„Wir leben unter einer Diktatur der Oligarchien des globalisierten Finanzkapitals“
Private Oligarchien haben eine Macht, die „nie auch nur irgendein Kaiser, König, Papst jemals auf diesem Planeten hatte. Sie entziehen sich jeder sozialen, staatlichen und gewerkschaftlichen Kontrolle.“ Das sagt der Vizepräsident des Beratenden Ausschusses des UN-Menschenrechtsrats Jean Ziegler in einem ausführlichen Interview mit den NachDenkSeiten. Der Schweizer Soziologe, der gerade das Buch “Der schmale Grat der Hoffnung. Meine gewonnenen und verlorenen Kämpfe und die, die wir gemeinsam gewinnen werden” veröffentlicht hat, zeigt sich im Interview von seiner kämpferischen Seite.
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Die Akkumulation eines unfassbaren Reichtums in den Händen Weniger ist für Ziegler das Ergebnis einer „kannibalischen Weltordnung“, die ein „mörderisches Instrument“ gegen die Armen und Ärmsten ist. Wenn Ziegler über die systemische Ungerechtigkeit in dieser Welt redet, dann wird klar: Auch mit 83 Jahren hat der Globalisierungskritiker nicht vor, die „Waffen“ niederzulegen. Im Gegenteil: Blitzschnell zitiert er Che Guevara („Die stärksten Mauern fallen durch Risse“), Karl Marx („Der Revolutionär muss im Stande sein, das Gras wachsen zu hören“) oder den französischen Schriftsteller Georges Bernanos („Gott hat keine anderen Hände als die unseren“), um dann festzustellen: „Entweder wir stürzen die kannibalische Weltordnung oder sonst tut es niemand.“
Ziegler, den eine enge Freundschaft mit dem französischen Soziologen Pierre Bourdieu verband, hat alleine schon durch seine langjährige Arbeit als UN-Sonderberichterstatter für das Recht auf Nahrung viel Elend in dieser Welt gesehen. Er geht davon aus, dass ein „System der strukturellen Gewalt“ (Bourdieu) existiert, in dem sich alles der Profitmaximierung unterzuordnen hat. In dem enormen Reichtum, konzentriert in den Händen „privater Oligarchien“, liegt für Ziegler eine große Gefahr. Ihr Einfluss auf die Demokratie sei mittlerweile so groß, dass die Demokratie „in vielerlei Sicht zu einer simulativen Demokratie geworden ist.
„Diejenigen“, sagt Ziegler, „die da bald in Hamburg auf dem G20-Gipfel zusammenkommen, wurden längst zu Befehlsempfängern degradiert. Das sind Lakaien und zugleich Söldner der Oligarchien.“ Ein Interview mit einem, der fest davon überzeugt ist, dass alle Probleme mit den Waffen der Demokratie zu lösen sind. „Wir müssen“, wie Ziegler sagt, „uns nur bücken und sie aufheben.“
Die Börsenspekulation auf Grundnahrungsmittel durch Hedgefonds und Großbanken könne schon morgen früh verboten werden – „wenn wir das wollen, wenn wir einen ausreichend starken Druck machen.“ Das Interview führte Marcus Klöckner.
Herr Ziegler, in Ihrem neuen Buch schreiben Sie: „Der Dritte Weltkrieg gegen die Völker der Dritten Welt hat längst begonnen.“ Was meinen Sie damit?
Die 23 Spezialorganisationen der Vereinten Nationen müssen jedes Jahr im Monat Juni dem Wirtschafts- und Sozialrat der UNO ihre Geschäftsberichte vorlegen. Und in diesen Berichten lässt sich ablesen, was ich hier anführe. In den Berichten wird deutlich, wer die Opfer von verseuchtem Wasser, von Hunger, von Kriegen, von Klimaschäden und von Epidemien etc. sind. Es sind allesamt Menschen, die in den Ländern der Dritten Welt leben. Aus diesen Berichten wird deutlich, dass wir hier von einer Opferzahl von 53 Millionen Menschen reden in einem Jahr! Im 2. Weltkrieg sind insgesamt 57 Millionen Menschen zu Tode gekommen, sowohl Zivilisten als auch Soldaten.
Allein diese beiden Zahlen zeigen: Wir haben es mit einem Weltkrieg gegen die Länder der Dritten Welt zu tun.
