Schöne neue Schule 2020
Eine Realsatire von Horst Bethge
Die Geschwister Paula und Paul besuchen in Wansen an der Lahe weiterführende Schulen: Paula, die Ältere, das Goethe-Gymnasium und Paul die Friedrich-Ebert-Stadtteilschule. Denn, als er eingeschult wurde, war die Primarschule des Goethe-Gymnasiums als Folge der Bildungsreform zur SvS (Selbst verwaltete Schule) überfüllt. All zu viele Eltern hatten diese Vorschule der Primarstufe, die bei dieser ehrwürdigen Bildungsanstalt angedockt war, angewählt, weil sie sich davon Vorteile versprachen. So musste denn der Zweitgeborene Vorlieb mit der Stadteilschule nehmen, in die zumeist die Arbeiter- und Ausländerkinder gingen. Die Eltern hatten für beide Kinder Bildungsgutscheine von der Kommune bekommen: Blaue für die drei Rs (reading, writing, arithmetics), grüne mit einem großen L für languages, gelbe für Naturwissenschaften, Sport, Musik , Kunst, Schwimmen, Computer,
Kochen, Holz- und Metallwerken. Die blauen lösten sie gegen Unterricht an den beiden Schulen ein. Die grünen bei der Berlitz-School am Ort, die gelben für Naturwissenschafts-Kurse im Phywe-Lehrinstitut. Für die anderen gelben hatten sie im Sonderangebot bei Tschibo Gutscheine eingetauscht, die sie in der JEKI- Liz-Mohn-Musikschule (Jedem Kind ein Instrument, früher kommunale Jugendmusikschule), dem örtlichen Body-Builder und dem Vattenfall Kochstudio einlösen konnten. Es blieben sogar noch einige übrig, die sie für Nachhilfe bei der Klett-Tochter „Schülerhilfe“ ausgeben konnten. Da beide Kinder zwar hochbegabt, aber Legastheniker waren, bezahlen die Eltern aus den Konten des Bildungsspar-Briefes der Deutschen Bank, den die Großeltern schon vor Jahren angelegt hatten, Förderunterricht bei der Sylvan-Learning- Schule, die nach US- Methoden fördert.
Die beiden Schulen sind unterschiedlich organisiert: Das Goethe-Gymnasium ist vor Jahren an den Phorms-Schulkonzern aus Berlin verkauft worden, die F. Ebert-Schule ist ein PPP-Projekt, das heißt ein Public-Private-Partnership-Projekt zwischen der Stadt Wansen an der Lahe und der Bertelsmann-Stiftung. Beide erhalten von der Stadt ein festes Budget pro Jahr, müssen aber Zusatzeinnahmen akquirieren, um den Schulbetrieb aufrechterhalten zu können. Beim Goethe-Gymnasium zieren große Reklamen die Außenwände und Werbetafeln jeden Schulflur. Es hat einen Generalvertrag mit Coca Cola, das auch die rote Schulkleidung gegen eine geringe Gebühr der Eltern stelle und die Schulkantine in Kooperation mit MacDonalds unterhält. Es war im letzten Jahr ins Gerede gekommen, was zu tagelanger Pressefehde in der „Wansener Allgemeinen“ führte, weil ein Primaner von der Schule geflogen war, der plötzlich mit einem Pepsi-T-Shirt erschien und sich weigerte, es auszuziehen. Trotz guter Noten flog er, weil die Schule die Konventionalstrafe aus Atlanta fürchtete. Die F. Ebert- Schule zeigt nur Werbung für Firmen des Bertelsmann- Konzerns: RTL, Arvato, Random House, VOX, UFA, Bertelsmann- Buchklub und so fort. Vor allen Unterrichtsstunden erscheint auf den Klassen- Beamern „Diese Stunde wird Euch präsentiert von RTL II“ oder „Diese Geographie-Stunde wird präsentiert vom Verlag Perthes in Gotha“, denn Bertelsmann hat ja inzwischen fast alle deutschen Fachverlage aufgekauft, aber die eingeführten Namen gelassen. Der Direktor, Dr. Dr. Maddelhilf, ein ehemaliger Bertelsmann- Manager, hat dafür gesorgt, dass der F. Ebert- Schule die gesamte Schulhoffläche erhalten blieb. Im Goethe- Gymnasium ist der halbe Schulhof abgetrennt und als Parkplätze an umliegende Geschäfte vermietet worden. PPP mit Bertelsmann hat eben seine Vorteile: Man brauchte sich nicht jedes Jahr um neue Sponsoren zu bemühen! Auf beiden Schulhöfen patrouillieren Doppelstreifen von Securitas, die auch an den Eingangsschleusen die täglichen Sensorkontrollen nach Waffen und Messern vornehmen. Die Phorms AG bringt ihr eigenes Gebäudemanagement einschließlich der Hausmeister mit, bei der F. Ebert- Schule kommen sie von der größten Bertelsmann-Tochter Arvato. Das sind zumeist 1-Euro- Jobber. Ebenso die Fahrradwachen, Putzfrauen, KantinenhelferInnen und Schulsekretärinnen.
