Woran liegt es, dass das Internet im deutschen Wahlkampf so ein Schattendasein fristet?
Unser Blogger-Kollege Jens Berger, der den lesenswerten und gut gemachten Blog „ Der Spiegelfechter“ herausgibt, hat einen interessanten Artikel im Freitag geschrieben, in dem er sich mit den Unterschieden der politischen Bedeutung von Blogs, ihrem Selbstverständnis und den Einflussmöglichkeiten des „Graswurzeljournalismus“ in den USA und Deutschland auseinandersetzt. Ich habe mir über das Selbstverständnis der „NachDenkSeiten“ im besonderen und über die Möglichkeiten und Barrieren von politischen Blogs im Allgemeinen auch seit langem Gedanken gemacht und möchte dem Beitrag von Jens Berger einige Thesen hinzufügen. Wolfgang Lieb
Zunächst zu dem Diskussionsbeitrag von Jens Berger:
Jens Berger kommentiert in seinem Blog „Die Spiegelfechter“ medienkritisch aktuelle politische Entwicklungen. Ich teile seine Auffassung, dass das Internet im deutschen Wahlkampf gemessen an der Wahlkampagne von Barack Obama bisher ein „Schattendasein“ führt. Das wird auch auf absehbare Zeit so bleiben, wenn auch sicher von den Parteien dieses Medium etwa bei der Bundestagswahl stärker für die Wahlwerbung genutzt werden wird.
Ich bin auch seiner Meinung, dass die Netzgemeinde in Deutschland hinsichtlich Reichweite, Leserinteresse und Relevanz sich keineswegs hinter den Blogs in den USA, nicht einmal hinter dem größten Politblog der USA, der Huffington Post, verstecken muss.
Er hat völlig Recht: übertragen auf deutsche Zahlen hat die „HuffPo“ 47.000 Leser am Tag, die NachDenkSeiten hatten im Januar 2009 täglich durchschnittlich über 30.000 „Visits“, am Tag nach der Hessenwahl sogar 38.000.
Berger vertritt die These, dass der große Unterschied zwischen den USA und Deutschland nicht etwa in der Struktur der Netzmedien bestehe, sondern in der Partizipation der Bürger am politischen System. In den USA herrsche bei der Netzgemeinde das Selbstverständnis vor, ein Teil des politischen Systems zu sein und es aktiv mitgestalten zu können. In Deutschland beschränke sich die politische Partizipation über das Netz meist auf die Kritik an der institutionellen Politik. Die politischen Blogs betrachteten sich nicht als aktive Mitspieler auf dem Spielfeld der großen Politik, sondern als Kommentatoren, die von der Tribüne aus Fehler und Schwächen erläuterten und bewerteten: „Das Publikum soll das Spiel besser verstehen. Weder die Zuschauer, noch die Kommentatoren geben sich der Illusion hin, selbst etwas am Spiel ändern zu können“, so Bergers Urteil über die deutschen Blogs.
Aus Sicht der NachDenkSeiten kann ich Jens Berger nur teilweise zustimmen. Ja, wir verstehen uns in erster Linie als „Aufklärer“. Wir versuchen uns dem eindimensionalen Meinungsstrom der Leitmedien entgegenzustellen und uns mit Daten, Fakten und Argumenten vor allem auf den Feldern der Wirtschafts- Sozial- und Wissenschaftspolitik mit den bei uns in der veröffentlichten Meinung (und in den herrschenden Parteien) absolut dominanten Ideologien auseinanderzusetzen und Alternativen dagegen zustellen. Wir sind damit zwar in einer Minderheitenposition, aber keineswegs außerhalb des politischen Systems. Es ist eher die Rolle des Davids gegen Goliath oder die Arbeit eines Sisyphus, der den Felsbrocken jeden Tag aufs Neue den steilen Berg hinaufrollen muss.
