Venezuela – Polarisierung bis an den Rand des Bürgerkrieges

Frederico Füllgraf
Ein Artikel von Frederico Füllgraf

Am Sonntag, den 31. Juli, fand in Venezuela die Wahl zu einem verfassungsgebenden Konvent statt, über dessen Vorfeld in den Nachdenkseiten ausführlich berichtet wurde (siehe insbesondere Ausgaben vom 12. Juli und 20. Juli). Schon kurz nach Schließung der Wahllokale beeilte sich Präsident Nicolás Maduro, das Ereignis euphorisch zu bejubeln: „Wir haben jetzt eine verfassungsgebende Versammlung… Dies ist die erfolgreichste Abstimmung der Bolivarischen Revolution in ihrer gesamten, 18-jährigen Wahlgeschichte”. Tibisay Lucena, Direktorin des Nationalen Wahlrats (CNE), pflichtete Maduro bei. Mehr als 8 Millionen Wähler hätten sich an dem Urnengang beteiligt. Eine „außerordentliche und unerwartete Beteiligung”, zelebrierte auch Lucena. Ein Bericht von Frederico Füllgraf.

Allerdings sprechen die Zahlen eine beklemmend nüchternere Sprache: die Wahlbeteiligung lag bei 41,5 Prozent, nach unwahrscheinlichen Angaben der Opposition sogar nur 12,4 Prozent. Mehr als 59 Prozent der 19,5 Millionen venezolanischen Wähler blieben zuhause.

Damit ist jedoch bisher nichts über die Stimmauszählung gesagt, deren Ergebnis Ende der ersten August-Woche vorliegen soll. Douglas Bolívar, ein regierungsfreundlicher, doch Maduro-kritischer Kommentator, wagte zu orakeln: sollten 8 Millionen, bestenfalls 10 Millionen Venezolaner „Ja“ zum Konvent gesagt haben, gewinnt der Chavismo seine Führungsrolle zurück und bestimmt die politische Agenda. Sollten es jedoch nur 5 Millionen gewesen sein – die die Führungsmannschaft um Maduro als Ermutigung zum Weitermachen wie bisher versteht – so wäre das der Nährboden für schier unkontrollierbare Anarchie und eine ausländische Intervention.


Bombenexplosion gegen Polizei Venezuelas am Tag der Wahl

Kit für das zerrissene Land

Die Einberufung des Verfassungskonvents folgt einem plausiblen Kalkül. Die ideologische Polarisierung hat Venezuela in zwei unversöhnliche Lager gespalten. Mit zwei Blöcken regierungsfreundlicher und -feindlicher Gouverneure und Bürgermeister hat der Riss selbst das tiefe Hinterland erfasst. Zum ersten Mal seit sechzehn Jahren strafte 2015 die konservative Opposition den in sämtlichen Vorwahlen siegreichen Chavismo mit einem beachtlichen Wahlsieg in der Nationalversammlung (Parlament). Weil das Parlament jedoch kein Ausschlussverfahren gegen drei wegen erwiesenem Wahlbetrug angezeigte Oppositions-Abgeordnete einleitete, wie vom Gesetz vorgeschrieben, setzte daraufhin der vom Chavismo dominierte Oberste Gerichtshof die Befugnisse des gesamten Parlaments außer Kraft. Als Repressalie erklärte das Parlament seinerseits den Gerichtshof für „illegal“ und wählte vor wenigen Tagen einen „eigenen“, „parallelen“ Gerichtshof, wovon einzelne Richter von der Regierung im Handumdrehen verhaftet wurden. Die Opposition, insbesondere ihre gewalttätige Phalanx unter Führung des Abgeordneten Fredy Guevara, setzt auf totale Konfrontation. Sie ruft offen zur Bildung einer „parallelen Regierung“ auf; eine Bürgerkriegs-Erklärung, die, wenn auch demagogisch vorgetragen, offener nicht sein könnte, wettet sie doch auf eine militärische Intervention der USA und verbündeter Nachbarländer. Ebenso der erst vor wenigen Wochen freigelassene und wegen Nichteinhaltung der Bedingungen für seine Freilassung erneut verhaftete Vertreter der militanten Rechten, Leopoldo López.