Beim Goethe-Gymnasium gibt es Lehrer-Jahresverträge. 20 % des Gehaltes werden als Leistungsprämien gezahlt. Die LehrerInnen sind alle sehr jung, weil sie jährlich gegen die alten, deshalb teureren Lehrkräfte ausgetauscht werden. Bei der Bertelsmann-Schule gibt es 2 Jahres- Verträge, dafür aber mehr Teilzeit-Kräfte, unter denen viele Uni-Assistentinnen ihren Zweitjob haben. Alle Lehrkräfte arbeiten 40 Stunden in der Schule, haben dafür aber auch alle ihren persönlichen Counter als festen Arbeitsplatz in der Schule. Durch die neueste EU- Dienstleistungsrichtlinie sind Zeugnisse, Ziffernnoten und Schüler-Portfolio-Mappen abgeschafft und durch europaweit anerkannte „Skill-Cards“ ersetzt worden. Alle Leistungen, alle Kurse, auch die beim privaten Body-Builder verbrachten, jeder Tadel und jedes Versäumnis wird sofort elektronisch auf die Karte geladen, deren sonstige Angaben mit dem 2006 eingeführten Schülerzentralregister übereinstimmen. Dafür gibt es jeweilige Credit-Points. Und auch die Ergebnisse der Lehrer-Tamagotschis werden übertragen. In den „Drei R-Stunden“ hatten die LehrerInnen Tastaturen mit 60 Knöpfen auf den Pulten, für jeden Schüler einen roten und einen blauen. Blau wird bei jeder richtigen Antwort oder guten Frage gedrückt, rot bei falschen oder keinen Antworten, beim Schwatzen oder bei Unaufmerksamkeit. Die Eltern können sich gegen Gebühr, an die Schule zu zahlen, online einloggen und so alle halbe Stunde das Verhalten ihrer Sprösslinge abfragen. Wer 120.- monatlich zahlt, kann das alle 30 Minuten tun, wer 60.- € zahlt nur alle 60 Minuten.
Im Goethe-Gymnasium erhält jeder Schüler einen Laptop von Intel, den die Eltern verbilligt kaufen können, bei der F. Ebert-Schule die von Microsoft, die Bertelsmann stellt. Auch die LehrerInnen planen ihren Unterricht und die Power-Point-Präsentationen auf kostenlos überlassenen Computern. Bei Intel müssen sie die Unterrichtsentwürfe bei der Intel-Akademie in Dillingen abliefern, die Bertelsmänner bei Random-House in Gütersloh. Dafür können sie dann die weltweit vernetzten Datenbanken mit vorfabrizierten Unterrichtsstunden nutzen – gegen Gebühr pro Modul versteht sich. Das macht aber gar nichts, denn aller Unterricht ist modularisiert und auf bundesweite Standards ausgerichtet. Er wird auch ständig evaluiert. Die Ergebnisse werden für die SchülerInnen in die Skill-Cards eingetragen, für die Lehrerinnen in ihre Gehaltskonten. Sie dienen als Grundlage für die Leistungszulagen (so genannte „Leistungsabhängige Gehaltsbestandteile“, die schon Rot-grün in den Neunzigern in die Beamtengesetze eingeführt hatte).
