Vom kollektiven Wahn der „Die-Groko-ist-schuld-an-der-Niederlage“-Erzähler und den Folgen für unser Land: Eine schlimme Koalition steht ins Haus.
Die SPD-Führung um Martin Schulz hat zwar die Wahl verloren, aber sie hat den Kampf um die Erzählung über die Gründe dieser Katastrophe haushoch gewonnen: „Die Große Koalition ist schuld“ – so tönt es aus allen Lautsprechern, mit wenigen rühmlichen Ausnahmen. Dieser Spin, diese Erzählung, hatte gleich am Wahlabend das erste Opfer. Die SPD-Führung gab die Option für eine Regierungsbeteiligung aus der Hand. Sie zog sich beleidigt in die Oppositionsrolle zurück. Das ist schon deshalb schlecht, weil Jamaika vermutlich fürchterlich wird. Albrecht Müller.
Die NachDenkSeiten sind vor 14 Jahren ans Netz gegangen, um Meinungsbildungsprozesse durchschaubar zu machen und dazu notfalls auch gegen den Strich zu bürsten. Das hat Jens Berger gestern mit einer Bewertung der Vorschläge des französischen Präsidenten getan, eine Bewertung, die ihnen derart aufklärend andere Medien selten bieten. Ich will heute im Sinne des Grundanliegens der NachDenkSeiten analysieren, wie man uns mit den Erzählungen über die Gründe des Wahlausgangs hinters Licht führt:
- Jamaika wird vermutlich schlimm
Die Koalition der vier neuen Partner wird eine Mittel-bis-Oberschicht-Koalition. Dafür werden FDP und Die Grünen sorgen; der Arbeitnehmerflügel der Union ist so ausgedünnt, dass von dort nur wenige soziale Akzente gesetzt werden können. Praktisch wird uns der Wirtschaftsflügel der Union zusammen mit den Bürgerlichen von Grünen und FDP regieren. Wo der Hase langläuft, das konnte man jetzt schon an der Zustimmung Angela Merkels zu den Vorschlägen von Macron sehen.
Sicherheitspolitisch wird die neue Koalition alles absegnen, was USA und NATO von uns verlangen und jetzt ja auch der französische Präsident ins Spiel gebracht hat: militärische Interventionen all überall auf der Welt und mehr Geld für die Rüstung. Immerhin hatte die SPD im Wahlkampf noch ins Spiel gebracht, nicht mehr Geld für Rüstung auszugeben und die 2%-Forderung von USA und NATO nicht zu befolgen. Das hätte sie in eine neue große Koalition als wichtige Forderung einbringen können. Jetzt ist das passé.
Jamaika ist von den Atlantikern besetzt. Typische Vertreter dessen sind die Spitzenkandidaten der Grünen, Özdemir und Göring-Eckardt. Von der ehemaligen Friedenspartei Die Grünen ist kein Widerstand gegen die Dominanz des Militärischen zu erwarten.
Auch die Aggressivität gegenüber Russland wird von den Grünen in der neuen Jamaika-Koalition kräftig mit genährt werden. So wird auch an diesem Thema sichtbar, wie wichtig es gewesen wäre, dass die SPD sich ihre Option für eine Regierungsbeteiligung offengehalten hätte. Immerhin stand Gabriel zumindest in letzter Zeit als Außenminister für eine leichte Öffnung auch in Bezug auf die Sanktionen. Mit der CSU zusammen wäre man bei diesem Thema wahrscheinlich ein ganzes Stück in einer großen Koalition weitergekommen. Jetzt können wir unsere Hoffnungen auf eine Milderung der Konfrontation zwischen dem Westen und Russland nur noch an der CSU festmachen, vielleicht noch ein bisschen an der FDP.
- Die Große Koalition sei schuld am Niedergang der SPD, ist eine clever gepflanzte Wahnvorstellung und von Fakten allenfalls schwach gestützt. Die eigentlichen Ursachen waren die Beschädigung des programmatischen und politischen Profils der SPD seit 1999
Hier ist eine nützliche Tabelle mit den Bundestagswahlergebnissen seit Beginn der Bundesrepublik. Ein Ausschnitt für die zur Analyse wichtige Zeit ist hier:
Der SPD erreichte mit dem Kanzlerkandidaten Schröder und dem Parteivorsitzenden Lafontaine 1998 40,9 %. Das gute Ergebnis und der damit mögliche Regierungswechsel von Kohl zu Schröder gründete auch in der mit den beiden Personen erkennbaren Breite der SPD.