Ja, wir wollen, dass unser Publikum „das Spiel besser versteht“, indem wir versuchen, den Blick unserer Leserinnen und Leser hinter die Kulissen der Meinungsbeeinflussung und der täglichen Propaganda zu lenken. Wir meinen, dass wir vor allem dadurch „etwas am Spiel ändern können“, dass wir versuchen, am Aufbau einer Gegenöffentlichkeit gegen die absolut vorherrschende Meinungsmache in den Medien und durch die etablierten Parteien mitzuwirken. Wir sehen eine wichtige Aufgabe darin, Menschen, die an den gängigen Parolen und am Erfolg der Agenda-Politik zweifeln oder sogar verzweifeln, in ihrem Zweifel zu stärken, indem wir ihnen ein Stück weit Sicherheit geben, dass sie mit ihren Ansichten und Erfahrungen, die so ganz anders sind, als ihnen täglich eingebläut werden soll, nicht allein stehen, sondern dass es ziemlich viele Gleichgesinnte oder Kritiker am herrschenden Kurs gibt.
Indem wir „Fehler und Lügen aufdecken“, befürchten nicht, dass dadurch „vor allem die Partei der Nichtwähler an Stimmen gewinnen“ wird. Aus den Rückmeldungen an uns entnehmen wir vielmehr, dass die NachDenkSeiten jedenfalls viele unserer Leserinnen und Leser vor der Flucht in die politische Resignation abhalten und wir sie ganz im Gegenteil dazu ermuntern, sich wieder in die öffentliche Debatte einzumischen. Was sehr viele auch tun, etwa wenn sie aufgrund unserer Argumente Briefe an Politiker oder Zeitungsredaktionen schreiben oder sich wirkungsvoll in die üblich gewordenen „Chats“ nach Rundfunksendungen einschalten. Die meisten unserer Nutzerinnen und Nutzer durchschauen sehr wohl, dass sie durch Wahlenthaltung eher zu noch größeren Wahl-„Erfolgen“ (gemessen an der Zahl der abgegebenen Stimmen) der von ihnen kritisierten Parteien beitragen würden.
Wir stimmen Jens Berger zu, dass – jedenfalls der größte Teil unserer Leserinnen und Leser – keineswegs „politikverdrossen“ ist. Wir verstehen uns allerdings nicht – wie er meint – als „systemverdrossen“. Wir treten im Gegenteil aus voller Überzeugung für die Demokratie unseres Grundgesetzes ein.
Was unsere Leserinnen und Leser und uns allerdings verdrießt, das ist die mangelnde Vielfalt der öffentlichen Debatte oder, um es hart zu sagen, die Gleichschaltung der öffentlichen Meinung durch die etablierten Parteien und die meinungsprägenden Medien.
Was die fehlende „Internetkompatibilität“ des deutschen Politiksystems anbetrifft, teile ich Jens Bergers Meinung weitgehend.
Ich möchte dem Aufsatz von Jens Berger noch ein paar eigene Thesen anfügen:
I. Möglichkeiten und Grenzen von Blogs:
- Blogs sind nach meiner Meinung – vielleicht neben Flugblatt oder Kleinverlagen oder dem Mittel der Demonstration – die einzig mir erkennbare Chance, mit denen sich einzelne ohne viel Kapital der „Vermachtung der Öffentlichkeit“ durch private oder kommerzielle Akteursgruppen, durch Staat, Parteien und Verbände und vor allem auch den wenigen monopolartigen Medienunternehmen entgegenstellen können und vom Mainstream abweichenden Meinungen eine Stimme und ein Forum bieten können.
Allerdings können Blogs derzeit allenfalls ein wenig Sand ins Getriebe der Maschinerie einer gesteuerten oder gelenkten Demokratie streuen.
- Politische Blogs haben es bisher in Deutschland nicht leicht.
Unter den ersten 100 der deutschen Blogcharts finden sich nur ganz wenige im engeren Sinne politische Blogs, (Blogcharts). Unter den ersten 20 findet man gerade mal BildBlog, Stefan Niggemeier oder die NachDenkSeiten.
