Furcht vor einem Politikwechsel

Ein Artikel von:

Die Medienkampagne in Hessen und der Fall Ypsilanti(s)
Erste vorläufige Deutungen von Jutta Roitsch.

„Profil macht angreifbar.“
Rita Süssmuth, Frankfurt , 2008

Prolog:
Märchen, auch wenn sie mit Tränen enden, beginnen: Es war einmal. So beginnt auch das Märchen einer Frau, die auszog, in Hessen eine andere politische Kultur und einen tiefgreifenden ökonomischen wie ökologischen Umdenkprozess anzustoßen: es war einmal im Sommer 2005 auf einer Tagung der sozialdemokratischen Linken im Willy-Brandt-Haus in Berlin. Wie stets bei solchen Veranstaltungen spulten vorne am Podium die Redner ihre Statements ab, die Bundestagsabgeordneten kamen und gingen, die Journalisten tummelten sich an der Kaffeebar im dunkleren, hinteren Teil des Raums. An einem Stehtisch entdeckte ich meinen geschätzten Berliner Kollegen im Gespräch mit einer kleinen, zierlichen Frau mit wachem Blick und einem charmanten Lachen. Sie stockte, als ich mich an den Tisch gesellte, doch mein Kollege winkte in seiner trockenen Art ab: „Der kannst du vertrauen“. In dem Gespräch versuchte mein Kollege Andrea Ypsilanti, damals bereits SPD-Vorsitzende des hessischen Landesverbandes, davon zu überzeugen, dass sie zu den nächsten Landtagswahlen als Spitzenkandidatin antreten müsse. Nur mit profilierten politischen Positionen, klaren Wahlaussagen für eine rot-grüne Koalition und attraktiven Personen sei ein ausgefuchster Politiker wie Roland Koch zu schlagen. Sie könne das, Jürgen Walter, der damals schon in den Medien hochgehandelte „Hoffnungsträger“ der hessischen SPD, nicht. An dem Nachmittag räumte mein Kollege die lebhaften Zweifel der Andrea Ypsilanti nicht aus. Noch nicht, aber wir wissen heute, wie die Geschichte weiter- und im Januar 2009 ausgegangen ist.

Hier einige Erinnerungsschritte.