Das Kalkül der Führungsriege um Maduro ist daher verständlich, doch nicht weniger riskant. Die verfassungsgebende Versammlung soll angeblich den politischen Flächenbrand entschärfen und Venezuela „befrieden“. Doch der Preis, den der Chavismo dafür verlangt, ist für die Opposition selbstverständlich unannehmbar: unter anderem könnte der gewählte Konvent nach Ausarbeitung der neuen Verfassung das immerhin 2015 demokratisch gewählte und vom MUD mit Zweidrittel-Mehrheit dominierte Parlament ausschalten bzw. „ersetzen“, wie Diosdado Cabello, ehemaliger Präsident der Nationalversammlung und Exponent des radikalen Chavismo bereits einen Monat vor der Wahl zu erkennen gab.

Zusammensetzung des Verfassungskonvents

Mit der Regierung Maduro feierten auch einflussreiche Strömungen der internationalen Linken die Wahl der verfassungsgebenden Versammlung als „Sieg der Demokratie“. Vor dem Hintergrund der massiven konservativen Restauration – vor allem in Brasilien, Argentinien und Peru – ist die Bewertung als Ausgleichs-Zelebrierung verständlich.

Im Vergleich mit den umstrittenen, formalen Wahldemokratien der meisten benachbarten Länder signalisiert der venezolanische Konvent in der Tat eine weitreichende Demokratisierung. Gewählt wurden 545 Abgeordnete, darunter 364 sogenannte „Territorial (oder ortsgebundene) Vertreter“ und 173 sogenannte „Gesellschaftsgruppen-Vertreter“, mit unterschiedlicher Sitzverteilung: 24 für die Studenten, 8 für Bauern und Fischer, jeweils 5 Sitze für Unternehmer und körperlich Versehrte, 28 für Pensionäre, 24 für die Kommunalräte, 79 für Arbeiter-Gewerkschaften und sonstige Berufsverbände und 8 Sitze für die indianischen Gemeinden, deren Wahl wegen geografischer Hindernisse nachgereicht wird.

Rund 50.000 Venezolaner hatten sich als Individuen oder Wahlgruppenvertreter beworben, von denen der Wahlrat 6.000 Bewerber zuließ. Zu den Bedingungen für die Bewerbungen gehörte das Verbot parteigebundener Kandidaten, womit die Regierung verhindern wollte, dass die Stimmabgabe auch die Ablehnung ihrer Politik wiederspiegele. Dennoch gehört die Mehrheit der angetretenen Kandidaten der regierenden Vereinigten Sozialistischen Partei (PSUV) an oder zählt zu ihren Sympathisanten, wie Maduros Ehefrau Cilia Flores.

Die umstrittene Bewerbung hochrangiger Chavistas stieß auf unverhohlene Kritik von internationalen Befürwortern des Chavismo, wie der weltweit renommierte, portugiesische Jurist und Wirtschaftswissenschaftler an der Universität Coimbra, Boaventura de Sousa Santos. „Was Demokraten Sorgen bereiten soll – obwohl es die globalen Medien kaum kümmert, die sich auf die Seite der Opposition geschlagen haben – ist die Art und Weise, wie die Bewerber für den Konvent ausgesucht werden. Wenn, wie vermutet wird, die bürokratische Parteimaschinerie die Volksschichten ihres partizipativen Impulses beraubt haben, dann ist das Ziel des Verfassungskonvents, die politische Kraft der sozialen Basis zur Unterstützung der Revolution demokratisch zu erweitern, für die Katz“, schrieb der Portugiese am Vorabend der Wahl.


Rechte Opposition Venezuela – Extreme Gewalt gegen Rechtsstaat

Blutiger Sonntag der Opposition

Das Sammelbecken der konservativen Opposition MUD (Tisch der Demokratischen Einheit) blieb der Konventswahl fern. Gegen die bereits im April einberufene Wahl hatte der MUD am vergangenen 16. Juli ein Referendum abgehalten, an dem sich angeblich 7,6 Millionen Wahlberechtigte beteiligt und gegen den geplanten Verfassungskonvent der Regierung gestimmt hätten.

