Das SPD-„Regierungsprogramm“
Ein Wahlprogramm [PDF – 500 KB] mit viel sozialem Pathos und wenig konkreten Vorschlägen, aber voller Widersprüche. Es ist ein Spagat zwischen dem Festhalten an der Agenda-Politik und dem Versuch einer Erneuerung. Das Programm entbehrt jegliche Selbstkritik und wird deshalb kaum Vertrauen in die Versprechungen für die Zukunft schaffen. Wolfgang Lieb
Regierungsprogramm ohne Mehrheit
Schon die Titelseite des am Wochenende von den Spitzengremien einstimmig beschlossenen und im Berliner Tempodrom vor 2.500 Gästen in der Art einer amerikanischen Wahlkampf-Show präsentierten Wahlprogramms der SPD ist widersprüchlich. Dort heißt es unter der Parole „Anpacken. Für Deutschland.“: Entwurf eines „Regierungsprogramms der SPD“.
Auf der letzten Seite heißt es dann allerdings nur noch: „Wir wollen am 27. September als stärkste Fraktion in den Bundestag ziehen…In einer Koalitionsregierung wollen wir unsere sozialdemokratischen Inhalte durchsetzen.“ (S. 58) Favorisiert wird ein Bündnis mit den Grünen, und falls das zur Mehrheit nicht ausreicht, „halten wir eine Ampelkoalition mit der FDP für geeignet, die anstehenden Aufgaben – Arbeit schaffen, soziale Sicherheit garantieren, gesellschaftlichen Fortschritt gestalten – erfolgreich anzupacken.“ Auch die Fortführung der Großen Koalition wird nicht ausgeschlossen. Nur einer Zusammenarbeit mit der „Linken“ wird für die kommende Legislaturperiode eine Absage erteilt.
Wer im selben Text den künftig möglichen Koalitionspartner, die FDP, für den „gescheiterten Marktradikalismus“ verantwortlich erklärt und dennoch mit ihm sein Programm umzusetzen verspricht, macht sich ziemlich unglaubwürdig.
Dazu fällt einem nur der Satz des Parteivorsitzenden Müntefering nach der Bildung der Großen Koalition aus dem Jahre 2006 ein: „Dass wir oft an Wahlkampfaussagen gemessen werden, ist nicht gerecht“.
Bliebe es allein bei diesem Widerspruch, so könnte man die Aussage von Frank-Walter Steinmeier, dass man nicht mit einem Programm für eine Koalition in den Wahlkampf ziehen könne, ja noch akzeptieren, aber die Widersprüchlichkeiten ziehen sich durch das gesamte Programm.
Im „Regierungsprogramm der SPD“ werden nahezu sämtliche Politikfelder von der Steuerpolitik bis zum Tierschutz abgeklappert. Wenn man sich im Detail damit auseinandersetzen würde, müsste man ein mindestens gleichfalls 58 Seiten umfassendes Koreferat schreiben. Deshalb muss ich mich an dieser Stelle auf ein paar grundsätzliche Anmerkungen beschränken.
Sozialdemokratisches Pathos und wenig Konkretes
Das „Regierungsprogramm“ hört sich über viele Passagen hinweg durchaus sozialdemokratisch an, und viele Formulierungen und Ansätze zielen auf ein Wählerspektrum links von der Mitte. Das heißt aber noch lange nicht, dass damit – wie man es aus dem konservativen Blätterwald rauschen hört und vom politischen Gegner bis hin zu den Grünen behauptet wird – die SPD etwa nach links gerückt ist. Von einem solchen Linksschwenk kann eigentlich nur der reden, der den Verzicht auf eine Lohnsteuererklärung für Lohnsteuerpflichtige und die Rückerstattung eines Betrages, der durchschnittlich mit der Abgabe einer Steuererklärung ohnehin zurückerstattet werden müsste, für „links“ erklärt. Oder wer die Abschaffung der schreienden Ungerechtigkeit, dass dem Staat die Kinder der Reichen wegen der steuerlichen Entlastung mehr wert sind als die der Armen, für den Anfang eines Sozialismus hält.
