Freiwillige digitale Knechtschaft.
„Es gibt gute Menschen, und es gibt schlechte Menschen. Nun stell dir eine Welt vor, in der die Guten belohnt und die Schlechten bestraft werden“, sagt der chinesische Computerwissenschaftler Zhang Zheng und umreißt damit die Utopie der chinesischen Staatsführung. Schon in Harald Welzers Buch Die smarte Diktatur war ich auf das „soziale Kreditsystem“, das man in China praktiziert, um die Massen zu gesellschaftskonformem Verhalten anzuhalten, gestoßen. Am Wochenende nun berichtete die Süddeutsche Zeitung unter der Überschrift Schuld und Sühne ausführlich über dieses Projekt. Von Götz Eisenberg
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Es gibt zum Beispiel eine App namens „Ehrliches Shanghai“. Jeder Beteiligte erhält eine gewisse Anzahl von Punkten, die man durch „gutes Verhalten“ vermehren kann, und die sich durch „schlechtes Verhalten“ verringern. Die App sammelt Daten aus den unterschiedlichsten Lebensbereichen. Stromrechnung bezahlt? Blut gespendet? Mit den Steuerzahlungen in Rückstand? Schwarz mit der U-Bahn gefahren? Mal für einen kranken Nachbarn eingekauft? Schnee geschippt? Die App speist das Handeln ein und rechnet den jeweiligen Kontostand aus. Wer im Plus ist, kann in der städtischen Bücherei Bücher ausleihen, ohne die sonst übliche Kaution zu hinterlegen. „System für soziale Vertrauenswürdigkeit“ heißt das Projekt, das bis zum Jahr 2020 Wirklichkeit werden und alle Chinesen erfassen soll. In Shanghai betrifft es schon jetzt jeden Bürger. Algorithmen bewerten und trennen die Menschen in „gute“ und „schlechte“. Einer der Initiatoren erklärt: „Es geht um die Frage: ‚Bist du ein vertrauenswürdiger Mensch?‘ Es geht um die Ordnung des Marktes. Und letztlich geht es um nicht weniger als um die Ordnung der Gesellschaft.“ China experimentiert mit Formen einer digitalen Diktatur, die es so noch nicht gegeben hat und die sich selbst Orwell nicht vorstellen konnte.
Irgendwo in der Provinz existiert ein „Amt für Ehrlichkeit“, das wohl wegen der allzu deutlichen Analogie zu Orwells 1984 später in „Amt für Kreditwürdigkeit“ umbenannt wurde. Jeder startet mit 1000 Punkten und wird dann wie von einer Ratingagentur mit Bewertungen von AAA bis D versehen. Mit D gilt man als unehrlich, der Name kommt auf eine schwarze Liste, die Öffentlichkeit wird informiert. Mit D wird man Objekt signifikanter Überwachung. Die Vertrauenswürdigen sollen sich frei bewegen können, die Vertrauensbrecher sollen keinen einzigen Schritt mehr tun können. „Jetzt ist die Moral zurückgekehrt“, sagte einer der Verantwortlichen in Rongcheng. Die Namen der Vertrauensbrecher werden öffentlich bekanntgemacht. Man arbeitet nach wie vor mit Beschämung als Strafe und Mittel der Unterwerfung. „Unser Ziel ist, das Verhalten der Leute zu normieren“, sagt der zuständige Parteisekretär. Die Herabgestuften dürfen nicht mehr fliegen, bekommen keine Tickets für Hochgeschwindigkeitszüge, dürfen nicht in die komfortable Klasse der Nachtzüge, ihr Internetzugang wird eingeschränkt. Nicht nur der Umgang mit Geld fließt in die Bewertung durch den Algorithmus ein, sondern auch das moralische und gesellschaftliche Verhalten und natürlich auch die Spuren, die ein Mensch im Internet hinterlässt. Neu ist die Vernetzung von allem mit allem, also das, was man Big Data nennt. 731 Millionen Chinesen waren 2016 online, da fallen eine Menge Daten an, die man nun sammelt und in Beziehung zueinander setzt und zu Profilen verdichtet. Auch der Punktestand der Freunde geht in die eigene Bewertung mit ein. Also: Halte dich fern von Freunden mit einer schlechten Bewertung!