Danach kommt Bergers Spiegelfechter und ziemlich weit abgeschlagen folgen noch Readers Edition, blog.tagesschau.de, weissgarnix und ein npd-blog, der sich mit den menschenfeindlichen Einstellungen dieser rechtsradikalen Partei auseinandersetzt.Einigermaßen erfolgreich sind Kampagnen-Blogs wie Campact oder Abgeordneten-Watch (da hilft der Sponsor Bonventure). Aber selbst wenn Campact es schafft, einige 10.000 Mails zu aktivieren, kann man noch kaum von einer Massenbewegung sprechen.
Auch die NachDenkSeiten haben schon mal Tell-a-Friend-Aktionen gemacht (d.h. die Weiterleitung von E-Mail Formularen). Das hat einige tausend Mails ausgelöst, aber von einer massenhaften Verbreitung sind wir noch weit entfernt.Einigermaßen vom Publikum angenommen sind auch Austauschportale für Internet-Freaks:
Etwa netzpolitik.org (netzpolitik.org ist ein deutsches Blog über Themen der digitalen Gesellschaft, unter anderem staatliche Überwachung, Open Source-Software, Telekommunikationsgesetze sowie Creative Commons und eine freie Wissensgesellschaft. Netzpolitik.org wurde 2002 von Markus Beckedahl gegründet, der es noch heute betreibt).
Auch Basic Tinking, Nerdcore und viele andere sind eher Austauschportale für Internet-Enthusiasten.Spreeblick bietet eher Buntes; Fefes Blog ist wohl eher ein Portal für Verschwörungstheoretiker.
BildBlog ist erfolgreich, weil David gegen den Goliath „Bild-Zeitung“ antritt, ähnlich auch beim GoogleWatchBlog.
Häufig aufgerufen werden natürlich die Internetangebote von NGOs, attac oder Greenpeace. Aber dahinter stecken schon wieder größere Organisationen, und vor allem sind diese Gruppen mitgliedschaftlich organisiert.
Beängstigend ist allerdings das Internet-Netzwerk der Neo-Nazi-Szene.
- Um ein größeres Publikum zu erreichen braucht man einen langen Atem, viel Ausdauer und viel Kraft und Fleiß – und vor allem braucht man Verlässlichkeit und Qualität.
Blogs haben in Deutschland nämlich noch zahlreiche Barrieren zu überwinden:
Deutschland ist noch ein Blog-Entwicklungsland (Spiegel). Nur jeder Fünfte Deutsche liest Blogs, in den USA und Japan jeder Dritte, in den Niederlanden 40 %.
Auf einer Tagung des Instituts für Rundökonomie beim Deutschlandfunk am 15. Januar 2009 habe ich von dem Mediensoziologen Heiner Meulemann gelernt, dass derzeit immer noch nur 72% der Haushalte eine PC-Ausstattung und davon wiederum nur 70% einen DSL-Anschluss haben (Bei Radio/TV sind es 98%). Fernsehen und Radio sind nach wie vor die elektronischen Leitmedien, mit einer Nutzungsdauer von 555 Minuten pro Tag (vor allem Radio aber auch Fernsehen als Hintergrundkulisse).
Den PC nutzen ihre Besitzer täglich 86 Minuten, unter den 14 – 19-Jährigen allerdings schon 147 Minuten. An den über 65-Jährigen geht das Internet praktisch vorbei.Die Hauptnutzer des Internets, also vor allem die Jungen haben ein distanziertes Verhältnis zum Politikbetrieb. 40 Prozent der jungen Leute sind mit dem derzeitigen Funktionieren der Demokratie unzufrieden (Monitor). Die jungen Leute nutzen das Internet überwiegend zur Unterhaltung, für Spiele oder vielfach zur Internetrecherche (z.B. Wikipedia).