Das Programm enthält viele Aussagen, die nach allem, was man aus Meinungsumfragen weiß, durchaus mehrheitsfähig wären. Da wird beispielsweise für „gute Arbeit“ eingetreten, für „Vollbeschäftigung“ (was in der heutigen Zeit ja nicht mehr selbstverständlich ist), für einen „Schulabschluss für alle Jugendlichen“, für „eine abgeschlossene Berufsausbildung oder Abitur für jede und jeden“, für „Mindestlöhne“, für die „Verantwortung von Unternehmen gegenüber dem Gemeinwohl“, für „einen Rechtsanspruch auf Betreuung“ oder für „Gebührenfreiheit“ vom Kindergarten bis zur Hochschule. Es wird eine Strategie „Weg vom Öl“, der „Ausstieg aus der Kernenergie“ propagiert. Die Rede ist von einer „Bürgersozialversicherung“ oder von einem „Bildungssoli“, und es gibt noch eine ganze Reihe weiterer Programmpunkte, die sich auf den ersten Blick neu anhören und aufhorchen lassen.
Liest man allerdings über den von sozialem Pathos triefenden Einleitungsteil hinaus und schaut auf die konkrete Ausfüllung dessen, was mit dem „Aufbruch zu mehr Demokratie und neuer Gemeinsamkeit“ und mit der Parole „Arbeit schaffen, soziale Sicherheit garantieren, gesellschaftlichen Fortschritt gestalten“ groß angekündigt wird, so tritt schnell Ernüchterung ein.
Konkretes sucht man mit der Lupe
Hinter den Allerweltswörtern „sozial gerecht, fair verteilt, nachhaltig und ökologisch verantwortlich“ (S. 5) oder „Arbeit, Bildung und Nachhaltigkeit“ und „neue Gemeinsamkeit“ verbergen sich dort, wo man konkrete Vorschläge erwartet, allenfalls ein Sammelsurium aus Vorschlägen aus den Schubladen der offenbar zuliefernden sozialdemokratisch geführten Ministerien, die auf der Grundlinie der bisherigen Regierungspolitik liegen.
Dazu nur einige Beispiele:
- „Gute Arbeit“ wird als zentrales politisches Ziel genannt. Als Antwort folgen dann folgende Sprüche:
- „Wer sich anstrengt, muss etwas davon haben. Leistung muss sich lohnen.“
- „Wer sich Mühe gibt, muss damit sein Leben verbessern können.“
- „Niemand darf am Wegesrand zurückbleiben.“ S. 16
Der Mindestlohn ist die einzige, wirklich konkrete Aussage, jedoch mit einer Formulierung, die alles wieder offen lässt: „Eine Mindestlohn-Kommission soll ihn festsetzen. Wir gehen davon aus, dass ein Mindestlohn von 7,50 Euro zur Zeit eine sinnvolle Orientierungsmarke ist.“
Weitere Aussagen zur Abschaffung oder Eindämmung des Niedriglohnsektors und von prekärer Beschäftigung sucht man vergeblich. Und bei der Bekämpfung der ausufernden Leiharbeit begnügt man sich damit, dass man sie „rechtlich besser absichern“ und die „konzerninterne Verleihung begrenzen“ will (S. 17).
Kein kritisches Wort darüber, dass Hartz IV erst die Schleusen für den Niedriglohn geöffnet hat, indem der rasche Abstieg in die Bedürftigkeit als ökonomisches Druckmittel zur Annahme von Arbeit um jeden Preis und unter jeder (auch unzumutbaren) Bedingung eingeführt wurde.
Nichts zu den 1-Euro-Jobs. Nichts zu einer Verbesserung des Kündigungsschutzes oder wenigstens zu einer Eindämmung der befristeten Beschäftigungsverhältnisse.
- „Wir wollen, dass Tariftreue bei der Vergabe öffentlicher Aufträge zu einem zentralen Kriterium wird.“ Wer jetzt aber erwartet hätte, dass ernsthaft gegen die europäischen Regelungen vorgegangen wird, nach denen der Europäische Gerichtshof die Bindung an Tarifverträge bei der öffentlichen Auftragsvergabe als gemeinschaftsrechtswidrig beurteilt hat, der sieht sich getäuscht. „Wir unterstützen Initiativen gegen Sozialdumping im europäischen und internationalen Raum“, so lautet die dürftige Antwort unter der Überschrift „Tariftreue sichern“.
