Betr.: Kapitalismus. Fortsetzung der Debatte um Systemüberwindung oder „Änderung der Verhältnisse im jetzigen System“
Nach den Leserbriefen zu Flassbecks „Alternativen im nirgendwo“ vom 27.10.2017 folgt heute ein weiterer Beitrag von Heiner Flassbeck. Er verweist darauf, dass er am 27. Oktober nicht über den Kapitalismus als solchen geschrieben habe, sondern der Frage nachgegangen sei, ob „gegenüber einem Großteil der Wähler ein anderes System als Alternative überhaupt vermittelbar ist“. Er fragt dann, was denn die Systemalternativen seien, und zeigt an einigen Beispielen, dass und wie Veränderungen des Systems sinnvoll sind. Albrecht Müller.
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Diesen Faden werde ich in Kürze mit einem Beitrag über die verschiedenen Stellschrauben aufnehmen, die wir zur Veränderung des Systems hätten, wenn die führenden Kräfte wollten. Dabei muss dann auch über ein Problem gesprochen werden, das in der berühmten Aussage des Milliardärs Buffett anklingt: Es herrsche Klassenkampf, den seine Klasse, die Klasse der Reichen gewinnen werde.
In den NachDenkSeiten beschreiben wir seit nunmehr 14 Jahren, mit welchen Mitteln Buffetts Klasse dafür sorgt, dass die eigentlich möglichen Veränderungen in der Wirklichkeit nicht (mehr) stattfinden. Zumindest zurzeit nicht. Auch dieser, viele Menschen – siehe auch Rainer Mausfeld zum Beispiel – umtreibenden Frage werde ich im nächsten Beitrag nachgehen. Hier aber zunächst Flassbecks heutiger Beitrag:
Kommentar von Heiner Flassbeck
Was ist Kapitalismus?
Dass die Sache mit dem Kapitalismus für viele nicht leicht zu schlucken war, habe ich mir gedacht. Dass man aber über ein neues „besseres“ System redet, ohne in aller Deutlichkeit zu sagen, was man meint, ist und bleibt nicht überzeugend.
Auf meinen Artikel über die „Alternativen im Nirgendwo“ hat es sehr viele Reaktionen gegeben (einen Teil davon kann man auf den NDS nachlesen), positive wie negative, vieles war berechtigt, vieles aber auch Missverständnissen geschuldet. Ich will daher noch einmal versuchen, meinen Kernpunkt in Sachen Kapitalismuskritik deutlich zu machen.
Typisch für viele Kritiker meiner Position ist etwa die folgende Reaktion: Flassbecks Hoffnung auf eine Änderung der Verhältnisse im jetzigen System ist eine Illusion:
„Die Grundcharakteristik des Kapitalismus beruht auf der “Ausbeutung des Menschen durch den Menschen”. Daran ändert auch die Unterteilung in frühe oder späte Perioden oder verschiedene Modelle des Kapitalismus nichts, und diese Charakteristik kann nicht geändert werden. Nur mit einer neuen Gesellschaftsordnung kann das überwunden werden. Da der Begriff Sozialismus stark mit der DDR verbunden ist und diese heute immer noch nach Kräften und in allem schlecht geredet wird, ist dieser Begriff in den Köpfen vieler Leute negativ besetzt. … Den Kapitalismus deswegen als alternativlos zu bezeichnen ist jedoch eher kontraproduktiv und ganz sicher nicht das letzte Wort in der Geschichte.“
Bevor ich darauf inhaltlich eingehe, muss ich jedoch klarstellen, dass ich gar nicht über den Kapitalismus als solchen reden wollte, sondern nur darüber, ob gegenüber einem Großteil der Wähler ein anderes System als Alternative überhaupt vermittelbar ist. Und die Antwort ist in meinen Augen eindeutig „nein“, solange man nicht klar sagt, welche Art von System man meint. Nur darauf zu verweisen, man wolle das gegenwärtige System „überwinden“, reicht in einem politischen Prozess, in dem man in Wahlkämpfen viele Wähler gewinnen muss, um etwas verändern zu können, einfach nicht aus.
Was sind die Systemalternativen?
