Occupy Brasília: der Tag, an dem Michel Temer die Diktatur probte
So etwas hatte Brasília seit der Hauptstadtgründung, vor rund 70 Jahren, nie erlebt. Eine Menschenmenge von 150.000 (Polizeiangaben zufolge “25.000”) Demonstranten, angereist aus den entferntesten Landesteilen Brasiliens, marschierte vor dem Regierungsviertel auf und forderte den sofortigen Rücktritt eines wegen schwerer Korruption und Justizbehinderung angeklagten Präsidenten: „Nieder mit dem Angriff auf unsere Sozialrechte!”, „Temer raus!”, „Sofortige Direktwahlen!”. Ein Bericht von Frederico Füllgraf.
Über Stunden hinweg ging es absolut friedlich zu. Doch zweierlei Provokationen der massiv auftretenden Polizei verwandelten die Esplanade der Ministerien in ein Schlachtfeld. Grundlos und ohne jeden Dialogversuch feuerte die Polizei Gummigeschosse, Tränen- und Pfeffergas in die Menge. Als Reaktion flogen die ersten Steine. Tumult brach aus. Diesen Augenblick nutzten maskierte Randalierer, um die Glasfronten von sechs dicht beieinanderliegenden Ministerien zu zertrümmern und Feuer zu legen. Auffälliger- und bezeichnenderweise konnten die Vermummten frei hinter dem Rücken der sonst so aufmerksamen Polizei operieren.
Sehr bald verdichteten sich Vermutungen, zahlreiche agents provocateurs seien von der Polizei in den Aufmarsch eingeschleust worden. Ihre Gewaltakte sollten Anlass für harten Eingriff und die Kriminalisierung des Protests liefern. Seit 2013 konnten immerhin in Rio de Janeiro und São Paulo wiederholt eingeschleuste Agenten des Geheimdienstes der Bereitschaftspolizei und des Militärs enttarnt werden.
Brasilias Polizei schlug und schoss sich brutal und blutig durch die Menschenmenge, mit Kavallerie und aus der Luft. Einsatzbilanz: 49 Verletzte, darunter ein durch eine Schusswaffe der Polizei Schwerverletzter, und 8 Festgenommene.
Wer je leichtfertig mit der Bedeutung des Sprichwortes, „ein Bild sagt mehr als tausend Worte“ umgegangen ist, dem sind die Bilder der brasilianischen Journalistengruppe Mídia Ninja ans Herz zu legen. Sie sagen vieles über den Tag, an dem Michel Temer eine neue Diktatur probte (Facebook).
Nachdem die Regierung die überstürzte und unnötige Evakuierung sämtlicher Ministerien befohlen hatte, schritt das Heer ein. Das hatte es seit Ende der Militärdiktatur 1985 nicht mehr gegeben.
Parallelhandlung: Opposition erstürmt Leitung der Abgeordnetenkammer
Vom brutalen Polizeieinsatz alarmiert, erstürmten die Fraktionsführer der linken Opposition den Stuhl des Präsidenten der Abgeordnetenkammer, Rodrigo Maia, mit der Parole “Sofortige Direktwahlen, das Volk will wählen!”. Trickreich und mit der Unterstützung von 358 mehrheitlich der Korruption angeklagter, regierungstreuer Abgeordneten hatte Maia versucht, eine Tagesordnung durchzusetzen, die die Debatte über einen Verfassungsänderungsantrag zur Genehmigung von Neuwahlen verhindern sollte. Die “Temer-Bande”, wie die Regierungstreuen genannt werden, will jedoch selbst, also durch indirekte Wahl, den Nachfolger Temers bestimmen, hat darüber jedoch noch keinen Konsens erzielt.
Gestützt durch die Klage des Obersten Gerichtshofs gegen den Präsidenten und dessen Ablehnung durch 95 Prozent der Brasilianer, fordert hingegen der von der Arbeiterpartei (PT) angeführte, 144 Abgeordnete zählende Oppositionsblock die Abhaltung sofortiger Neuwahlen nach dem erwarteten, jedoch eher unwahrscheinlichen freiwilligen Rücktritt oder der erzwungenen Amtsenthebung Michel Temers.