Am Ende der rot-grünen Koalition, im Jahr 2005, hatte die SPD schon 6,7 % verloren. Ein erster großer Verlust, der offensichtlich mit einer großen Koalition nichts zu tun hat; dann regierte ab 2005 die große Koalition und die SPD verlor bis 2009 kräftig. Dann waren es nur noch 23 %, und dann 2013, nach vier Jahren Opposition 2,7 % mehr und dann wieder ein neuer Verlust auf 20,5% bis 2017.
Da mag die Regierungsbeteiligung unter der Kanzlerschaft von Angela Merkel eine Rolle gespielt haben. Aber ausschlaggebend für die dramatische Halbierung seit 1998 ist doch nicht die Regierungsbeteiligung oder die Rolle der Opposition. Ausschlaggebend waren die großen politischen Entscheidungen der SPD, die ihr Profil als fortschrittliche und der Sozialstaatlichkeit und der Friedenspolitik verpflichtete Partei zertrümmerten:
- 1999 die Beteiligung am Jugoslawienkrieg und damit der Einstieg in die militärische Intervention außerhalb des NATO Bereichs.
- Der sozialdemokratische Bundesfinanzminister Hans Eichel hat sich und die SPD ab 1999 als Sparkommissar profiliert und das großartige Profil der SPD als Partei einer aktiven Beschäftigungspolitik auf dem Altar seiner Public Relations geopfert.
- Damals begann die Verlotterung der Infrastruktur.
- Damals wurde die Privatisierungspolitik der Regierung Kohl fortgesetzt und faktisch und propagandistisch durch solche obskuren Konstrukte wie ÖPP ergänzt.
- Zugleich begann die SPD mit Steuerentlastungen zugunsten der oberen und zulasten der niedrigen Einkommen. Von symbolischer Bedeutung und von faktischer Bedeutung ist in diesem Zusammenhang die Befreiung der Gewinne beim Verkauf von Unternehmen und Unternehmensteilen von der Besteuerung, in Kraft getreten am 1.1.2002 und immer noch in Kraft!; und von mehr als symbolischer Bedeutung ist der Bruch des Wahlkampf-Versprechens von 2005, die Mehrwertsteuer nicht wie von Frau Merkel gewollt um 2 % anzuheben. Der sozialdemokratische Finanzminister vereinbarte mit Merkel stattdessen 3 %. Dieser Missgriff war doch nicht eine Folge der Bildung der Großen Koalition, es war die Folge der Einstellung jenes von der SPD gestellten Bundesfinanzministers und die SPD-Fraktion hat diesen Wortbruch klaglos mitgemacht.
- Gleich zu Beginn der Nuller Jahre wurde von der Regierung Schröder die sogenannte Rürup-Kommission eingesetzt. Dort wurde unter anderem die Erosion der Leistungsfähigkeit der Gesetzlichen Rente vorbereitet. Zum 1.1.2002 kam die Riester-Rente. Ein „Meisterstück“ sozialdemokratischer Sozialpolitik. Ich erinnere mich noch gut daran, wie ich als ehemaliger Bundestagsabgeordneter bei einer Sitzung der Parlamentarischen Linken der SPD-Bundestagsfraktion davor warnte, die Privatisierung der Altersvorsorge einzuleiten. Damals widersprach mir die jetzt zur Fraktionsvorsitzenden gewählte Andrea Nahles. Die Vorschläge, die sie als Sozialministerin für die Verbesserung der Altersvorsorge gemacht hat und die Weigerung, alle politische und finanzielle Kraft in die Stärkung der gesetzlichen Altersrente zu stecken, zeugen davon, dass sie nichts gelernt hat. Und dieser Geist wird dann leider auch den gefeierten Gang in die Opposition begleiten.
- Dann, 2003, die Agenda 2010 und der damit eng verbundene Verlust des Profils der SPD als einer Partei der sozialen Sicherheit.
- Dann damit verbunden Propaganda und politische Entscheidungen für Leiharbeit und prekäre Arbeitsverhältnisse und für den Niedriglohnsektor.