Warum wird dieser Krieg geführt?
Der Krieg ist das, was die kannibalische Weltordnung fordert.
Kannibalische Weltordnung? Was meinen Sie damit?
Die Weltordnung, von der ich spreche, ist mörderisch und absurd. Diese kannibalische Weltordnung ist gezeichnet von einer unglaublichen Machtakkumulation in den Händen ganz weniger Oligarchien. Wir leben unter einer Diktatur der Oligarchien des globalisierten Finanzkapitals. Diese Oligarchien haben eine Diktatur über den gesamten Planeten, also auch über die stärksten Staaten, errichtet.
Wie kommen Sie zu diesen Gedanken?
Ich werde es an einer Zahl verdeutlichen.
Bitte.
Die 500 größten transkontinentalen privaten Konzerne, haben nach Weltbankstatistik letztes Jahr 52 Prozent des Weltbruttosozialproduktes kontrolliert (also alle in einem Jahr auf der Welt erschaffenen Reichtümer). Können Sie sich vorstellen, was dahinter für eine Macht steckt?
Diese Oligarchien haben eine ideologische, finanzielle, wirtschaftliche und politische Macht, die nie auch nur irgendein Kaiser, König, Papst jemals auf diesem Planeten hatte. Sie entziehen sich jeder sozialen, staatlichen und gewerkschaftlichen Kontrolle. Außerdem: Diese Konzerne können sehr viel. Sie kontrollieren den wissenschaftlichen und technologischen Fortschritt – sie sind unglaublich kreativ.
Das zuletzt Genannte muss nicht negativ sein. Warum sagen Sie das in einem Ton, als ob großes Unheil droht.
Das Unheil ist doch schon längst eingetreten. Diese Konzerne funktionieren nämlich nur nach einem einzigen Prinzip.
Welches?
Es ist das Prinzip der Profitmaximierung. Sie wollen allesamt in möglichst kürzester Zeit einen möglichst hohen Profi akkumulieren – und das um jeden Preis. Die 85 reichsten Milliardäre der Welt haben im letzten Jahr über so viel Vermögen verfügt, wie 4,5 Milliarden der ärmsten Menschen dieser Welt. Da taucht sie wieder auf, die kannibalische Weltordnung, die ich gerade erwähnt habe.
Auf der einen Seite stehen 85 Menschen, die über ein unfassbar großes Vermögen verfügen, während auf der anderen Seite die Leichenberge steigen. Auf dieser Welt stirbt alle 5 Sekunden ein Kind unter 10 Jahren am Hunger oder seinen unmittelbaren Folgen. Derselbe UN-Report, der diese Opferzahlen offenbart, legt gleichzeitig dar, dass die Weltlandwirtschaft heute problemlos 12 Milliarden Menschen ernähren könnte. Das heißt praktisch das Doppelte der heutigen Weltbevölkerung.
Das heißt, es gibt also keinen faktischen Mangel an Nahrungsmitteln.
So ist es. Das Problem ist nicht mehr fehlende Produktivität, wie es Marx noch bis zu seinem Tode im März 1883 gemeint hat. Seit dem Tod von Marx hat die Menschheit ihre Produktionskräfte so unglaublich gesteigert, dass heute, seit dem Beginn des neuen Jahrtausends, kein objektiver Mangel an Nahrungsmitteln mehr gegeben ist
Kein Mensch müsste also mehr auf diesem Planeten hungern?
Der Hunger ist von Menschen gemacht und er kann, wenn der kollektive Wille da ist, morgen aus der Welt geschafft werden.
Wo genau liegt jetzt das Problem? Warum hungern noch immer so viele Menschen auf dieser Welt?
Das Problem ist nicht fehlende Produktion, sondern fehlende Kaufkraft. Die, die hungern, haben keine Mittel, um sich Essen leisten zu können. Die kannibalische Weltordnung stellt sich eben dar durch eine unglaubliche Ungleichheit – eine Ungleichheit, die auf die Kosten der Ärmsten geht. Die kannibalische Weltordnung tötet. Und sie ist absurd, denn sie müsste nicht töten. Heute zum ersten Mal in der Geschichte der Menschheit wären wir in der Lage, allen Menschen ein menschenwürdiges Leben zu ermöglichen. Ein Leben, das frei von der Angst ist, im Elend zugrunde zu gehen.