Obwohl Paulas Schule Teil einer privaten AG ist und die von Paul eine halbstaatliche PPP-Schule: Für die Steuerung macht das keinen Unterschied. In allen Schulen der EU gibt es nämlich einheitliche Kostenkennziffern für das gesamte schulische Geschehen, insgesamt 900, die zur SAP R 3- Steuerungssoftware gehören. Leistungen der Schüler und Lehrergehälter werden nach den Sollkennziffern abgerechnet, genauer, nach dem Erreichungsgrad. Z. B. wie viel % des Unterrichts computergestützt erteilt wurde oder wie viele % der Schulabgänger eine Lehrstelle im dualen System ergattert hatten oder wie viel % der Schüler mit einer Lehrkraft zufrieden gewesen sind oder wie viele % der Wörter im Test richtig geschrieben worden waren. Das Phorms Goethe-Gymnasium benutzt dafür das von der amerikanischen ETS (Educational Testing Systems, der weltweit größte Test-Konzern, der real die riesigen PISA-Tests für die OECD durchführte) entwickelte Evaluationssystem. Die F. Ebert- Schule als Bertelsmann-PPP-Schule natürlich das von Bertelsmann entwickelte SEIS- Evaluationssystem. Die Prozentrangplätze beider Schulen gehen in das jährliche, bundesweite Ranking ein, das die KMK verordnet hat und das FOCUS jährlich in einem FOCUS-Spezial veröffentlicht. Auch in der Internet- Plattform „Spick mich“ kann man es nachlesen und ggf. herunterladen. Die einzelnen Ergebnisse werden nach einem komplizierten System faktorisiert, in die auch die Computerauswertung aller Schulhof- Videokameras und – mikrophone eingehen. Denn es gibt bei Schulhof- Raufereien, dem Gebrauch von Schimpfwörtern oder der Benutzung fremder Sprachen auf dem Schulhof (Schulordnung am Goethe-Gymnasium § 3: „Im Namen des großen deutschen Dichters wird von allen auch auf dem Schulhof deutsch gesprochen!“) einen Punkteabzug. Die Videokameras in Verbindung mit dem computerlesbaren biometrischen neuen Personalausweis, von Schäuble 2008 eingeführt, erlauben eine genaue Zuordnung der Bilder oder Stimmen zu bestimmten SchülerInnen. Das ist für die zukünftigen Sollkennziffern wichtig. Bei Phorms gab es sie zentral, bei Bertelsmann müssen sie jährlich zwischen Schulleitung, Lehrern, SchülerInnen und Eltern in „Ziel- und Leistungscontrakten“ neu vereinbart werden.
Gut ist, dass jetzt viel weniger Unterricht ausfällt. Die täglichen vom Schulcomputer ausgedruckten Lehrer-Stundenpläne setzen zahlreiche VertretungslehrerInnen ein, denn sowohl das Goethe-Gymnasium wie die F. Ebert-Schule sind als SvS- Schulen, die ihr Personal selbständig rekrutieren und einstellen dürfen, gegen Gebühr an den privaten Pool der Lehrerfeuerwehr im Landkreis Horburg angeschlossen, den die Bildungsinfrastruktur GmbH errichtet hat. So können jederzeit stundenweise Hausfrauen, Rentner, Arbeitslose, prekär Beschäftigte aller Art ein Zubrot verdienen.
Mit Vermietungsgebühren für die Schulräume an private Firmen, für die Tonwerkstatt an eine Töpferei, der Kunst- und Holzwerkstatträume an die Volkshochschule und der Kantine an Pizza-Hut kann das Goethe- Gymnasium zusätzliche Einnahmen gewinnen. Die F. Ebert Schule vermietet den Computerraum an die Seniorenakademie, zumeist sogar mit älteren Schülern als Honorarlehrkräften, die als Ich-AG Lizenzgebühren dafür an die Schule abführen. Diese wiederum muss für die Evaluation nach SEIS 300.- € pro Klasse an Bertelsmann abführen und hat ja auch sonst allerlei Kosten für outgesourcte Dienstleistungen zu tragen.
Aber auch die Lehrkräfte haben Vorteile: Die zentral von der Humboldt-Uni entwickelten Bildungsstandards sind in leicht abtestbare Module gegossen. Darum gibt es auf den Datenbänken fertige Unterrichtseinheiten zum Abrufen. Schulprogramme lässt die F. Ebert Schule von Arvato entwickeln, das Goethe Gymnasium kauft sie bei Accenture (früher bis zum Enron- Skandal in USA Anderson- Consulting). Berufsberatung führt das Berliner „Bildungsnetzwerk Bildung“ mit einer ehemaligen Berliner Schulsenatorin und früheren GEW- Funktionärin an der Spitze durch. Die Schulleitungen können sich ganz auf die pädagogische Leitung konzentrieren, denn ein kaufmännischer Direktor aus der Wirtschaft zählt als Manager immer zur Schulleitung, verantwortlich für die Vergabe und Kontrolle der outgesourcten Aufgaben wie Rechnungswesen, Personalverwaltung, Sponsoren- Akquisition, Bewerber-Assessment nach dem Verfahren PRAXIS (Professional Assessments for Beginning Teachers). Für die wissenschaftliche Begleitung sorgt Bertelsmann bei den PPP-Schulen, bei anderen die private Bremer Uni IUB (neuerdings in Jacobs-Kaffee-Uni umbenannt) mit ihrem Kooperationspartner, der Rice-University in Austin (Texas). Überhaupt findet die Lehrerausbildung jetzt als weiteres PPP-Projekt entsprechend der neuen EU- Richtlinie Bolkestein IV mit Trainern der Universität Riga statt, nach lettischen Gehältern bezahlt, also sehr preiswert (Herkunftsland- Prinzip).