Solche Big-Data-Träume werden überall auf der Welt geträumt. In den wenigen sich liberal nennenden Demokratien ziert man sich noch ein wenig und es gibt noch Restbestände von Datenschutz. In China denkt man bereits an eine Zukunft, in der man über das System und seine Regeln nicht mehr wird sprechen müssen. „Vielleicht gelangen wir an einen Punkt“, sagt Zhao Ruiying aus Shanghai, „an dem keiner es mehr wagt, an einen Vertrauensbruch zu denken. Ein Punkt, an dem keiner mehr überhaupt auf die Idee kommt, unserer Gemeinschaft zu schaden. An dem Punkt wäre unsere Arbeit getan.“ Der heute noch angewendete Zwang und die Strafdrohungen werden dann überflüssig, wenn die Menschen den anfangs noch nötigen Fremdzwang verinnerlicht und in Selbstzwang verwandelt haben. Eines Tages erleben sie die Funktionsimperative des Systems als ihre eigene Leidenschaft. Das Leben Aller wird zwanglos zwangsgeregelt. Die Gewalt kann sich in die Kulissen zurückziehen, wo sie in Reserve liegt für den Fall, dass jemand aus dem System auszubrechen versucht und sich Widerstand regt. Die Kavallerie muss nicht ausrücken, es reicht, dass die Indianer wissen, dass es sie gibt. Die Gewaltfreiheit dieser Prozesse ist insofern Schein, als die Gewalt als verinnerlichte fortexistiert. Manifeste Gewalt wird nur noch ausnahmsweise angewandt; sie wird strukturell und funktioniert lautlos, stumm. Schon Marx hat diesen Vorgang beschrieben: Aus der anfangs zum Einsatz kommenden „Peitsche des Aufsehers“ wird der „stumme Zwang der ökonomischen Verhältnisse“. Die Menschen haben die Gewalt in sich hineingenommen. Sie wollen, was sie wollen sollen, und führen ihr ungelebtes Leben in stiller Verzweiflung. Eines Tages werden auch die letzten Spuren des unglücklichen Bewusstseins getilgt sein. Diesen Zustand hat Henri Lefebvre als „Entfremdung zweiten Grades“ bezeichnet. Das Leben unter Bedingungen der Entfremdung wird den Menschen zur zweiten Natur. Sie kennen nichts anderes mehr, wissen nicht mehr, wie das Leben gewesen ist, bevor es von den kapitalistischen Abstraktionssschüben erfasst und in die Warenform gepresst wurde. Damit sind wir „in die Entfremdung zweiten Grades eingetreten, in die Entfremdung über Entfremdung, die ihre Grenzen verwischt: Die verallgemeinerte Mimesis überlagert – ohne sie abzuschaffen – die Ware und das Geld. Die Entfremdung konditioniert nicht nur Individuen; sie lastet nicht nur auf Klassen: Sie erfasst die verschiedensten Gruppen und die ganze Gesellschaft.“
Wer abweicht, dessen Score fällt sofort, und man kann auf einer Internetseite auch den Score seiner Freunde einsehen, oder den seiner Feinde. Der digitale Pranger ist das Perfideste an diesem System. Auf diese Weise, merkt Harald Welzer an, „wird jeder zum Blockwart des anderen“. Die digitalen Kontrolleure und geheimdienstlichen Datensammler beömmeln sich über die Leute, die vor den Handy-Geschäften Schlange stehen, wenn das neueste Smartphone-Modell auf den Markt kommt. Sie geben ihr eigenes, meist sauer verdientes Geld aus, „um ihre eigene Stasi-Leitstelle“ mit sich herumtragen zu können. Niemand wird – jedenfalls hierzulande – mit vorgehaltener Waffe gezwungen, sich in die Kontrollnetze zu begeben. Von einem solchen Ausmaß „freiwilliger Knechtschaft“ (Étienne de La Boétie) haben frühere Diktatoren mit ihren vergleichsweise kruden Methoden nur träumen können. Was mich befremdet, ist der Umstand, dass sich ausgerechnet das sich ja immer noch kommunistisch nennende China zur Speerspitze der neuen Überwachungspraktiken entwickelt hat. Andererseits: Darf es einen nach all den staatlichen Kontroll- und Straf-Exzessen, die im Namen des Sozialismus und Kommunismus betrieben wurden, noch wundern? Leider hängen auch die Gesellschaften, die sich auf Marx berufen, einem sozialen Reinheitsideal an und träumen von einer homogenen Gesellschaft, aus der alle Abweichungen getilgt sind. Dahinter steht die Idee von einer „guten Gemeinschaft“, die von ihren negativen Teilen gereinigt ist, von jenen Elementen, von denen man annimmt, dass sie die „gute Gemeinschaft“ korrumpieren. Die Vorstellung von einem homogenen sozialen Körper, von einer „guten Gemeinschaft“, ist eine Wahnvorstellung, wie sie antidemokratischer nicht sein kann und deren Realisierungsversuche die schlimmsten Barbareien hervorgebracht haben. Wahrhafte Demokratie ist hingegen eine Schule für Konsens und Dissens, eine Gesellschaftsform, die die Entfaltung von Verschiedenheit ermöglicht und fördert. Oder besser: Sie sollte oder könnte es sein! Die real existierende repräsentative Demokratie ist eher eine Veranstaltung, die die Menschen anödet und frustriert. Hier gleicht sie der Schule. Wie diese den Schülern die Lust am Lernen austreibt, so führt die herrschende Form der Demokratie zur Verbreitung von Apathie und antidemokratischen Ressentiments.