- „Arbeitslosenversicherung wird zur Arbeitsversicherung“ steht da dick und fett im „Regierungsprogramm“ (S. 19). Wer unter dieser Überschrift erwartet hätte, dass nun tatsächlich die Arbeitslosenversicherung wieder ein Stück Sicherheit verschaffen soll, indem das Arbeitslosengeld verlängert und die Arbeitslosenhilfe wieder über den Sozialhilfesatz angehoben wird und Menschen, die jahrelang gearbeitet haben, wieder besser gestellt werden als Bedürftige, der wird ein weiteres mal enttäuscht. Das Programm bietet stattdessen „einen Rechtsanspruch auf kostenlose Überprüfung des individuellen Qualifizierungsbedarfs“, die Aufstockung der Zahl der „Arbeitsvermittlerinnen und -vermittler in Zeiten der wirtschaftlichen Krise“ (S. 19) und die schon längst überfällige Zusage, dass es auch „weiterhin eine regelmäßige Überprüfung der Regelsätze des Arbeitslosengeldes II und gegebenenfalls eine bedarfsgerechte Erhöhung geben“ werde.
Es gibt also noch nicht einmal eine Festlegung auf eine Erhöhung der Bedarfssätze, keine Aussage zur Erhöhung des Schonvermögens und schon gar nicht eine Verlängerung des Alg I für ältere, langjährig Beschäftigte in Zeiten, wo durch die Krise nun wirklich für alle evident ist, dass mit dem Druckmittel der Hartz-Gesetze keine zusätzlichen Arbeitsplätze erzwungen werden können.
- Unter der Überschrift „Mitbestimmung in Betrieb und Unternehmen als Kernelement der Sozialen Marktwirtschaft“ wird etwa beklagt, dass nur jeder 17. Betrieb mit 5 bis 50 Beschäftigten einen Betriebsrat hat. Die Lösung im „Regierungsprogramm“ lautet: „Die nächste SPD-geführte Bundesregierung wird im Vorfeld der Betriebsratswahlen 2010 eine Kampagne zur Gründung von Betriebsräten starten.“ (S. 21). Eine solche wird aber der Mitbestimmung einen riesigen Schub verleihen!
- Da wird „Verantwortung von Unternehmen gegenüber dem Gemeinwohl“ eingefordert. Diese Verantwortung soll im Aktiengesetz festgeschrieben werden. Da steht diese zwar schon drin, aber es kann ja nichts schaden, dies nochmals zu bekräftigen. Auch gegen ein Stimmrecht für Aktionäre nach Haltefrist ist nichts zu sagen. Geradezu zum Schmunzeln Anlass gibt jedoch der Vorschlag, „die Managerinnen und Manager besser aus(zu)bilden“ (S. 12), damit sie nicht nur der Marktlogik folgen.
- Bei der Bildung gibt es ein starkes Bekenntnis: „Wir bekennen uns zu Bildung als öffentlichem Gut und sehen Staat und Politik in der Verantwortung, mehr Bildung für alle von Anfang an und ein Leben lang zu organisieren…Bildung muss unserer Gesellschaft mehr wert sein. Unser Ziel: Bis 2015 mindestens 7 Prozent des BIP für Bildung und 3 Prozent für Forschung und Entwicklung.“ Und dann klopft man sich selbst auf die Schulter: „Wir haben dieses Ziel beim Bildungsgipfel 2008 durchgesetzt.“ (S. 22)
Dass die Bildungsausgaben die Bildungsausgaben 1995 bei 6,9 Prozent gemessen am BIP lagen und auch unter sozialdemokratischer Regierungsbeteiligung auf 6,2 Prozent im Jahre 2006 gesunken sind, ist natürlich in einem „Regierungsprogramm“ für die Zukunft keiner Erwähnung wert. Dass aber das Versprechen „10 Prozent für Bildung“ genauso unkonkret bleibt wie auf dem Bildungsgipfel vom Oktober letzten Jahres, ist weniger als Nichts.
Wie man ein derartiges Eigentor schießen kann und den gescheiterten Bildungsgipfel von Kanzlerin Merkel noch als eigenen Erfolg feiern kann, ist schier unbegreiflich. - „Wir wollen die inneruniversitäre Demokratie stärken: Alle Statusgruppen müssen fair in Entscheidungen und Gremien eingebunden werden.“ Das „Regierungsprogramm“ tut gerade so, als habe es den größten Umbruch seit den Humboldtschen Bildungsreformen durch die Einführung der „unternehmerischen“ Hochschule mit einer autokratischen Hochschulleitung und mit den Hochschulräten als Aufsichtsorgane, die die „inneruniversitäre Demokratie“ nahezu beseitigt haben, überhaupt nicht gegeben. Viel mehr Realitätsleugnung geht kaum noch.
