Verwerfungen, einer echten linken Politik und einer grundlegenden Reduktion von Armut für lange Zeit erledigt haben.