Gestatten Sie mir eine dezente Dosis Zynismus
Es ist schon paradox – während im Sommer 2017 ein Song über einen Flüchtlingshelfer aus dem „Sommer 89“ zum Netz-Hit wird, werden die Seenotretter der Gegenwart kriminalisiert, die jährlich tausende Flüchtlinge im Mittelmeer vor dem Ertrinken retten. In unseren Herzen sind „wir“ die Guten, die mit dem Bolzenschneider die Zäune niederreißen. In der Realität sind „wir“ jedoch die Bösen, die Mauern bauen, Flüchtlinge am liebsten verrecken ließen und dafür mit Warlords ins Bett steigen, die „wir“ normalerweise nicht eines Blickes würdigen würden. Vielleicht sollte Chinas Staatspräsident Xi Jinping beim nächsten Treffen mit den Führern der EU einmal die Menschenrechtssituation an der europäischen Südgrenze ansprechen, bevor er den Europäern lukrative Geschäfte in Aussicht stellt? Der Sommer 2017 ist nur mit einer dezenten Dosis Zynismus zu ertragen. Von Jens Berger.
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Wann haben Sie eigentlich das letzte Mal etwas über die aktuelle Situation in Libyen gehört? Es ist ja schon seltsam. Auf der einen Seite verhandelt die EU momentan mit „Libyen“ über einen neuen „Flüchtlingsdeal“. Kernpunkte sollen die effektive Schließung der libyschen Südgrenze für Flüchtlinge und der radikale Einsatz der libyschen Küstenwache gegen „Schlepperbanden“ sein. Parallel dazu schachert Frankreichs neuer Sonnenkönig Macron über die Einrichtung sogenannter „Hotspots“ … böse könnte man sie auch Konzentrationslager nennen. Oberflächlich betrachtet, klingt das alles nicht sonderlich spektakulär. Seit die AfD im Sommer 2015 de facto die deutsche Flüchtlingspolitik diktiert, Bilder von Ertrunkenen wie von Geisterhand aus den Medien verschwunden sind und Menschlichkeit in der Flüchtlingsfrage als Naivität und Schwäche interpretiert wird, gehören solche „Deals“ schließlich zum Alltag.
Ok, Libyen ist kein „echtes“ Land. Der starke Mann in Tripolis, mit dem Macron und die EU-Gesandten verhandeln, ist General Haftar, der schon zu Gaddafis Zeiten ein führender Militär war und seitdem ganz einfach die Seiten gewechselt hat. Heute beherrschen seine Truppen, die Seit´ an Seit´ mit den Gaddafi-Loyalisten kämpfen und von einem breiten Bündnis aus USA, EU und Russland unterstützt werden, nur Teile des Landes. Es herrscht Bürgerkrieg und Haftar würde man wohl unter anderen Umständen am ehesten als Warlord bezeichnen, der mit Menschenrechten und Demokratie nicht viel am Hut hat. Aber das muss er ja auch nicht, schließlich hat er – wie im Osten der türkische Präsident Erdogan – den „Flüchtlingsjoker“ in der Hand.
Nun soll ein libyscher Warlord also Europas Asyl- und Flüchtlingspolitik exekutieren? Es klingt verrückt, aber genau dies ist der Plan der EU. Dabei ist bekannt, dass die Flüchtlinge und Migranten in Libyen Folter, Vergewaltigung und Zwangsarbeit ausgesetzt sind. Die „libysche“ Küstenwache, eine zutiefst korrupte „Piratentruppe“, die eng mit dem Warlord al-Bija verbunden ist, der selbst als „Pate“ der Schleuser-Mafia gilt, wird schon jetzt mit Mitteln der EU von EU-Militärs ausgebildet, um Flüchtlingsboote am besten schon in libyschen Gewässern „zum Umkehren zu bewegen“ – ohne dass es überhaupt einen Mechanismus gibt, mit dem die EU die Einhaltung des Völker- und Seerechts überprüfe könnte.
Um es zugespitzt zusammenzufassen: Die EU ist dabei, ihre Flüchtlings- und Migrantenabwehr im Mittelmeer an eine libysche Bürgerkriegspartei auszulagern, für die Menschenrechte ein Fremdwort ist und deren Warlords selbst mit Menschenhandel und Schlepperdiensten Geld verdienen. Noch profitabler ist allerdings der EU-Deal. Nach langem Poker verlangt nun Ober-Warlord Haftar stolze 20 Milliarden Euro von der EU – dafür bietet er ein Komplettpaket, das auch die gewaltsame Vertreibung der ungeliebten privaten Seenotretter beinhaltet. Denen ist nämlich in diesem zynischen Spiel die Rolle des Schwarzen Peters zugedacht.
