Jez, he did! Die Ära der Alternativlosigkeit ist vorbei
Damit haben wohl nur eingefleischte Optimisten gerechnet – nach einer desaströsen Wahl müssen sich die britischen Konservativen einen Koalitionspartner suchen und gehen nicht gestärkt, sondern massiv geschwächt in die Brexit-Verhandlungen. Der große Sieger der Wahl ist Jeremy Corbyn, auch wenn Labour trotz sensationeller 40% nur als zweistärkste Kraft ins Unterhaus einzieht. Setzt man dieses Ergebnis in den passenden Kontext, wird jedoch schnell klar, dass diese Wahl eine Zeitenwende darstellt. Plötzlich zeigt sich, dass es sehr wohl Alternativen zum neoliberalen Einheitsbrei gibt. Wir sollten Corbyn die Hand reichen und uns aus unserer Duldungsstarre befreien. Von Jens Berger.
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Zum Thema auf den NachDenkSeiten: Jens Berger – „Großbritannien wählt und es wird noch einmal richtig spannend“
Lukas Oberndörfer – „Was wir von Jeremy Corbyn lernen können“
Was hätten die Wahlkampfmanager im Willy-Brandt-Haus noch vor wenigen Tagen geantwortet, wenn man ihnen gesagt hätte, dass man auch heute als Sozialdemokrat noch gute Wahlergebnisse einfahren kann, wenn man eine echte linke Politik anbietet, einen authentischen Kandidaten aufstellt, den zu erwartenden Gegenwind der Medien einfach über sich hinwegziehen lässt und stattdessen auf Graswurzel-Bewegungen und die Sozialen Medien setzt? Was würden die Strategen der SPD antworten, wenn man ihnen sagt, dass man als progressive politische Kraft Wahlen nicht in einer ominösen Mitte, sondern bei den Jungwählern gewinnen kann? Es ist kein Zufall, dass die Briten ihre „Corbymania“ und wir den Schulz-Zug haben, der momentan eher an eine rostige Draisine erinnert.
Bei der Linkspartei sieht es nicht viel besser aus. Zwar haben die Linken mit Sahra Wagenknecht eine authentische und charismatische Spitzenkandidatin; jedoch stehen Teile der Partei nicht hinter dieser Kandidatin, sondern wetzen bereits unter ihrer Toga die Dolche und können es offenbar gar nicht abwarten, ihre Werte für einen Platz am Katzentisch der großen Politik zu verkaufen. Jeremy Corbyn hat gezeigt, wie man sich mit Hilfe von jungen Anhängern und einer treuen Basis die nötigen Freiräume verschaffen kann. Das Wahlergebnis in Großbritannien sollte den progressiven Kräften in der Linkspartei Rückenwind geben. Jeremy Corbyn hat viele linksliberale Selbstverständlichkeiten hinterfragt und eigene Akzente gesetzt. Man muss keinem Mainstream hinterherlaufen, um die Menschen für sich zu gewinnen. Authentizität ist wichtiger als Koalitionsfähigkeit.
Vielleicht sind die progressiven Kräfte in Deutschland auch ganz einfach nicht mutig genug. Vielleicht nehmen wir die Kommentare in Medien, die uns ohnehin niemals wohlgesonnen sein werden, da sie unsere Ideen ablehnen, zu ernst und setzen die Schere im eigenen Kopf viel zu früh an. Sollen sie doch toben! Das ist wohl eine der wichtigsten Lektionen aus dem britischen Wahlkampf. Jeremy Corbyn wurde erbittert von einer breiten Medienkoalition bekämpft, die vom linksliberalen Guardian bis zum rechtspopulistischen Daily Express reicht. Dennoch konnte Corbyn ein besseres Ergebnis erzielen als Blair 2005, Brown 2010 und Miliband 2015. Die Deutungshoheit der traditionellen Medien ist offenbar bereits viel stärker angeschlagen, als wir es uns vorstellen können. Wenn Videos von Corbyns Wahlkampfveranstaltungen in den Sozialen Medien mehr als drei Millionen Zugriffe haben, ist dies eine gelebte Gegenöffentlichkeit.
Diese Verschiebung der Deutungshoheit erklärt vielleicht auch zum Teil die großen Unterschiede bei den Parteipräferenzen in den Altersgruppen. Je jünger die Wähler, desto geringer der Anteil der Konsumenten klassischer Medien und desto größer der Anteil der Corbyn-Stimmen. Je älter und geringer der Anteil der Nutzer digitaler Medien und Sozialer Netzwerke, desto größer der Rückhalt für die Tories. Dies ist freilich nur eine These. Demoskopen und Medienwissenschaftler sollten sich vor allem unter dem Eindruck des Achtungserfolgs von Jeremy Corbyn künftig verstärkt der Frage widmen, wie groß der Einfluss der unterschiedlichen Medien auf die Wahlentscheidung ihrer Konsumenten heute ist. Die Ergebnisse könnten den einen oder anderen sicher überraschen. Ich persönlich vermute schon seit Längerem, dass die Zeiten der Deutungshoheit der klassischen Medien schon lange vorbei sind und die Gesellschaft mit steigender Digitalisierung und Vernetzung eine Art Immunsystem gegen diese Form der Meinungsmache entwickelt. Auch die NachDenkSeiten tragen dazu ja jeden Tag ein Stück bei.
Nur Mut! Wenn uns der Erfolg Jeremy Corbyns eines gelehrt hat, dann ist es jedoch die Lektion, dass es sehr wohl Alternativen zu den angeblichen Sachzwängen gibt, mit denen die konservativen, liberalen und sozialdemokratischen Parteien hausieren gehen. Corbyns Wahlkampf war vor allem ein inhaltlicher Wahlkampf und es waren klassisch sozialdemokratische Inhalte, mit denen Labour 40% der Wähler begeistern konnte. Dies stellt die Wahlkampflogik der SPD auf den Kopf. Wenn Sozialdemokraten ihre ureigenen Werte über Bord werfen, um sich bei einer ominösen Mitte anzubiedern, gehen sie an den Wahlurnen unter. „You can fool some people sometimes, but you can’t fool all the people all the time” – so sang es schon Bob Marley. Jeremy Corbyn beweist, dass die Sozialdemokratie eine Renaissance erleben könnte, wenn sie diese Lektionen versteht und verinnerlicht. Das ist ausnahmsweise wirklich alternativlos. Denn wenn die Sozialdemokratie diese Lektion nicht versteht, wird sie in wenigen Jahren nicht mehr existent sein.