Wie vertragen sich denn die privaten Oligarchien mit dem demokratischen System?
Sie bedrohen das demokratische System. Diejenigen, die da bald in Hamburg auf dem G20-Gipfel zusammenkommen, wurden längst zu Befehlsempfängern degradiert. Das sind Lakaien und zugleich Söldner der Oligarchien. Unsere Demokratie ist in vielerlei Sicht zu einer simulativen Demokratie geworden.
Aber es gibt doch freie, gleiche und geheime Wahlen. Kernelemente der Demokratie.
Das stimmt, aber was nutzen freie, gleiche und geheime Wahlen, wenn diejenigen, die gewählt werden, nachher unter dem Diktat der Oligarchien stehen?
Das sind harte Aussagen, die Sie treffen. Können Sie das vielleicht einmal anhand eines Beispiels verdeutlichen?
Nehmen wir doch Deutschland als Beispiel. Deutschland ist sicher die lebendigste Demokratie dieses Kontinentes und dazu noch die drittstärkste Wirtschaftsmacht der Welt. Aber nun erzähle ich Ihnen, was ich vor kurzem im Menschenrechtsrat erlebt habe. Der Menschenrechtsrat hat vorgeschlagen, die nichtstaatlichen Akteure der Menschenrechtskontrolle zu unterstellen.
Das heißt?
Wenn Nestlé in Kolumbien einen Streik niederschlagen lässt und Menschen durch den Einsatz der kolumbianischen Polizei ums Leben kommen, dann könnten die Überlebenden der Opferfamilie in der Schweiz Schadensersatzklage einreichen – also immer im Heimatland des entsprechenden Konzerns. Wenn Bayer mit seinen Pestiziden in Südindien Menschen mit Krebs verseucht und das nachgewiesen werden kann, dann könnten die Opfer in Deutschland vor den Gerichten klagen.
Verstanden. Sie wollten aber ein Beispiel anführen, wie es aussieht, wenn sich demokratische Politiker großen Konzernen unterordnen.
Da bin ich gerade dabei. Jetzt kommt es nämlich. Deutschland spielt normalerweise im Menschenrechtsrat eine sehr progressive Rolle. Allerdings können die Botschafter, die im Menschenrechtsrat abstimmen, nicht frei nach ihrem Gewissen abstimmen. Sie haben ein imperatives Mandat.
Das heißt?
Das heißt, die Botschafter müssen so abstimmen, wie es ihre jeweiligen Regierungen vorgeben. Aus Berlin kam also die Anweisung, dass diese neue Konvention, die dazu führen sollte, dass nichtstaatliche Akteure der Menschenrechtskontrolle unterstellt würden, zu Fall gebracht werden muss.
Aber warum? Welche Erklärung haben Sie dafür?
Die Erklärung ist sicherlich nicht, dass Frau Merkel, die ich für eine sehr kluge und humane Frau halte (was sie exemplarisch in der Flüchtlingsfrage bewiesen hat) gegen diese Konvention wäre.
Sondern?
Die Großkonzerne haben mobilisiert und massiven Druck auf den Bundestag und die Regierung ausgeübt. Diesem Druck hat sich die deutsche Regierung gebeugt.
Da wir gerade über das Spannungsfeld private Oligarchien und Demokratie reden: Die Machtstrukturforschung hat dargelegt, dass es einen vorgelagerten politischen Formationsprozess von Machteliten gibt. Wie sehen sie das?
Ja, natürlich, es gibt diesen Formationsprozess. Er ist zutiefst undemokratisch.
Was halten Sie von den jährlich stattfindenden Bilderberg-Konferenzen?
Das sind ganz gefährliche Zusammenkünfte, die hinter verschlossenen Türen stattfinden. Die Konferenzen zeigen, dass die freie pluralistische Meinungsbildung von wenigen Oligarchen sabotiert wird. Zusammenkünfte wie „Bilderberg“ sind gefährliche, ja für die Demokratie tödliche und für die ärmsten Menschen der Welt mörderische Einrichtungen.
Ein anderes Thema. In Ihrem Buch sprechen Sie viel über Geierfonds. Was ist das?
Das erkläre ich Ihnen gerne, aber ich muss etwas ausholen. In Ordnung?
Ja, natürlich.