- Da wird großspurig eine „Bürgersozialversicherung“ angekündigt. Aber weit gefehlt, wenn man annimmt, damit würde der Gedanke der „Bürgerversicherung“ (als Gegenmodell zur Kopfpauschale der CDU) wieder belebt. „Bürgersozialversicherung“ heißt nicht mehr als „Versicherungspflicht für alle“ bei der Kranken- und Pflegeversicherung, dazu noch „Risikostrukturausgleich“ und „Risikoausgleich zwischen gesetzlicher und privater Pflegeversicherung“ (S. 30). Da wird dann auch noch von einer „solidarischen Alterssicherung“ gesprochen und gleichzeitig die Riester-Rente als „Erfolg sozialdemokratischer Politik“ (S. 28) gefeiert.
Es bleibt also bei den schon geplanten weiteren Rentensenkungen durch den sog. Riester-Faktor, und zur Rente mit 67 lesen wir die vage Formulierung: „Auch wollen wir den individuellen Bedürfnissen der Menschen beim Übergang zwischen Erwerbs- und Ruhestandsphase besser entsprechen und diejenigen, die lange vollschichtig erwerbstätig waren, möglichst vor Altersarmut bewahren.“ Mit solchen nichtssagenden Versprechen meint man dann wohl, die Urangst ganz vieler Menschen vor Altersarmut nehmen zu können?
- „Weg vom Öl“ (S. 13) hört sich gut an. Da ist dann von der Förderung neuer Formen der Energieerzeugung, vom Ausstieg aus der Kernenergie und von Umweltstandards die Rede, um dann am Ende das Gegenteil anzukündigen: „Wir wollen deshalb, dass die Revisionsklausel für den Deutschen Steinkohlebergbau schon rechtzeitig vor 2012 wirksam gemacht und so das faktische Auslaufen des Steinkohlebergbaus verhindert wird.“ Mit Kohlekraftwerken weg vom Öl und hin zur Einhaltung der Klimaziele?
Man könnte endlos fortfahren in der Darstellung der Kluft zwischen mit verbalem Pathos vorgetragenen Ankündigungen und vagen und nichtssagenden Konkretisierungen.
Zur Privatisierung der Bahn heißt es ziemlich undeutlich: „Wir werden die ausreichende finanzielle Ausstattung der Bahn in der kommenden Legislaturperiode gewährleisten. Deshalb findet eine Kapitalprivatisierung nicht statt.“ Was heißt aber „Kapitalprivatisierung“? Ist damit eine Teilprivatisierung des Regio-, Fern- oder Güterverkehrs der Bahn ausgeschlossen?
Man will eine Börsenumsatzsteuer, aber was ist z.B. mit der Einladung von „Heuschrecken“ durch die von Schröder eingeführte Steuerbefreiung von Veräußerungsgewinnen?
„Die Beantwortung der Verteilungsfragen im sozialdemokratischen Sinne stärkt unsere Demokratie und unsere Soziale Marktwirtschaft.“ (S. 3). Doch gerade diese Antwort bleibt das Regierungsprogramm schuldig.
- Wenn selbst die gewiss wirtschaftsfreundliche OECD den regierenden Sozialdemokraten bescheinigt, dass in Deutschland die relative Armut in den vergangenen Jahren stärker gewachsen ist als im OECD-Schnitt [PDF – 68 KB],
- wenn kaum bestreitbar ist, dass die rot-grüne Steuerreform 2001 die Unternehmen massiv entlastete und von einem Zuwachs des Volkseinkommens von 42 Mrd. Euro pro Jahr 40 Milliarden bei den Vermögenden landete,
- wenn ein Reichtums-Armutsbericht oder ein Verteilungsbericht nach dem anderen konstatiert, dass die gerade in den letzten Jahren Reichen immer reicher und das reichste Zehntel der Bevölkerung inzwischen über mehr als 60 Prozent des Gesamtvermögens von 6,6 Billionen Euro verfügte,
dann bringt die Senkung des Eingangssteuersatzes zwar in der Zukunft ein wenig Entlastung für die Arbeitnehmer mit mittlerem und höheren Einkommen, aber die Anhebung des Spitzensteuersatzes von gerade mal 45 auf 47 Prozent ab einem zu versteuernden Einkommen von 125.000 Euro (Verheiratete 250.000 Euro) wird den Trend zur Umverteilung von unten nach oben sicher nicht bremsen. Wer darin einen „solidarischen Lastenausgleich“ zwischen den Vermögenden, die vom „Fehlverhalten der Finanzmanager“ profitierten und der „Allgemeinheit sieht, die die Kosten zu tragen“ hat, glauben machen will, der streut eben dieser Allgemeinheit, die für Bankensanierungen Milliarden zu schultern hat, Sand in die Augen.