- Und dann im weiteren Verlauf der vergangenen Jahre die Beteiligung an mehreren Kriegen – in der großen Koalition mitgemacht und in der Opposition zwischen 2009 und 2013 auch nicht opponiert.
Das und einiges mehr sind die Ursachen für den Verlust an Profil und Glaubwürdigkeit und für die jetzt erreichte absolute Katastrophe von 20,5 % und den Verlust des Charakters einer Volkspartei.
- Weil die große Mehrheit der Mandatsträger der SPD diese wirklichen Ursachen ihres Niedergangs verdrängt hat, konnten Martin Schulz und die SPD-Führung mit ihrer obskuren Erklärung für den am 24. September von den Wählern und Wählerinnen dokumentierten Vertrauensverlust so breit landen. Und selbst ein so alberner Vorstoß wie jener, Angela Merkel sei schuld, weil sie sich der Auseinandersetzung verweigert hat, fand Zustimmung und Weiterverbreitung.
Der kollektive Wahn grassiert.
Schulz und die SPD-Führung erzählen die Geschichte vom Unglück mit der großen Koalition.
Selbst ein Abgeordneter, der das Image pflegt, eine eigene Meinung zu haben, fällt auf diesen Trick herein: Marco Bülow aus Dortmund hat einen Aufruf gestartet: „SPD.erneuern“. Siehe hier. Dort schreibt er:
„Der Ausschluss der Fortsetzung einer Großen Koalition ist notwendig und darf nicht aufgegeben werden, falls Jamaika scheitert. … In der Großen Koalition hat die SPD stark an Vertrauen und Profil eingebüßt.“
Zuvor habe ich gezeigt, dass dies einfach nicht stimmt. Und dass dieser Abgeordnete auch noch dazu aufruft, auch dann nicht Regierungsverantwortung zu erwägen, wenn Jamaika scheitert, ist bemerkenswert. Trotzig jedenfalls, klug nicht.
Überall ist die Wahnvorstellung, die SPD sei wegen der großen Koalition abgesackt, verbreitet – bei der Bürgermeisterin von X wie beim sozialdemokratischen Iraner auf dem Markt in der Stadt, auch bei der Intelligentia und den Vertretern der Kunst und Literatur, die den Aufruf der „Aktion für mehr Demokratie e.V.“ unterschrieben haben. 1300 intelligente Menschen haben hier unterschrieben, dass sie die große Koalition nicht mehr wollen, weil sie in ihr offenbar den Grund und die Ursache allen Übels sehen.
Mir sind inzwischen zwei rühmliche Ausnahmen begegnet:
- Andrea Ypsilanti mit einem sehr guten Text. „Es ist Zeit!“ 12 Minuten
- und, wie auf den NachDenkSeiten schon berichtet, der Bezirksvorsitzende der oberpfälzischen SPD, Franz Schindler, der sich hier jenseits des kollektiven Wahns, das ganze Elend der Großen Koalition zuzuschreiben, geäußert hat.
Sicher gibt es auch noch andere Stimmen der Vernunft. Aber nach meinem Eindruck wenige.
Es ist noch eine Anmerkung zu dem Versuch fällig, Angela Merkel für die SPD-Schlappe verantwortlich zu machen.
Schulz hat das ja schon beim Duell mit Merkel am 3. September und dann am Wahlabend versucht. Merkels Wahlkampf sei skandalös gewesen, sie habe sich der Debatte entzogen und Politik verweigert.
Auf diese Idee, dem politischen Konkurrenten solches vorzuwerfen, wäre keiner der Spitzenpolitiker, weder Brandt noch Schmidt, weder Johannes Rau noch Hans-Jochen Vogel, deren Wahlkampf ich mitgestaltet oder zumindest beobachtet habe, gekommen. Die CDU-Vorsitzende ist doch nicht verpflichtet, den Bedürfnissen der Konkurrenz gerecht zu werden. Es ist doch Sache ihres politischen Konkurrenten, also im konkreten Fall von Schulz und der SPD, sie zu stellen und den Wahlkampf entsprechend anzulegen.
Das ist nicht gelungen, weil die SPD sich in weiten Teilen der CDU angepasst hat, nicht umgekehrt, wie immer behauptet wird. Die bei der Attacke von Schulz auf Merkel mitschwingende Behauptung, die CDU und Merkel hätten sich „sozialdemokratisiert“, ist doch nicht richtig. Das ist Teil einer cleveren Strategie.