Eines der großen Elendsprobleme der kannibalischen Weltordnung ist die Überschuldung der Länder der südlichen Hemisphäre. Die Staaten der Dritten Welt (ausgenommen die fünf Schwellenländer: Brasilien, Südafrika, Russland, Indien und China) hatten im vergangenen Jahr eine kumulierte Auslandsschuld von 2100 Milliarden Dollar.
Alles, was die Staaten mit Baumwolle, Erdnüssen usw. verdienen, geht sofort als Schuldzinszahlungen an die Großbanken in New York, London, Frankfurt und Zürich. Diese Überschuldung ist wie ein Würgegriff am Hals dieser Staaten.Sie haben keinen Cent mehr, um in Schulen, künstliche Bewässerung, in Dünger oder Krankenhäuser zu investieren. Und das ist der Grund, warum zum Beispiel im Sahel die bäuerliche Produktivität etwa 10 Mal geringer als in europäischen Landwirtschaftsgebieten ist.
Um nur ein Beispiel anzuführen: 1 Hektar Getreide im Sahel ergibt in normalen Zeiten, also in Zeiten, wo es keinen Krieg, Heuschreckenplagen oder Trockenkatastrophen gibt, 600-700 Kilo Getreide. Bei Ihnen in Deutschland, in Baden-Württemberg, ergibt ein Hektar 10.000 Kilo Getreide. Aber der deutsche Landwirt fährt dieses Ergebnis nicht deshalb ein, weil er viel kompetenter ist als der afrikanische, sondern weil der afrikanische Bauer überhaupt keine finanziellen Mittel hat, um in seine Landwirtschaft zu investieren.
Und was hat das mit den Geierfonds zu tun?
Man muss wissen: Der afrikanische Bauer kann eben nicht in Landwirtschaftskredite, in Düngemittel und Bewässerungsanlagen investieren, weil die Auslandsverschuldung seines Landes so extrem hoch ist.
Und dabei kommen nun die Geierfonds ins Spiel, die Sie in Ihrem Buch ja ausführlich beschreiben?
So ist es. Sie wissen, dass in Lateinamerika, Afrika und Asien periodisch Staaten komplett zahlungsunfähig werden. Wenn das passiert, rufen die verschuldeten Staaten ihre Gläubiger zusammen und versuchen über Verhandlungswege, dass ihre Schulden reduziert werden. Die Gläubiger sagen sich: Lieber 30 Prozent am Schluss als überhaupt nichts. Dann werden, um es abzukürzen, neue Schuldpapiere ausgegeben.
Das Problem: Die alten Schuldpapiere, auf denen die Schulden zu 100 Prozent ausgewiesen sind, zirkulieren noch immer auf einem Parallelmarkt. Hedgefonds stürzen sich dann darauf – wie die Geier – und kaufen diese Schuldpapiere zu einem lächerlichen Preis auf. Damit gehen sie dann vor die Gerichte in New York, London oder Paris und klagen diese Forderungen zu 100 Prozent ein. Und in den allermeisten Fällen erhalten sie auch Recht. Diese Urteile sind dann vollstreckbar.
Und so passiert es, dass sie, beispielsweise, ein argentinisches Schiff, das Getreide gelagert hat und in Hamburg am Hafen liegt, konfiszieren. Die Geierfonds sind eines der schlimmsten Instrumente des Rauptierkapitalismus.
Ihr Buch trägt den Titel: „Der Schmale Grat der Hoffnung“. Warum ein schmaler Grat? Wie sieht dieser schmale Grat denn aus?
Die kannibalische Weltordnung hat ein neues historisches Subjekt hervorgebracht und das ist die planetarische Zivilgesellschaft. Che Guevara hat gesagt: „Die stärksten Mauern fallen durch Risse.“ Und Risse entstehen überall. Karl Marx hat gesagt: „Der Revolutionär muss im Stande sein, das Gras wachsen zu hören.“ Und das Gras wächst.
Sie meinen also, Widerstand formiert sich?
Das tut er. Zur Zivilgesellschaft, von der ich spreche, gehören all die vielen sozialen Bewegungen jenseits der Parteien und Nationalstaaten. Ob Attac, Greenpeace, Via Campesia, Amnesty, die Frauenbewegung: Gruppen wie diese leisten bereits Widerstand gegen die Weltdiktatur der Oligarchien an ganz verschiedenen Fronten. All diese Gruppen in ihrer Gesamtheit sind unbesiegbar. Sie funktionieren nicht nach Parteilinien. Sie richten sich nicht an einem Zentralkomitee aus.