Nur 30% der PC-nutzer nehmen an Diskussionsforen teil oder besuchen Blogs, hat Meulemann erhoben.Themen- oder einzelprojektbezogene Blogs sind für junge Leute spannender oder attraktiver. Viele Menschen engagieren sich etwa bei Wikipedia. Das deutschsprachige Lexikon ist immerhin das zweitgrößte der Welt. (Allerdings bestimmen dort bei politischen Sachverhalten auch diejenigen die Inhalte, die es sich leisten können, ständig kritische Einträge abzuwehren.)
- Der Vorteil des Internets – nämlich dass jeder seine Stimme öffentlich erheben kann, ist gleichzeitig wieder ein Nachteil zur Schaffung einer relevanten Gegenöffentlichkeit.
Laut Wikipedia gab es 2005 rd. 20 Millionen Blogs. Laut einer Allensbacher Computer- und Technikanalyse betreiben 8,4% der Internetnutzer ein eigenes Blog. Laut Spiegel gibt es schätzungsweise 500.000 deutschsprachige Blogs, darunter etwa 200.000 aktivere.
Will sagen: Aufgrund dieser Unübersichtlichkeit ist es ungeheuer schwierig für einen einzelnen Blog, an sein Publikum heranzukommen.Selbst als aktiver Blogger verfolge ich allenfalls ein dutzend Blogs regelmäßiger und ich bin immer wieder überrascht, wenn ich eher zufällig auf Blogs ziemlich guter Qualität stoße, die ich bisher nicht kannte.
- Ich kann das nicht beweisen, aber meine subjektive Empirie sagt mir, dass Blogs in den Suchmaschinen gegenüber den etablierten Medien, gegenüber den Webangeboten der Wirtschaft oder den großen Verbänden und gegenüber PR-Agenturen benachteiligt sind und es recht selten auf die ersten Seiten schaffen. Wenn man auf den Suchmaschinen ein politisches Suchwort eingibt, stößt man erst sehr spät und recht selten auf Blogs.
- Epidemische Ausbreitungen von Mitteilungen sind in Deutschland nicht sehr häufig und beziehen sich meist auf Gags oder irgendwelche Sonderlichkeiten (z.B. das gefälschte Tucholsky-Gedicht über die Finanzkrise) oder You-Tube-Videos.
So haben sich die NachDenkSeiten überwiegend über den Mundfunk durchgesetzt, aber wir erleben auch Sprünge nach oben bei den Zugriffen, etwa durch die erfolgreichen Bücher von Albrecht Müller oder wenn er oder ich z.B. im Rundfunk auftreten. D.h. ohne das Bekanntwerden über die Massenmedien ist es schwer, aus einem Nischendasein herauszutreten. - Zwar hat sich ein weltweites Netz von verschiedenen Netzwerken herausgebildet, wie etwa indymedia-Gruppen, Videokollektive oder Freie Radios, aber sie können allenfalls kleinere, selten große Protestkampagnen oder Mailkampagnen begleiten oder anstoßen.
(Jedenfalls schaffen sie bisher keine dauerhafte konsistente Gegenöffentlichkeit.) - web 2.0 oder twitters (StudiVz o.ä.) sind eher persönliche Austauschforen, als eine politische Bewegung. Sie sind allenfalls in dem Sinne politisch, dass sie unpolitisch sind.
- Was bei Vergleichen von Internetkampagnen zwischen den USA und Deutschland immer wieder unter den Tisch fällt, ist das Geld und das Personal.
Einer der Mitbegründer von Twitter sammelte zunächst 22 Millionen Dollar Risikokapital.
Der vielleicht größte amerikanische Blog „Huffington Post“ wurde von der Multimillionärin Huffington und einem früheren AOL Manager gegründet und hatte mehrere Millionen Startkapital.