Damit nicht der falsche Eindruck entsteht, die NachDenkSeiten würden Angela Merkel ungebührlich in Schutz nehmen, muss darauf hingewiesen werden, dass wir wahrscheinlich mehr und Gründlicheres zur Entzauberung dieser Bundeskanzlerin geliefert haben als die SPD selbst. Seit Jahren tun wir das, zuletzt hier: Es gibt nicht nur 14 Gründe, Angela Merkel abzuwählen. Es gibt viele mehr: mindestens 27 insgesamt. und hier Merkel-Land ist ein hohles Land. Mit viel Protz und wenig Empathie. 14 gute Gründe dafür, Angela Merkel nicht zu wählen. Oder hier Werner Rügemer auf den NachDenkSeiten: Schauen Sie bitte künftig Angela Merkel auf die Finger. Um Ihren Blick zu schärfen, weisen wir auf das jetzt vorliegende Video mit Werner Rügemers …
Diese Dokumente können für Sie von Nutzen sein, wenn Sie sich künftig vermehrt in die politische Debatte einschalten wollen.
- Erneuerung in der Opposition? Einfluss auf die Regierungspolitik? Der AfD Paroli bieten, von den Bänken der Opposition besser möglich als in der Regierung?
Die Antworten auf diese Fragen kennt man natürlich nicht, aber man kann versuchen, sie zu erforschen. Zweifel sind berechtigt. In Stichworten:
- Schon die ersten Personalentscheidungen zeigen, dass von Erneuerung keine Rede sein kann. Andrea Nahles, die neue Fraktionsvorsitzende, ist mit den Fehlern der Regierungspolitik der SPD eng verbunden. Wo da Erneuerung herkommen soll, ist schleierhaft. Mit der Entscheidung für den neuen ersten parlamentarischen Geschäftsführer Carsten Schneider ist eine vielsagende Richtungsentscheidung getroffen worden. Er gehört führend zum konservativen Seeheimer Kreis und er war als Haushaltsexperte ein ausgewiesener Vertreter der inhaltslosen Austeritätspolitik. Er hat jetzt die Rolle des Strippenziehers. Viel Vergnügen bei der Erneuerung kann man den neuen Abgeordneten da nur wünschen!
- Auch die Tatsache, dass die neuen Abgeordneten es sich gefallen haben lassen, dass über ihre Köpfe hinweg die personellen Vorentscheidungen getroffen worden waren, spricht nicht gerade für gute Bedingungen zum Neuanfang.
- Der Einfluss auf die Regierungspolitik und auch schon auf die Koalitionsverhandlungen wird schon deshalb gering sein, weil das Regierungslager immer sagen kann: Ihr habt euch ja schon am Wahlabend dafür entschieden, nicht mitgestalten zu wollen, jedenfalls nicht mitregieren zu wollen.
- Wenn die SPD-Fraktion die Hauptrolle der Konfrontation mit der AfD übernimmt, dann geraten die vier anderen Parteien in die wunderbare Rolle des Weltkindes in der Mitten.
- Und noch etwas: der Einfluss auf Medien wird in der Opposition um vieles geringer sein als in der Regierung. Und die Schonzeit für Martin Schulz ist beendet.
- Und noch etwas: die SPD wird mit ihren 20 % in der Opposition kaum mehr bei Personalentscheidungen mitreden können. Das gilt für Besetzungen zum Beispiel des Sachverständigenrates und es gilt für die Besetzung in den Gremien der öffentlich-rechtlichen Medien und bei vielen anderen Institutionen, deren Aufsichtsgremien von den regierenden Parteien mitbestimmt werden.
Schulz hat das alles aus der Hand gegeben, und alles um der billigen Rechtfertigung für den Wahlverlust willen. Weil er und die SPD-Führung nicht bekennen wollen, warum sie wirklich verloren haben.
- Wenn es im Zuge der Verhandlungen der anderen vier Parteien noch einmal die Chance gäbe, die Option für eine große Koalition zu öffnen oder sogar ein Bündnis aus SPD, FDP, Linkspartei und Grünen ins Spiel zu bringen, dann sollte man diese Chance ergreifen.