Auch, vor allem betuchte Eltern, profitieren ebenfalls: Sie können an der „Gutschein- Börse“, eben wie Aktien, Bildungsgutscheine dazukaufen. Die Idee dazu hatten vor Jahren Schüler im Rahmen des von der Wirtschaft ausgelobten Wettbewerbs „Junior Entrepreneurs“ entwickelt und profitabel an Sylvan Learning verkauft, die diese Börsen nun an ihren Dependancen in Berlin, Frankfurt, München, Dresden und Hamburg unterhält.
Entsprechend der Expertise der„Sächsisch-Bayrischen Zukunftskommission“ aus den Neunzigern hat nun endlich die KMK verbindlich festgelegt, dass 30 % aller Schulabgänger mit den meisten Credit Points, weil in Zukunft nicht mehr so viele Absolventen benötigt werden, um das gegenwärtige Produktionsniveau aufrecht zu erhalten, zum Studium zugelassen werden. 20 % sind für die Berufsausbildung festgelegt wegen gelegentlicher und konjunktureller Zeit- und Hilfstätigkeit. Für 50 % der Schulabgänger bieten die Arbeitsagenturen Qualifizierungsmaßnahmen unter Bezeichnungen wie IQCP oder ISO 2020 als Warteschleifen aller Art an, „to cool out the kids“, in denen Konsumerziehung auf Drängen von LIDL und ALDI, Medienerziehung auf Verlangen von RTL, weil die Einschaltquoten für „Deutschland sucht den Superstar“ erheblich zurückgehen, Ernährungslehre nach Modulen von MacDonalds und Verkehrserziehung auf Anregung von VW und vom ADAC verpflichtend angeboten werden.
Kurz: Paula und Paul haben Glück, dass sie moderne Schulen besuchen, die beim PISA-Ranking gut abschneiden, und dass sie sich nicht wie früher mit verstaubter Allgemeinbildung herumschlagen müssen. Paula geht nach 12 Schuljahren dem Abitur entgegen, und will sich, da sie sprachbegabt ist, demnächst dem TOEFL unterziehen (Test of English as a Foreign Language, entwickelt von Sylvan Learning, weltweit eingesetzt), um mit einem Rockefeller-Stipendium im Ausland zu studieren. Die Studiengebühren in der BRD sind jetzt mit 2000.- € pro Trimester auch wirklich zu hoch. Paul hofft, nach Kl. 10 genug Credit Points zusammenzubekommen, um zu den 20 % Azubis zu gehören. Er macht nun gerade bereits das dritte kostenlose Praktikum bei Unilever.
Notwendiges Nachwort:
Die schöne neue Schule 2020 mag mancher für Science Fiction oder blühende Autorenphantasie halten. Aber alles das gibt es schon an Schulen. Jetzt, 2008, noch nicht alles in der BRD, aber schon hier und da das Eine oder Andere an Schulen in der OECD. Nicht alles an zwei Schulen in Wansen an der Lahe – aber der Trend geht auch dort dahin. Denn Ökonomisierung, PPP und Privatisierung in der offiziellen Bildungspolitik schreiten rasch fort. Aber es gibt Hoffnung, dass es anders kommt: Findige Hacker des Chaos Computer Clubs (CCC) sind gerade in die zentralen Rechner des bundesweiten Schülerregisters und bei denen bei Bertelsmann eingedrungen und haben Programme mit offenen Quell-Codes entwickelt, dass jeder seine Skill-Card selbst aufladen kann. So hat nun jede Lehrkraft unverhofft eine neue Sollkennziffer als Bildungsziel vor Augen: Die SchülerInnen zu 100 % zu Aktivisten im CCC zu befähigen!
Horst Bethge, Grund-, Haupt- und Realschullehrer a. D., ehemals Mitherausgeber „Demokratische Erziehung“, langjährige Mitarbeit in der GEW, Referat Bildungspolitik, Z. Zt. Sprecherteam der BAG Bildungspolitik der LINKEN und im European Educational Forum innerhalb des Europ. Sozialforums. Veröffentlichungen zum Thema:
„Die Bildungsmärkte der Wissensgesellschaft. Public Private Partnership an Schulen“ in Bittlingmayer/Bauer (Hrsg.)“Die Wissensgesellschaft- Mythos, Ideologie oder Realität“, VS Verlag f. Sozialwissenschaften, Wiesbaden, 2006
„Bertelsmann macht Schule“ in Wernicke/Bultmann „Netzwerke der Macht-Bertelsmann“, BdWi- Verlag, Marburg, 2007
(überarbeitetes Eingangsreferat vor der LAG Bildungspolitik der LINKEN in Sachsen, Dresden 25. 4. 08)