Das nach dem Buchstaben des Gesetzes illegale, daher symbolische Plebiszit war von vielfältig erwiesenem Wahlbetrug gekennzeichnet, jedoch von der Regierung toleriert worden und verlief ohne nennenswerte Zwischenfälle. Doch der MUD erwiderte nicht etwa den friedlichen Ausgang seiner Veranstaltung mit Versöhnlichkeit, sondern befeuerte am Vorabend neue Aufrufe zu öffentlichen Massenprotesten. Die Opposition missachtete nicht nur das besonders für den Wahlsonntag verfügte, verständliche Demonstrationsverbot, sondern übersäte die wichtigsten Großstädte mit erschreckender Gewalt, die mindestens 12 Todesopfer – darunter Polizisten, siehe Video – forderte und deren Tathergang noch von der Staatsanwaltschaft untersucht wird.

Die US-Kubaner und die internationale Isolierung Venezuelas

Unter Führung der USA erklärten in Lateinamerika Mexiko, Kolumbien, Panama, Argentinien, Brasilien, Costa Rica, Peru und Paraguay den Verfassungskonvent als „Betrug“ und „illegitim“ und lehnen seine Anerkennung ab. Die Europäische Union schloss sich dem Protest an. Ihre außenpolitische Vertreterin, Federica Mogherini, sagte, die EU könne den Verfassungskonvent „wegen der Sorge um ihre Repräsentativität und Legitimität nicht anerkennen“, verzichtete aber auf die Ausrufung von Sanktionen.

Die unmittelbar nach der Wahl von den USA verhängten Strafmaßnahmen gegen die Regierung Maduro stießen selbst in konservativen Medien und innerhalb der venezolanischen Opposition auf Kritik und Ablehnung.

„Die venezolanische Krise hat deutlich gemacht, dass die Administration Trump ihre Südamerika-Politik an … Senator Marco Rubio outgesourced hat. Eine schlechte Idee auch für diejenigen, die einen guten Eindruck vom Senator aus Florida haben“, schrieb der konservative Kolumnist Andrés Oppenheimer in der argentinischen Tageszeitung La Nación (Trump se equivoca con Venezuela, 01.08.2017).

Die dominante Rolle des US-Kubaners bei der Restauration des Kalten-Krieg-Kurses gegenüber Kuba und die Befeuerung, wenn nicht zum Teil sogar auch die Finanzierung der rechten Opposition in Venezuela, mit ihren gewalttätigen Straßenblockierern und Attentätern, wächst sich für das State Department zum Problem aus.

Rubio tritt im US-Senat als Verbündeter des venezolanischen Rechtsaußen Leopoldo López auf. Er war es, der zusammen mit dem ebenfalls US-kubanischen, demokratischen Senator Bob Menéndez Präsident Trump die Liste mit 13 hohen Funktionären des Chavismo aushändigte, gegen die die US-Regierung sechs Stunden später Sanktionen erließ, zu denen Einreiseverbot und Einfrierung persönlicher Bankguthaben in den USA gehören.

Rubio verlangt jedoch von Trump, was die venezolanische Opposition für eine schlechte Idee hält, nämlich ein Embargo gegen venezolanisches Öl, von dem die USA der drittgrößte Abnehmer sind. Solch ein Embargo würde Maduro in die Opferrolle drängen und eine ungewollte Solidarität der konservativen Regierungen Lateinamerikas auslösen, die sich mit den USA gegen Maduros Verfassungskonvent verbündet haben.

Es ist jedenfalls zu erwarten, dass sich die Maduro-Regierung vorerst empfindlicher internationaler Isolierung gegenübersieht und vom entscheidenden Goodwill Russlands und Chinas abhängen wird, um in den kommenden Monaten wirtschaftlich zu überleben. Venezuela schuldet China mindestens 45 Milliarden US-Dollar, die mit Öllieferungen bezahlt werden, sich jedoch eher als Problem statt als Lösung erweisen, denn es fließen keine dringend gebrauchten Devisen herein und der Ölpreis bleibt weiter niedrig.

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