„Bei der Besteuerung von Unternehmen haben wir wichtige Fortschritte erzielt. Einem weitergehenden Steuersenkungswettlauf werden wir entschieden entgegentreten.“ So heißt es tatsächlich im Text (S. 25). Ob die Autoren nicht bemerkt haben, dass sie damit eingestehen, dass vor allem die Regierung Schröder einen „Steuersenkungswettlauf“ veranstaltet hat?
Eine Vermögenssteuer auf private Vermögen in Höhe von 1% bei einem Freibetrag von 500.000 Euro brächte die Vermögenden gewiss nicht an den Bettelstaat – aber z.B. für die Bildung immerhin 14 Milliarden Euro.
Wenn nach groben Schätzungen bis 2010 über 400 Milliarden vererbt werden, wie selbst die Bild-Zeitung meldete, wären etwas mehr als die jetzt ausgehandelte Erbschaftssteuer mit einem Volumen von 4 Milliarden auch nicht gerade eine „Todessteuer“ gewesen, sondern allenfalls ein zaghafter Reflex auf die skandalös ungleiche Primärverteilung in einer „sozialen Marktwirtschaft“.
Interessant ist auch, dass im gesamten „Regierungsprogramm“ an keiner Stelle ausdrücklich auf sozialdemokratische Grundwerte oder gar auf das Hamburger Grundsatzprogramm Bezug genommen wird. Um bloß nicht anzuecken, stützt man sich lieber unverfänglich auf die Grundprinzipien des Grundgesetzes. Das könnten andere Parteien genauso.
Auffallend ist auch der häufige Gebrauch des Wortes „fair“. „Unser Deutschland soll ein Land sein, in dem Fairness gilt“; man spricht vom „fairen Wettbewerb“ oder von „fairer Lastenverteilung“; wohl um den alten sozialdemokratischen Begriff von „sozial gerecht“ zu vermeiden. Dass mit fair nichts anderes gemeint ist, als dass man sich anständig verhält oder an die Regeln hält, ist wohl niemandem im Parteivorstand aufgefallen.
So widersprüchlich schon der Titel „Regierungsprogramm“ ist, so durchzieht den ganzen Text eine Kette von Widersprüchlichkeiten.
- „Mit dieser Politik knüpfen wir an die Reformen der beiden sozialdemokratisch geführten Bundesregierungen an, die dazu beigetragen haben, dass Deutschland heute das wettbewerbsfähigste Land in der gesamten Europäischen Union ist.“
Man verschließt also weiter die Augen davor, dass wir unsere Nachbarn niederkonkurriert haben und dass deren daraus resultierende, wirtschaftliche Schwierigkeiten die Europäische Währungsunion fast sprengen.
Man hat immer noch nicht begriffen, dass unsere „Wettbewerbsfähigkeit“ auf Kosten der Löhne und damit auf Kosten der Binnennachfrage ging. Und gerade die, so verkündet das „Regierungsprogramm“, will man doch angeblich stärken.
- Da wird, ohne den Widerspruch zu erkennen, eine „aktive Konjunkturpolitik“ gefordert und gleichzeitig die Verankerung der „Schuldenbegrenzung“ in der Verfassung gelobt.
- Da wird „das soziale Europa“ gefordert, und gleichzeitig soll der „Vertrag von Lissabon verwirklicht“ werden.