„Selbsternannte Seenotretter“, „Reiseunternehmen auf dem Mittelmeer“, „Gutmenschen“, die als „verlängerter Arm der Schlepper“ Hand in Hand mit den Menschenhändlern zusammenarbeiten – das stammt nicht von rechten Trolls aus dem Kommentarbereich, sondern vom Innenminister de Maiziere höchstpersönlich und ist natürlich ausgemachter Unsinn. Dass im ersten Halbjahr 2017 nach offiziellen Zahlen – die eigentlichen Zahlen dürften weitaus höher liegen – „nur“ 2.397 Menschen auf der Flucht durch das Mittelmeer ertrunken sind, ist hauptsächlich den privaten Helfern zu verdanken, die unter Einsatz großer Mühen auf spendenfinanzierten Schiffen zwischen Lampedusa und der libyschen Küste Schiffbrüchige retten. Auch wenn ich dafür wieder viele Hassmails bekommen werde – für mich sind diese Menschen Helden und keine Verbrecher.
In der öffentlichen Debatte finden kritische Kommentare zur Regierungspolitik jedoch keinen Raum. Hier darf ein Innenminister ungestraft und fern jeglicher Sachkenntnis weiterhin unken, dass die privaten Seenotretter sogar für die Todesopfer verantwortlich seien, da das Vorhandensein einer Seenotrettung ein „Pull-Faktor“ für Flüchtlinge sei. Ok, getreu dieser Logik werde ich mich mal beim hiesigen Rettungsdienst beschweren. Denn der müsste dann ja auch für die zahlreichen tödlich verunglückten Motorradfahrer hier im Harz verantwortlich sein – denn wenn es hier keinen Rettungsdienst gäbe, würden die Motorradfahrer sicher einen weiten Bogen um den Harz machen oder gleich zu Hause bleiben. Das ist Unsinn? Natürlich ist es das. Genau so unsinnig wie die These, nach der Seenotretter Flüchtlinge im Mittelmeer erst zur Flucht animieren würden. Mein Gebrabbel bleibt allerdings folgenlos, die EU hat auf Empfehlung von de Maiziere und Co. nun der libyschen Küstenwache freie Hand im Kampf gegen die Flüchtlinge und die Seenotretter gegeben. Dazu fällt einem sogar inklusive einer dezenten Dosis Zynismus nichts mehr ein.
Dabei waren wir vor zwei Jahren doch eigentlich schon viel weiter. Eigentlich galt es als abgemacht, dass mittel- bis langfristig der Migrationsdruck von Süden her nur dann entschärft werden kann, wenn man sich politisch den Fluchtursachen stellt. Doch was ist geschehen? Nichts! Die Kriege in Nordafrika, Nahost und Afghanistan werden unvermindert fortgeführt, der Westen mischt immer noch in allen Konflikten militärisch mit, im Welthandel wurden immer noch keine Mechanismen gefunden, die den Menschen in den ärmsten Ländern ein menschenwürdiges Leben ermöglichen, Europa und der globale Norden beuten nach wie vor den globalen Süden hemmungslos aus … nein, niemand kann sich wundern, dass es die Migranten nach wie vor in den reichen und sicheren Norden zieht.
Was „wir“ in der Zeit gemacht haben, ist lediglich eine Verbesserung der Grenzschutzmaßnahmen. Die spanische Südgrenze bildet nun ein sechs Meter hoher Hochsicherheitszaun, im Osten unterbindet das türkische Militär mit europäischer Hardware finanziert aus Brüssel den Zustrom. Und im Süden sollen es nun libysche Warlords richten. Dafür gab Europa bereits heute 17 Milliarden Euro aus – Thales, Siemens, EADS und Co. kassierten einen Großteil des Geldes und dürfen sich künftig sicher auch über Milliardenaufträge der libyschen Warlords freuen. Dass mit europäischen Steuergeldern damit auch europäische Waffen für einen Bürgerkrieg in Nordafrika finanziert werden, ist bei all dem grenzenlosen Zynismus, der die Debatte beherrscht, schon kaum mehr eine Nachricht. Und ja – es gibt natürlich auch Verantwortliche für diese Entwicklung. Allen voran Angela Merkel, die erstaunlicherweise bei vielen Linksliberalen immer noch als „Kanzlerin mit Herz“ gilt und die paradoxerweise gerade bei der Flüchtlingspolitik partout nicht mit ihrem Handeln in Verbindung gebracht wird.
Das Thema ist durch. Dass immer noch täglich mehr als 30 Flüchtlinge im Mittelmeer ertrinken, stört „uns“ auf dem Oberdeck der Titanic schon lange nicht mehr. „Wir“ fürchten Wahlerfolge der AfD und lassen libysche Milizen gegen gute Bezahlung die Drecksarbeit machen, für die „wir“ uns zu schade sind. Und solange das Elend nicht über den Bildschirm flimmert oder gar an „unsere“ Haustür klopft, müssen „wir“ uns auch keine Gedanken über Fluchtursachen, Krieg, Vertreibung und einen Welthandel machen, der vielleicht doch nicht so gerecht ist, wie „wir“ es „uns“ eingeredet haben. Vielleicht ist der Kettcar-Song über den „Sommer 89“ deshalb so beliebt – er hilft uns beim Verdrängen der Gegenwart und versetzt uns zumindest im Geiste in eine unschuldigere Zeit.