Der Mord in München-Solln bei Maybritt Illner – recht interessant. Aber Wichtiges wurde nicht vertieft und die Verantwortung der herrschenden Ideologie nicht sichtbar.
Die Runde war plural und mit interessanten Personen besetzt. Leider wurden ihre Hinweise, namentlich jene der Jugendrichterin Kirsten Heisig und des Gefängnisarztes und Schauspielers Joe Bausch, nicht weiterverfolgt, während der Publizist Giovanni di Lorenzo immer wieder belegen konnte, dass Schönheit nicht Substanz ersetzt. Im Anhang finden Sie die Gästeliste und die Links auf die Vorankündigung und das Video von der Sendung. Nun aber einige Anmerkungen zur Sache: Albrecht Müller
Vier Bemerkungen:
- Die Segnungen der Ellenbogengesellschaft: Verrohung und Gleichgültigkeit
Joe Bausch merkte ziemlich am Anfang der Sendung an, dass wir nach seiner Beobachtung jetzt die Segnungen der Ellenbogengesellschaft ernten. Verrohung und Gleichgültigkeit sind quasi systemische Folgen der herrschenden Ideologie. Wenn behauptet wird, jeder sei seines Glückes Schmied, und Solidarität als altbacken abgetan wird, wenn schon Kindern eingetrimmt wird, sie müssten sich unter allen Umständen durchsetzen, dann muss man sich nicht wundern, dass sie zuschlagen, wenn sie groß sind, und dass sie wegsehen, wenn anderen ein Unheil geschieht. Jeder ist seines Glückes Schmied – auch das Opfer auf dem Bahnsteig von Solln. – Ich habe jedenfalls nicht verstanden, warum diese Anregung von Joe Bausch nicht von der Moderatorin vertieft worden ist. Es hätte sich gelohnt. - Die Folgen der Arbeitslosigkeit, mangelnder wirtschaftlicher Perspektiven und von Armut bei Eltern und Kindern
Wenn Kinder in einer Familie aufwachsen – und das sind viele – deren Väter und Mütter arbeitslos sind, wenn dort zuweilen Alkohol und Gewalt an der Tagesordnung sind, dann liegt es ziemlich nahe, dass Kinder und Jugendliche in einer solchen Atmosphäre eben nicht gut lernen können, solidarisch mit anderen umzugehen, Mitleid zu haben, menschliche Regungen zu pflegen. Wir ernten jetzt auch die Folgen der bewussten Missachtung dessen, was in einer Gesellschaft mit einer Reservearmee von Arbeitslosen geschieht. Die Verantwortung der Rechtskonservativen, die Verantwortung von CDU, CSU und FDP für diese Entwicklung, die Rolle des Lambsdorffpapiers und der Wende von 1982 wurde in dieser Sendung auch nicht andeutungsweise thematisiert.
Dabei könnte man schon an einem Nebenschauplatz belegen, wie die Verrohung der Gesellschaft mit Beginn der Regierung Kohl von 1982 befördert und gepflegt worden ist. Im Vorfeld der Wende von 1982 gab es eine Debatte um die Geschwindigkeitsbegrenzung. Die Regierung Schmidt und insbesondere der damalige Bundesminister Volker Hauff wurden aktiv. Verhaltenes Fahren war ein Thema. Der ADAC und mit ihm verbundene Medien machten dagegen mobil mit dem Slogan „Freie Fahrt für freie Bürger“. Und nach der Wende konnte man leibhaftig beobachten, wie eine solche politische Wende sich auf der Autobahn auswirken kann. Die „freien Bürger“ des ADAC fühlten sich „on top“ der Gesellschaft. Gewalt auf den Straßen war nicht mehr geächtet. Diese Zusammenhänge gibt es. Verrohung grassiert dann besonders, wenn auf breiter Front die Gewaltbereitschaft hoffähig wird.
Wie wenig diese Zusammenhänge gesehen werden, wurde in der Diskussion bei Maybritt Illner an einer Einlassung von Di Lorenzo sichtbar. Er hat allen Ernstes behauptet, in München lebten doch alle gut. Schon deshalb kann er den Zusammenhang zwischen miserabler ökonomischer Perspektive und Gewaltbereitschaft gar nicht erkennen. Seine Diagnose über die Lage in München stimmt nicht; nur in seinen Kreisen leben vielleicht alle gut. - Der Mangel an Polizisten, an Einrichtungen zur Pflege der Jugend, an Sozialarbeitern und an Psychologen in den Schulen ist die Folge der systematisch betriebenen Verarmung des Staates
Das ist Ergebnis der herrschenden Ideologie, und es ist immer noch politisches Ziel von Union und FDP. Sie wollen weniger Staat. Sie wollen die Steuern senken, obwohl es bei uns im öffentlichen Bereich überall mangelt. Der Polizeigewerkschafter Freiberg sprach davon, dass die Zahl der Polizisten um 10.000 verringert wurde. Ähnlich sieht es in den Schulen aus. Jugendzentren wurden reihenweise geschlossen. Die Sozialarbeit wird zurückgefahren. Alles eine Folge der systematisch betriebenen Entstaatlichung. Aber zu dieser Verantwortung stehen die Verantwortlichen nicht, wie man auch an den Einlassungen des CSU-Politikers Söder sehen konnte.