„HuffPo“ hat 46 Angestellte, darunter 27 Reporter und Redakteure, eine Anzeigenabteilung, einen Marketingstab und einen Pressesprecher. Obama hatte für seine Kampagne 90 Internetexperten, die Vollzeit für ihn arbeiteten und die meisten waren noch hoch motiviert und nicht nur angeheuerte Consulting-Söldner.Dass Blogger in Deutschland nicht so erfolgreich sind wie in den USA, liegt auch an dem unterschiedlichen Mediensystem. In Deutschland gibt es nach wie vor erheblich bessere Angebote, und die meisten Menschen haben noch gar nicht bemerkt, dass Spiegel, STERN oder die Öffentlichrechtlichen auch nur überwiegend Mainstreamjournalismus betreiben. Ein so eklatantes Versagen wie der meisten amerikanischen Medien etwa bei der Berichterstattung zu Beginn des Irak-Krieges ist in Deutschland noch nicht aufgefallen.
- Die etablierten Medien und insbesondere die Massenmedien tragen eher zur Apathie als zur politischen Aktivierung großer Bevölkerungsteile bei. (Laut Monitor sind zwei Drittel damit zufrieden alle paar Jahre mal zu Wahl zu gehen.)
II. In Deutschland wäre eine Internetwahlkampagne wie die von Obama nicht oder noch nicht möglich.
(Siehe dazu auch Markus Beckedahl in netzpolitik)
- Wahlkämpfe sind in Deutschland nicht so emotionalisiert wie in den USA. (Und solche Jubel-Parteitage wie dort empfände ich sogar eher als Gräuel.)
Wo fände man in Deutschland soviel (teils naive) Leidenschaft wie bei den Amerikanern? (Allerdings muss man hinzufügen, dass Obamas Auftritt in Berlin offenbar auch bei vielen Deutschen die Emotionen hochschlagen ließ.)
Welche Partei könnte derzeit solche charismatischen Hoffnungsträger bieten und kommunizieren, wie Obama als ein solcher aufgebaut werden konnte?
Heribert Prantl schrieb in der SZ zum Jahresbeginn über die deutschen Verhältnisse ziemlich zutreffend: Alle Parteien leiden an Perspektivlosigkeit und Überzeugungsfreiheit. (Das trifft zumindest auf die CDU, SPD, FDP aber zunehmend auch auf die Grünen zu.) Obama konnte allerdings auch weniger durch sein Programm als durch die Wechselstimmung nach 8 Jahren Bush die Menschen mitreißen.In Deutschland ist der Wahlkampf (noch) nicht so stark auf die Spitzenkandidaten fixiert. Das Kanzleramt ist eben auch etwas anderes als das amerikanische Präsidentenamt. Es gibt auch nicht diese mittelbare Direktwahl von Kandidaten wie in den USA. Es ist einfacher, im Netz für einen Kandidaten als für ein Programm zu werben.
Wahlkampf ist bei uns dezentraler (auf Wahlkreise) angelegt. Trotz Listenwahl und obwohl die Parteien zur Wahl stehen, stehen vor Ort immer auch noch die Kandidaten, die gegeneinander antreten.
my.barackobama.com konnte auf die Open-Source-Strukturen und auf die Erfahrungen von Howard Dean aufbauen (5 Jahre zuvor). Solche Strukturen gibt es bei uns nicht.
Was beim Vergleich von Internetkampagnen zwischen den USA und Deutschland immer wieder unter den Tisch fällt, das ist das Geld und das Personal (siehe oben).
Zum Glück lässt es der Datenschutz in Deutschland auch nicht zu, dass Mails mit massenhaften Adressdaten versandt werden dürfen.
Dennoch, die Parteien werden im Frühjahr alle Blogs, Twitter und Podcasts aus dem Werkzeugkoffer holen.
Aber:
- Die etablierten Parteien haben letztlich kaum ein Interesse, die Leitmedien zu umgehen. (Sie meinen, damit ganz gut leben zu können – auch die SPD.)
Die Netzauftritte der Parteien selbst laden weder die Mitglieder noch das Internetvolk zum Engagement und zum Mitmachen ein.