Sie funktionieren nach dem kategorischen Imperativ, den jeder Mensch in sich trägt. Von Immanuel Kant stammt die Aussage: „Die Unmenschlichkeit, die einem Anderen angetan wird, zerstört die Menschlichkeit in mir.“
Auch wenn es Widerstand gibt, so einfach scheinen sich Veränderungen nicht herbeiführen zu lassen.
Das große Problem ist die Entfremdung des Kollektivbewusstseins.
Was meinen Sie damit?
Die kannibalische Weltordnung kann nur existieren aufgrund dieser Entfremdung, weil es ihr gelungen ist, uns von unserer eigenen Ohnmacht zu überzeugen. Lassen Sie mich an dieser Stelle bitte eine Klammer aufmachen.
Der Mensch ist das einzige Lebewesen, das ein Identitätsbewusstsein hat, also sich selbst im Anderen erkennt. Wenn ein Hund einen anderen Hund sieht, der geschlagen wird, passiert nichts. Wenn ein Mensch, egal aus welchem Kulturkreis, sozialer Klasse etc. er kommt, sieht, wie ein Kind vor seinen Augen gequält wird, bricht etwas in ihm zusammen, weil er sich selbst unmittelbar in diesem Kind erkennt.
Das Identitätsbewusstsein ist heute verschüttet von der neoliberalen Wahnidee. Diese besagt: Den Menschen als historisches Subjekt gibt es gar nicht mehr. Es gibt nur eine historische Kraft, nämlich die unsichtbare Hand des Marktes. Und die folgt Naturgesetzen.
Marktkräfte regieren also die Welt?
Das will uns die neoliberale Wahnidee weismachen. Sie sagt uns: Alles, was der Mensch tun kann, ist sich diesen Marktkräften funktionell zu unterwerfen, das heißt, die Funktionen auszuführen, die die Oligarchien ihm zuweisen. Aber die Singularität des Menschen, seine Solidarität gibt es nicht mehr. Diese Entfremdung hat unser Identitätsbewusstsein regelrecht zubetoniert.
Haben Sie ein Beispiel?
Ich erlebe das immer wieder bei meinen Vorträgen. Kluge Menschen, die sich aus dem Plenum zu Wort melden, sagen, dass ich ja recht habe, mit dem was ich erkläre, aber was könne schon der Einzelne gegen Siemens, gegen Bayer usw. unternehmen. Diese Menschen stehen da und sagen: „Ich bin doch nur ein kleiner Bürger.“
Also ein Ohnmachtsgefühl kommt zum Vorschein.
Genau. Verinnerlichte Ohnmacht ist Ausdruck der Entfremdung. Dieses Gefühl ist der größte Sieg der Oligarchien. Sie arbeiten mit einer Lüge, die wir brechen müssen. Es gibt keine Ohnmacht in der Demokratie. Alle mörderischen Strukturen können morgen auf verfassungsrechtlich friedlich demokratische Weise aus dem Weg geräumt werden. Sie wissen, wie furchtbar die Börsenspekulation auf Grundnahrungsmittel durch Hedgefonds und Großbanken ist. Durch sie werden die Weltpreise auf Grundnahrungsmittel in die Höhe getrieben.
Ihre Auswirkungen in den Slums von Sao Paolo oder Manila sind verheerend. Wenn der Reispreis steigt, kann die Mutter in Sao Paolo nicht genug Reis kaufen und ihre Kinder gehen zugrunde. Morgen früh kann die Börsenspekulation auf Grundnahrungsmittel durch den Bundestag verboten werden – wenn wir das wollen, wenn wir einen ausreichend starken Druck machen.
Ich sage es nochmal: Es gibt keine Ohnmacht in der Demokratie. Das Grundgesetz gibt uns alle Waffen, die wir benötigen, in die Hand – wir müssen uns nur bücken und sie aufheben. Wir haben ein Streikrecht, wir haben Wahlen, wir haben ein Demonstrationsrecht und viele Rechte mehr. Wir können die Regierungen zwingen, diese Strukturreformen durchzuführen.