Da rief Rodrigo Maia die Nationalgarde “Força Nacional” zu Hilfe. Sie sollte das Parlamentsgebäude gegen einen angeblichen Ansturm der Demonstranten schützen. Die Opposition nahm den Hilferuf zum Anlass, demonstrativ den Sitzungssaal zu verlassen und sich draußen der unter Wolken von Tränengas keuchenden Menschenmenge anzuschließen.
Der Militäreinsatz und das Fiasko Temers
Doch Verteidigungsminister Raul Jungmann und Michel Temer verboten den Hilferuf und befahlen den Einsatz des Heeres. Bis zum 31. Mai sollen die Truppen die Hauptstadt “sichern” (siehe Erlass vom 24. Mai, fälschlicherweise mit 24.12.2017 unterzeichnet). In Wahrheit war Temers Absicht, den Ausnahmezustand über Brasília zu verhängen.
Mitunterzeichner des Dekrets war General Sérgio Westphalen Etchegoyen, seit Dilma Rousseffs Sturz Chef des Inlands-Geheimdienstes ABIN. Im Vergleich zu den als „legalistisch” geltenden Chefs der drei Waffengattungen predigt der rechtsradikale Sohn eines Foltergenerals der Militärdiktatur seit seinem Amtsantritt, im Mai 2016, die Notwendigkeit der „Terrorismusbekämpfung” und erklärte die sozialen Bewegungen der Landlosen (MST) und Wohnungslosen (MTST) zu „Staatsfeinden”.
Im Handumdrehen waren der Regierungssitz und das Parlament von mindestens 1.500 Soldaten eines Kommandos zur “Aufstandsbekämpfung” umzingelt. Der Befehl blieb nicht unwidersprochen. Nicht nur protestierte die Opposition, sondern der brüskierte, weil von der Entscheidung ausgeschlossene Gouverneur des Hauptstadt-Distrikts, Rodrigo Rollemberg. Marco Aurélio de Mello, einer der elf Richter am Obersten Gerichtshof, unterbrach eine Verhandlung und sagte: „Ich hoffe, die Nachricht ist eine Finte!”.
“Durch die Blume” kritisierte der Heereskommandant, General Eduardo Villas Bôas, den überstürzten Befehl. „Die Polizei des Hauptstadtdistrikts hat selbstverständlich die Mittel, um allein das Gesetz und die öffentliche Ordnung sicherzustellen“, erklärte der Militär und ließ Temer sprichwörtlich im Regen stehen. Villas Bôas entging nicht des Staatschefs verzweifelte Absicht, seine schrumpfende Macht öffentlich mit Militärpräsenz zu kaschieren.
Den autoritären Versuch, die Militärs auf seine Seite zu ziehen, probte Temer bereits am 19. Mai, unmittelbar nach Bekanntmachung einer geheimen Gesprächsaufzeichnung durch den wegen mehrfacher Korruption angeklagten Unternehmer Joesley Batista, der im Auftrag des Präsidenten millionenschweres Schweigegeld an den inhaftierten Temer-Intimus Eduardo Cunha zahlte.
Er wolle „die gegenwärtige Konjunktur” besprechen, erklärte der von der Justiz in die Enge getriebene Regierungschef den Befehlshabern der drei Waffengattungen. Die darauffolgende Note des Generals Villas Bôas war zugleich lakonisch und eindeutig: „Die Grundlage für den Einsatz der terrestrischen Streitkräfte ist die Stabilität, Legalität und Legitimität”. Besonders die Forderung nach Legitimität muss dem am parlamentarischen Putsch gegen Dilma Rouseff beteiligten Temer zugesetzt haben, weshalb er bereits am Donnerstag, den 25. Mai, den Militäreinsatz widerrief.
Brasilianische Karikaturisten bildeten Michel Temer in diesen Tagen als Hund ab, der sich an einen abgekauten Knochen klammert und nicht loslassen will. Der illegitime, nun der Justiz überführte Präsident versucht Zeit zu gewinnen, insbesondere seine „Ehre” zu retten.
Würde es seinen 358 treuen, geschmierten Abgeordneten gelingen, die wegen seiner Anklage unterbrochene Abstimmung über die Gesetze zur Aushöhlung der Arbeitsrechte und des Rentensystems im Galopp durchzupeitschen, könnte er noch für ein paar Monate mit der Gnade der daran interessierten, machtvollen Banken und Investoren rechnen, denn sein Hauptverbündeter, TV Globo, hat ihn längst abgeschrieben.