Was sollte man also sagen? Es gibt ja nicht beliebig viele Systemalternativen. Man könnte sich beispielsweise zur Planwirtschaft bekennen? Damit provoziert man aber immer sofort die Beispiele Sowjetunion und DDR und man kann keinen argumentativen Blumentopf mehr gewinnen. Das, sagen darauf die Systemüberwinder, ist unfair, denn wir wissen ja, dass das nicht gut funktioniert hat und außerdem hat es nicht funktioniert, weil der Kapitalismus es permanent boykottiert hat; wir wollen ja etwas ganz anderes.
Doch, was ist das ganz Andere? Selbst China, das immer noch von einer kommunistischen Partei straff geführt wird, ist ohne Zweifel eine Spielart des Kapitalismus und genau seit dem Zeitpunkt, zu dem der Kapitalismus chinesischer Prägung eingeführt wurde, holt das Land dramatisch schnell auf. Daher ist die Assoziation der Masse der Menschen von „Systemüberwindung“ mit „DDR“ und dem „untergegangenen Sozialismus“ vollkommen verständlich. So lange man nicht klar und in verständlicher Sprache darlegt, dass man eine ganz neue Idee für ein System hat, das ohne Kapitalismus auskommt, wird man dem Totschlagargument mit der DDR niemals entkommen.
Mit dem Neuen ist es aber tatsächlich nicht so einfach. Hochkomplexe Gesellschaften wie es die heutigen Systeme nun einmal sind, in etwas zu überführen, das ähnlich gut funktioniert, aber auf die Gewinnanreize des Kapitalismus verzichtet, sich also rein staatlich oder „altruistisch/genossenschaftlich“ organisiert (viel mehr gibt es ja nicht), ist weit mehr als eine Herkulesaufgabe. Die mag man sich zutrauen. Doch dann muss man, um die dahinter stehende Strategie in einem Wahlkampf kommunizieren zu können, unglaublich konkret werden und den Bürgern sagen, was da auf sie zukommen könnte. Auf ein paar funktionierende Landkommunen zu verweisen als „Beweis“ dafür, dass alternative Lebensentwürfe möglich sind, reicht sicher nicht. Nur von Systemüberwindung zu reden, ohne neue Idee für die institutionelle Beschaffenheit der gesamten Gesellschaft und ohne eine ganz konkrete Wirtschaftsstrategie (in einer kapitalistischen Welt zumal) ist sinnlos und zum Scheitern verurteilt, weil es die Masse der Menschen abschreckt und nicht anzieht.
Der Kapitalismus als solcher?
Nun aber zum Kapitalismus als solchem. „Ausbeutung des Menschen durch den Menschen“ klingt ja wirklich gut, wenn man nicht im obigen Sinne ernsthaft über die Systemalternativen nachdenken will. Was aber ist mit einem Kapitalismus, in dem eine demokratisch gewählte Regierung dafür sorgt, dass die Masse der Menschen am Fortschritt zwingend in vollem Maße beteiligt wird und die Ergebnisse des Marktprozesses so umverteilt werden, dass diejenigen, die sich am unteren Ende der Einkommensskala befinden, aufholen können und somit soziale Mobilität jederzeit gewährleistet ist?
Sicherlich kann man dazu immer noch sagen, es sei ein System, bei dem Menschen andere Menschen ausbeuten. Wenn es in diesem System aber allen Menschen besser geht als in all den alternativen Systemen, die bis heute ausprobiert worden sind, klingt der schöne Spruch von der „Ausbeutung“ ziemlich hohl und in einem Wahlkampf holt man damit keinen Hund hinter dem Ofen hervor.
Man sagt auch, der „Kapitalismus mit seinem Verwertungsinteresse“ sei von demokratisch gewählten Regierungen gar nicht aufzuhalten. Doch, er ist aufzuhalten und er ist schon Millionen Male aufgehalten worden. Ein kompetenter und souveräner Staat, dessen Regierung von Menschen gewählt worden ist, die man davon überzeugen konnte, dass es einen vernünftigen Kapitalismus geben kann, sorgt für Machtgleichgewicht am Arbeitsmarkt, verbietet die Produktion bestimmter (umweltschädlicher) Produkte, schreibt den Unternehmen vor, welche Sicherheitsnormen am Arbeitsplatz zu gelten haben, legt Abgaben fest, die von den Unternehmen zu entrichten sind und schafft insgesamt einen sozialen Rahmen, den die Unternehmen respektieren und an dessen Kosten sie sich beteiligen müssen.