Das klingt revolutionär, was Sie sagen. Und Sie reden mit einer sehr authentischen Leidenschaft. Aber dieser Kampf wird doch vonseiten der von Ihnen angeführten Zivilgesellschaft schon seit langer Zeit geführt. Ihr Freund, der französische Soziologe Pierre Bourdieu, sagte bereits 2001 in einem Spiegel-Interview kurz vor seinem Tod das Folgende: „In Wirklichkeit lassen die Politiker der Globalisierung ihren Lauf. Sie bedienen sich schamlos eines Vokabulars der Freiheit, des Wohlstands für alle; dabei unterwerfen sie sich selbst und ihre Bürger den derart von ihren Fesseln befreiten Kräften der Ökonomie. “ Seitdem sind 16 Jahre vergangen. Sind die Verhältnisse besser geworden?
Ich weiß, es ist schlimmer geworden.
Das meine ich. Was Sie sagen, hört sich durchaus vernünftig an, aber…
… ich hoffe, Sie nennen mich jetzt nicht einen „Idealisten“. Dieses Wort hasse ich nämlich.
Der Begriff Idealismus lag mir auf der Zunge.
Bloß nicht. Sartre hat gesagt: „Den Feind erkennen, den Feind bekämpfen. Den Feind erkennen heißt also, die neoliberalen Globalisierungslügen zu erkennen, zu entlarven, das Ohnmachtsgefühl des Bürgers zu eliminieren, ihm zu zeigen, wo seine Waffen sind, also zu zeigen, wie die kannibalische Weltordnung funktioniert und bekämpft werden kann. Und das ist die Aufgabe der Intellektuellen: Sie müssen Ihre Stimme erheben für die, die keine Stimme haben und ohne Möglichkeit der Verteidigung zerstört werden.
Es gibt eine Gerechtigkeit, die das Bewusstsein einfordert. Und ich sage Ihnen, dieses Bewusstsein für die Gerechtigkeit, es steigt, es wächst.
Nehmen wir das Beispiel Sklaverei. Vor 150 Jahren wurde die Sklaverei noch im englischen Unterhaus verteidigt. Sklaverei war völlig legal, Teil der ökonomischen Struktur. Auch heute gibt es noch Menschenhandel und zwar mitten in Europa. Aber kein Mensch würde sich erlauben, die Sklaverei in einer UN-Sitzung, in einem Parlament oder einer Kirche zu verteidigen. Ein Aufstand des Gewissens steht bevor. Er wird kommen.
Nietzsche schreibt: „Die Revolution kommt auf den Füßen der Taube.“ Wenn Sie all das Leid sehen – und ich weiß, Sie haben es gesehen -, das auf der Welt passiert, können Sie dann sagen, Sie haben von nichts gewusst? Kann jemand in Deutschland tatsächlich sagen, ich habe von nichts gewusst? Ich führe noch ein Zitat von dem französischen Schriftsteller George Bernanos an: „Gott hat keine anderen Hände als die unseren.“ Entweder wir stürzen die kannibalische Weltordnung oder sonst tut es niemand.
Im Hinblick auf die Ebene der Akteure: Ist denn der Präsident, zum Beispiel, von Siemens, von Nestlé oder von Bayer ein schlechter Mensch?
Es geht um ein, um auch hier nochmal Bourdieu anzuführen, System der „strukturellen Gewalt“. Der Präsident von Nestlé ist ein sehr guter Ski-Fahrer. Hin und wieder kreuzen sich unsere Wege auf der Piste in Zermatt. Ich kenne ihn. Er ist ein hochanständiger Mensch. Aber wenn es darum geht, in seiner Funktion als Präsident von Nestlé den Börsenwert seines Unternehmens zu steigern, dann tut er das, was dazu eben nötig ist. Tut er es nicht, wird er nach drei Monaten nicht mehr Präsident von Nestlé sein.
Es gab einmal einen hochrangigen Akteur aus Deutschland. Er hat sich plötzlich für die Entschuldung der Dritten Welt eingesetzt. Sein Name war Alfred Herrhausen. Er wurde allerdings von der RAF ermordet.
Oder im fernen Auftrag von jemanden.
Halten Sie das für möglich?
Das halten viele Menschen für möglich.
Wenn also jemand innerhalb dieses Systems Herz zeigt und versucht, die Strukturen aufzubrechen…
…. ja, dann ist sein Leben in Gefahr.
So schlimm?
Ja, natürlich. Diejenigen, die das wagen, riskieren ihr Leben.