SPD will zwar “Internetpartei Nummer 1” sein. SPD-Wahlkampfmanager Kajo Wasserhövel erklärte, in den ersten 24 Stunden nach dem Relaunch habe die SPD mehr als eine Million Besucher auf ihrer neuen Internet-Plattform gezählt. Doch es bleibt bei einer Plattform, auf der sich im Wesentlichen der Absender an die Adressaten richtet. Der Werbungscharakter steht weit vor dem Dialogprinzip.Angesichts der deutschen Parteistrukturen engagieren sich nicht sehr viele junge Menschen in Parteien und schon gar nicht die Internet-Freaks. Parteiengagement gilt als ziemlich „un-cool“. Auf parteibetriebenen Websites wird den Nutzerinnen und Nutzern nicht wirklich die Chance gegeben, sich einzumischen oder gar etwas zu verändern.
Gelingen könnte so etwas mit Wählerinitiativen oder Parallelorganisationen zu den Parteien, wie etwa im Willy-Wahlkampf 1972. Aber es gibt halt derzeit auch keinen Brandt und keinen Strauß.
- Parteien setzen nach wie vor eher auf „Glotze und Bild“. Das Internet ist in der Politik noch nicht angekommen.
Außerdem: Können etwa CDU und SPD bei den negativen Umfragewerten, die sie in zentralen Feldern der Politik erfahren (z.B. Rente mit 67, Kriegseinsätze, Hartz usw.) überhaupt ein Interesse an einem offenen Meinungsbildungsprozess haben?
Fazit:
Der wortmächtige Paul Sethe, Ressortchef der Springer-Zeitung „Die Welt“, hat schon 1965 in einem Leserbrief an den SPIEGEL so prägnant geschrieben:
Im Grundgesetz stehen wunderschöne Bestimmungen über die Freiheit der Presse. Wie so häufig, ist die Verfassungswirklichkeit ganz anders als die geschriebene Verfassung. Pressefreiheit ist die Freiheit von zweihundert reichen Leuten, ihre Meinung zu verbreiten. Journalisten, die diese Meinung teilen, finden sie immer. Ich kenne in der Bundesrepublik keinen Kollegen, der sich oder seine Meinung verkauft hätte. Aber wer nun anders denkt, hat der nicht auch das Recht, seine Meinung auszudrücken? Die Verfassung gibt ihm das Recht, die ökonomische Wirklichkeit zerstört es. Frei ist, wer reich ist.
Die zweihundert reichen Leute, die sich eine Zeitung oder einen Sender leisten können, sind inzwischen vielleicht auf ein Dutzend geschrumpft.
Dennoch: Das Internet bietet jedenfalls das technologische Potential zur Wahrnehmung der Meinungs- und Pressefreiheit, ohne reich zu sein. Bis Blogs als Faktor und Medium der Meinungsbildung die bestehende Meinungsmacht wieder von unten und demokratisch aufbrechen können, wird es noch längere Zeit dauern. Aber immerhin; Das Medium dazu wäre da und Ansätze dazu gibt es auch.
Dazu ein aktuelles Beispiel:
Bahn gibt Kampf gegen Weblog auf
Mit einer Abmahnung gegen das Weblog Netzpolitik wollte die Bahn die Verbreitung eines internen Memos zum Datenskandal unterbinden. Doch der Blogger wehrte sich erfolgreich.
Der Vorgang ist ein Zeichen dafür, dass sich die medialen Kräfteverhältnisse durch das Netz zunehmend verändern. Noch vor ein paar Jahren hätte ein Vorgang wie die Abmahnung vermutlich erst nach mehreren Tagen eine derartige mediale Öffentlichkeit bekommen – wenn überhaupt. Und es waren nicht zuletzt Beckedahls Nachrichten auf dem Micro-Blogging-Dienst Twitter, die den Vorgang so rasant zum öffentlichen Thema machten. „Die Vernetzung von sozialen Medien ist besser als ihr Ruf“, sagt Beckedahl. „Die Aktion hat gezeigt, dass Blogs ernster zu nehmen sind.”
Quelle: FOCUS