Die Moderatorin hakte an dieser Stelle leider nicht ausreichend nach, obwohl mindestens drei der Gesprächspartner auf diesen Mangel hingewiesen haben. (In meinem neuen Buch „Meinungsmache“ finden die Leser das Kapitel 13 mit der Überschrift „Die Verarmung des Staates als strategischer Hebel“.)
Die Verarmung des Staates, deren Opfer heute viele Menschen werden, ist systematisch betrieben worden. Nicht nur von der Union und FDP, auch vom konservativen Teil der SPD um die Finanzminister Eichel und Steinbrück. - Kein Wort zur Rolle des kommerzialisierten und die Verrohung fördernden Fernsehens
Welch großen Einfluss CDU und CSU inzwischen auf die Medien und die Medienschaffenden haben, kann man daran erkennen, dass die Verantwortung des Fernsehens und insbesondere des kommerzialisierten Fernsehens aus den Betrachtungen über die Ursachen von Vorfällen wie den Überfällen und dem Mord in München weitgehend ausgeklammert werden. So auch gestern Abend. Der in den kommerzialisierten Sendern übliche und offenbar mit Lust gepflegte rohe, unmenschliche und unsolidarische Umgang unter Jugendlichen müsste doch Gegenstand von Erörterungen sein, die den Ursachen der Gewalt und den Möglichkeiten der Solidarisierung gegen die Gewalt nachgehen. Genauso die zu beobachtende Absenkung der Gewaltschwelle.
Das wird nicht öffentlich erörtert, unter anderem vermutlich deshalb, weil dann die Verantwortung insbesondere der CDU und der CSU sichtbar würde. Gerade die bayerische Staatsregierung hat immer schützend ihre Hand über die Kommerzsender von Leo Kirch und seinen Nachfolgern, über die Gruppe von SAT1/Pro7, gehalten. Angela Merkel ist bestens verdrahtet mit Frau Mohn von Bertelsmann, den Eigentümern der RTL-Gruppe. CDU und CSU haben in den Jahren 1978-1984 die Kommerzialisierung des Fernsehens und des Hörfunks gegen den Widerstand der damaligen Regierung Schmidt betrieben und schließlich im Jahr 1984 durchgesetzt, übrigens massiv geschmiert mit öffentlichen Milliarden für Verkabelung und andere Fernsehverteil-Techniken – zu Gunsten ihrer Spezies in München und Gütersloh. Auch der Vater der heutigen Familienministerin, Ernst Albrecht, war an vorderster Front an der Kommerzialisierung beteiligt.
Heute beklagen Politiker der CDU und CSU die Folgen. Das konnte man alles vorher wissen. Die Rechtskonservativen haben das Elend sehenden Auges oder aus Ignoranz herbeigeführt. Auch das beschreibe ich in „Meinungsmache“ ausführlich (siehe Kapitel 21 „Das Verschwinden der Medien als kritische Instanz“ und dort insbesondere das Unterkapitel „Die Folgen von Programmflut und Kommerzialisierung konnte man kennen“, Seite 414 ff.)
Wenn man erlebt hat, wie oft aus finanziellen Gründen, um des Vorteils der eigenen Gruppe und Partei willen, und aus ideologischen Gründen die Weichen falsch gestellt worden sind, dann packt einen der Zorn. Das mögen unsere Leser/innen bitte entschuldigen.
Anhang mit Links und Gästeliste:
Tödlicher Mut in der S-Bahn
Wer traut sich jetzt noch zu helfen?
Die Angst fährt mit. Einsame Bahnsteige, dunkle Gänge, verlassene Schalter – abends oder nachts sind Deutschlands S- und U-Bahnhöfe für viele Fahrgäste ein unheimlicher, Angst einflößender Ort. Doch was am vergangen Wochenende in München geschah, passierte am helllichten Tag.
Quelle: ZDF/Text
Quelle: ZDF/Video
Die Gäste:
Konrad Freiberg, Vorsitzender der Gewerkschaft der Polizei (GdP)
Kirsten Heisig, Jugendrichterin
Joe Bausch, Gefängnisarzt und Schauspieler
Giovanni di Lorenzo, Publizist, wirbt für Zivilcourage
Im Publikum:
Alexander Karamanlaki, ehemaliger Schulleiter aus Schleswig-Holstein, wurde 2009 mit dem “XY-Preis – Gemeinsam gegen das Verbrechen” geehrt. Eine Auszeichnung für couragiertes Handeln gegen Kriminalität.
Am Pult:
Markus Söder (CSU), ehemaliger CSU-Generalsekretär, bayerischer Staatsminister für Umwelt und Gesundheit
Christian Ströbele (Die Grünen), stellvertretender Fraktionsvorsitzender Bündnis 90/Die Grünen