Das funktioniert im Kapitalismus sogar ganz besonders gut, weil die Gier der vielen dafür sorgt, dass denen, die wegen staatlicher Eingriffe über die Wupper gegangen sind, keine Träne nachgeweint wird. Dagegen waren die praktisch erprobten planwirtschaftlichen Systeme sehr unbeweglich in ihrer Produktionsstruktur, weil jeder Betrieb seine Arbeiter und deren Arbeitsplätze gegenüber der zentralen Steuerung verteidigt hat und auch verteidigen durfte. Dagegen eröffnet jedes Verbot eines Produktes im Kapitalismus einem anderen Kapitalisten neue Gewinnchancen, indem er versucht, die entstandene Lücke mit einem anderen Produkt zu füllen.
Darüber hinaus kann der Staat, ohne selbst technisch zu intervenieren, mit einfachen finanziellen Eingriffen die Produktionsstruktur ändern, wenn er das aus übergeordneten Gründen für notwendig hält. Wie man in Deutschland gesehen hat, gibt es ein sehr schnell und sehr effizient funktionierendes Verwertungsinteresse für Windräder und Solaranlagen, wenn der Staat entsprechende Anreize schafft. Wäre der Staat mutiger (und hätte er ein solches Mandat vom Wähler) und kompetenter (verstünde er sich weniger als Interessenvertreter) könnte er auch in der Landwirtschaft flächendeckend dafür sorgen, dass der Raubbau an der Natur drastisch vermindert wird.
Es gibt nicht „den Kapitalismus“
Man sollte sich davor hüten, in der politischen Debatte mit bloßen Schlagworten wie dem „Kapitalismus“ alle diejenigen zu diskreditieren, die sich nicht dem hehren Ziel der „Systemüberwindung“ verschrieben haben, sondern im Hier und Jetzt etwas ganz Konkretes für die Menschen tun wollen. Es ist lächerlich leicht, sich mit Marx-Zitaten und dichtem Systemnebel zu immunisieren, aber sehr schwer, das heutige System zu verstehen und konkrete Vorschläge zu seiner Verbesserung zu machen, weil man dabei gegen den grassierenden Lobbyismus in der Politik, die Ideologie der akademischen Ökonomen und die Verteidigung des Mainstream in den meisten Medien bestehen muss. Dass es möglich ist, in diesem Sinne viel zu erreichen, haben erst jüngst Bernie Sanders und Jeremy Corbyn gezeigt. Es gibt daher keinen Grund, in Deutschland in Mutlosigkeit und Resignation zu verfallen, Systemillusion eingeschlossen.
Was wir seit vier Jahrzehnten (seit Reagan, Thatcher und Kohl) in vielen Ländern der Welt erleben, ist die Wiederbelebung eines primitiven Lobby-Kapitalismus, der eigentlich längst überwunden schien und zudem wirtschaftlich nicht erfolgreich war. Warum man sich angesichts dessen nicht die Rückkehr zu einem vernünftigen Kapitalismus auf die Fahnen schreiben sollte, bevor man über Wolkenkuckucksheime philosophiert, kann ich nicht nachvollziehen. Kommt hinzu, dass man nur auf diesem demokratischen Wege überhaupt etwas ändern kann, weil man nur so genügend Wähler gewinnen kann, um den Kapitalisten und ihrer Lobby Paroli innerhalb ihres eigenen Kapitalismus zu bieten.
Ein anderer Leser hat mir Folgendes geschrieben:
„Sollen alle, die jetzt kein sonniges Plätzchen haben, doch bitteschön warten bis die Systemüberwinder das neue System erfunden haben? Warum nicht zunächst einmal die konkrete Lebenssituation vieler Bürger verbessern? Warum sollte die Umsetzung konkreter Politikrezepte nicht prinzipiell möglich und deswegen auch attraktiv aus Sicht der Wähler sein? In unserer Innenstadt trifft man an bestimmten Plätzen in einem Radius von etwa 150m in der Nacht bestimmt dreißig Menschen (darunter einige unter achtzehn Jahren), die sich Nacht für Nacht in irgendeine Ecke kauern. Und das in einer superreichen Stadt im superreichen Deutschland, auf dem reichsten Kontinent. Warum brauche ich eine „Systemänderung“, um diesen Menschen das zu ersparen?“