Max Horkheimer schrieb bereits im Jahr 1968, Orwell sei „noch zu optimistisch“ gewesen. Die im Staat von 1984 von der herrschenden Clique angewandten Praktiken der Überwachung und Kontrolle seien überholt. „Das wird in absehbarer Zukunft alles nicht mehr notwendig sein. Denn die Einzelnen werden von frühester Jugend an so erzogen, dass sie sich automatisch, ohne Zwang, ohne irgendwelche Bedürfnisse zum Aufruhr oder gar zum Nachdenken, in die Gesellschaft des Ameisenhaufens einpassen.“ Haben wir angesichts des zeitgenössischen Handywahnsinns und der damit einhergehenden freiwilligen Selbstüberwachung Anlass, der düsteren Prognose Horkheimers zu widersprechen?
Der amerikanische Autor Dave Eggers hat einen Roman über ein fiktives, weltweit operierendes IT-Unternehmen namens Circle geschrieben, das wie eine Verschmelzung von Facebook, Apple, Google, Amazon und Twitter anmutet. Der Circle ist in gewisser Weise die Wiederaufnahme des Orwellschen Themas unter den Bedingungen des digitalen Zeitalters. Eggers lässt Kalden, einen der Gründer von The Circle, als ihm klar wird, dass das ganze Projekt auf einen totalitären Albtraum hinausläuft, den Satz sagen: „Ich meine, es war, als würde man auf dem Marktplatz eine Guillotine aufstellen. Du rechnest doch nicht damit, dass zig Leute Schlange stehen, um den Kopf reinzulegen.“
Hören wir zum Schluss noch einmal Harald Welzer: „Das hat es historisch noch nicht gegeben: Denn zu früheren Zeiten waren Geheimdienste und Geheimpolizeien noch darauf angewiesen, die Daten, die sie zur Ausforschung der Bürgerinnen und Bürger benötigten, selbst über Einbrüche, Lauschangriffe, Anheuern von Spitzeln, Belohnung von Denunzianten, verdeckte Ermittler usw. zu erheben. Heute liefern sie den Diensten alles frei Haus, die Bürgerinnen und Bürger. Organisationen wie die NSA und der BND und alle anderen müssen diese Datenflut nur noch in ihre Kanalisationssysteme leiten. Das macht alle zu Komplizinnen und Komplizen ihrer eigenen Überwachung.“
Götz Eisenberg ist Sozialwissenschaftler und Publizist. Er arbeitete mehr als drei Jahrzehnte lang als Gefängnispsychologe im Erwachsenenstrafvollzug. In der »Edition Georg Büchner-Club« erschien im Juli 2016 unter dem Titel »Zwischen Arbeitswut und Überfremdungsangst« der zweite Band seiner »Sozialpsychologie des entfesselten Kapitalismus«. Dort hat er im Herbst 2016 unter dem Titel: »Es ist besser, stehend zu sterben als kniend zu leben! No pasarán!« auch ein Bändchen zum Spanischen Bürgerkrieg veröffentlicht.