- Da wird über die Sicherung der öffentlichen Daseinsvorsorge geschrieben und in einem Atemzug gesagt, dass man für Betreuung, Bildung, Pflege „private Haushalte als Auftraggeber und Arbeitgeber stärker unterstützen“ werde (S. 10). Da wird etwa für die Verkehrsinfrastruktur auch künftig auf Private Public Partnership gesetzt: „Wir wollen die Finanzierungsinstrumente der Verkehrsinfrastruktur weiterentwickeln. Der Staat muss nicht alles selbst leisten.“ (S.11)
Gefangen im Käfig der Agenda-Politik
Solche Widersprüchlichkeiten sind kein Zufall. Das „Regierungsprogramm“ ist gefangen im Käfig der Agenda-Politik und wurde auf eine Linie mit dem Regierungshandeln und der bisherigen Politik der Parteiführung ausgerichtet:
„Wir Sozialdemokratinnen und Sozialdemokraten haben in den letzten zehn Jahren in der Regierung gezeigt, dass wir den Mut zur Verantwortung haben. Wir sind schwierigen Entscheidungen nicht ausgewichen. Wir haben seit 1998 die Fenster mutig aufgestoßen und das Land positiv verändert (…)
Deutschland hat seine sozialen Sicherungssysteme durch mutige Reformen zukunftsfähig gemacht (…)
Wir haben in dieser Zeit nicht alles richtig gemacht und manches noch nicht erreicht. Aber unser Kompass ist intakt, die Richtung stimmt. Jetzt nehmen wir einen neuen Anlauf.“
Nicht eine selbstkritische Einschätzung des bisherigen Kurses, sondern allein die (selbst mit herbeigeführte) Krise wird als Begründung für einen „neuen Anlauf genommen“. Was unter Schröder „Modernisierung“ genannt wurde, heißt unter Steinmeier „Erneuerung“. Steinmeier feierte am Tag der Verkündung seines „Regierungsprogramms“ die Agenda als Erfolgsmodell, und deswegen fährt einem der Schreck in die Glieder, wenn er von einer „kraftvollen Erneuerung für unser Land!“ spricht.
Wie sollen die Wählerinnen und Wähler darauf vertrauen können, dass den sozialen Tönen auch Taten folgen, wenn ihnen mit den vorausgegangenen „mutigen Reformen“ doch wieder und wieder in die Tasche gegriffen wurde? Wie sollen sie jetzt an eine „Erneuerung“ glauben, wenn ihnen gleichzeitig über die bisherige Politik gesagt wird, dass „die Richtung stimmt“?
Man muss ja nicht gleich wie in der christlichen Tradition Reue gegenüber dem vorausgegangenen Tun verlangen, aber ein Stück Bußbereitschaft wäre die Voraussetzung für eine Wiedergutmachung oder für den Glauben der Leserinnen und Leser an eine Besserung.
Schuld sind nur die anderen
„Wir stellen fest: Das marktradikale Zeitalter ist gescheitert. Wir befinden uns in einer Zeitenwende.“ Man tut gerade so, als hätte man mit diesem Zeitalter nichts zu tun gehabt. Wie die gesamte Bundesregierung sieht auch die SPD keine Verantwortung der Politik und schon gar nicht der deutschen Politik für die Krise: „Es ist das unverantwortliche und zum Teil skrupellose Handeln an den internationalen Finanzmärkten (…) Deutschland bleibt nicht verschont“ (S. 5). Schuld sind immer nur die anderen, die gierigen Manager und Banker und allenfalls noch „auch die Politik maßgeblicher Teile von Union und FDP“ (S. 5).
Die Sozialdemokraten hingegen „haben im nationalen Rahmen erste Regeln durchgesetzt und erreichen nun auch – nach vielen Jahren Anstrengungen sozialdemokratischer
Finanzminister – Fortschritte im internationalen Rahmen“.
Dass z.B. auf Betreiben von Hans Eichel die Kreditanstalt für Wiederaufbau (KfW) die Anteile der Allianz an der Pleitebank IKB übernommen hat, dass unter Peer Steinbrück und seinem Staatssekretär Asmussen die Deregulierung der Finanzmärkte und der Casinobetrieb in Deutschland mit aller Macht gefördert worden sind und im Koalitionsvertrag verankert wurden, all das und vieles mehr wird einfach unter den Teppich gekehrt.
Wie soll bei einer solchen Krisenanalyse und der Verweigerung jeglicher Selbstkritik Hoffnung auf eine angemessene Krisenbewältigung geweckt werden?
Quelle: Das SPD-„Regierungsprogramm“