  1. Am 2. Dezember 2006, setzte sich Andrea Ypsilanti im 2. Wahlgang knapp mit 175 gegen 165 Stimmen gegen den Vorsitzenden der SPD-Landtagsfraktion Jürgen Walter als Spitzenkandidatin durch. Mit hohem Einsatz hatten beide Kandidaten in der Partei für sich geworben. Der „bundesweit unbekannten, linken, ehemaligen Stewardess“ hatten die Medien wenig Chancen eingeräumt.
  2. Der Wahlkampf 2007 entwickelte eine eigene Dynamik, Andrea Ypsilanti mobilisierte die eigene Mitgliedschaft, löste Zuneigung und eine Mitmachbegeisterung vor allem bei jüngeren Sozialdemokraten aus, die es so seit Jahrzehnten in Hessen nicht mehr gegeben hatte. Das rote Y und der Slogan „Hessens Weg in die soziale Moderne“ zogen, sehr zur Überraschung der Wiesbadener Medienvertreter, die alle auf Jürgen Walter gesetzt hatten. Ab November 2007 verschoben sich die Akzente in der Berichterstattung leicht: mit Erstaunen registrierten die Journalisten, dass die Themen zum Politikwechsel und zur „sozialen Moderne“ ankamen, obwohl diese in ihren Zeitungs- oder Rundfunk-Redaktionen überwiegend scharf abgelehnt wurden. Das galt insbesondere für das „Haus der Bildung“, den „Mindestlohn“, die „Abschaffung der Studiengebühren“ und vor allem die „Energiewende“, für die im Ypsilanti-Team der Baden-Württembergische Bundestagsabgeordnete Hermann Scheer stand. Der Gastbeitrag des ehemaligen SPD-Superministers Wolfgang Clement in der „Welt am Sonntag“, lanciert eine Woche vor den Landtagswahlen, war der Versuch eines einflussreichen, konservativen Mediums, mit einem „Zeugen aus den eigenen Reihen“ die SPD und ihre möglichen Wähler noch einmal gründlich zu verunsichern und die „soziale Moderne“ mit Angst und Schrecken, dem Verlust von Industriestandorten und Arbeitsplätzen zu besetzen. Die heftige Reaktion in der hessischen SPD und darüber hinaus berührte nicht nur den parteischädigenden Regelverstoß, die eigene Partei und ihre Spitzenkandidatin für nicht wählbar zu erklären, sie enthält auch ein Element der Unsicherheit über diese „soziale Moderne“, deren Konsequenzen über Wahlkampfslogans hinaus weder in der Partei noch in der Öffentlichkeit vermittelt worden sind.
  3. Als zugkräftigeres Reizthema, mit dem sich Ängste gegen die SPD und ihre Spitzenkandidatin schüren ließen, erwies sich für die Medien die Koalitionsaussage, die Andrea Ypsilanti noch fünf Tage vor der Wahl wiederholt hatte: „Es gibt keine irgendwie geartete Zusammenarbeit mit den Linken“. Die SPD setzte mit dieser Festlegung auf die Taktik, mit der Oskar Lafontaine einst im Saarland die Grünen unter der Fünfprozenthürde gehalten hatte: wählt uns, wir sind fortschrittlich und links genug, da brauchen wir die Linke nicht. Die Taktik ist nicht aufgegangen, weil die Linke in Hessen –anders als die Grünen im Saarland- bereits in der einstigen traditionellen SPD-Kernmitglied- und Wählerschaft, den gewerkschaftlich organisierten Arbeitnehmern, zu stark verankert war. Ob bei der wahltaktischen Koalitionsaussage mitbedacht worden war, dass es unter Sozialdemokraten der älteren Generation nach wie vor einen tiefsitzenden Antikommunismus und Vorbehalte gegen alles Grün-Linke außerhalb der SPD gibt, darf bezweifelt werden.
  4. Der euphorischen Reaktion der SPD am Wahlabend 2008 fehlte die Basis. Die eigentliche Sensation dieser Wahl waren die hohen Verluste der CDU, die Einbrüche bei den Grünen in den Städten und der Einzug der Linkspartei in den Landtag. Dennoch lag der Auftrag, über Koalitionen zu verhandeln, zunächst bei der CDU. Bis heute ist nicht entschlüsselbar, warum sich Ypsilanti und die SPD-Spitzenfunktionäre selbst unter Handlungsdruck sahen und sich nicht die notwendige Zeit genommen haben, um die Ergebnisse zu sichten und mit Experten zu bewerten. Zu einem hilfreichen Krisen- und Beratungsmanagement sah sich die Bundes-SPD nicht in der Lage. Sie streute stattdessen über die Medien den Vorwurf der Beratungsresistenz der Hessen im Allgemeinen und Andrea Ypsilantis im besonderen.
  5. In diese Phase fiel die Entscheidung der Spitzenkandidatin, für eine mögliche Regierungsübernahme die Koalitionsaussage zu korrigieren, „Wortbruch“ zu begehen. Sie traf diese folgenreiche und schwerwiegende Entscheidung ohne Rückkoppelung mit der Parteibasis und ohne Rückendeckung durch einen Parteitag. Sie lieferte damit den Medien den Stoff, von dem sie heute leben: die Personalisierung einer politischen Frage. Ypsilanti löste eine Medienkampagne ohne Beispiel aus, an der sich Journalisten und Journalistinnen, Kabarettisten, aber neben Clement immer wieder auch Sozialdemokraten wie Klaus von Dohnanyi oder Klaus Bölling (die SPD in Hessen sei „irgendwie von Andrea Ypsilanti verhext“) beteiligten. Vom gescheiterten ersten Anlauf im März bis zum gescheiterten 2. Anlauf zur Regierungsbildung im November war allerdings die Reaktion in der Partei entgegengesetzt: Je maßloser und vernichtender die Urteile ausfielen, um so mehr schlossen sich die Parteireihen hinter Andrea Ypsilanti, so groß die persönlichen Zweifel an einer rot-grünen Regierung unter Tolerierung der Linken gewesen sein mögen.
  6. Auch nach dem Verzicht auf eine erneute Kandidatur unter Beibehaltung des SPD-Landesvorsitzes und in dem kurzen Wahlkampf mit dem neuen Spitzenkandidaten Thorsten Schäfer-Gümbel behielt Ypsilanti die Zuneigung in der großen Mehrheit der Partei trotz der andauernden Attacken durch die Medien, die Schäfer-Gümbel zum Schattenmann der Ypsilanti degradierten. Eine Karikatur in der Süddeutschen Zeitung zeigte Ypsilanti als Hexenmeisterin, die an ihren langen Fingern die Marionette Schäfer–Gümbel zappeln lässt. Doch eine „Jetzt erst Recht-Kampagne“ kam nicht in Schwung, Sozialdemokraten und/oder Sympathisanten blieben der Wahl 2009 fern. Über 200 000 Stimmen verlor die SPD in einem Jahr an die „Partei“ der Nichtwähler: mit rund 40 Prozent die größte „Partei“ im übrigen.
  7. Die Neuwahl am 18. Januar 2009 beendete auf dramatische Weise die politische Karriere Andrea Ypsilantis. In ihrem Wahlkreis in Frankfurt, den sie ein Jahr zuvor erstmals mit 41 Prozent der Stimmen direkt gewonnen hatte, stürzte sie auf 20 Prozent ab. Nicht nur SPD-Wähler verweigerten ihr die Erst-Stimme: die Wählerinnen und Wähler der Grünen wie der Linken kreuzten bei der Erststimme ihre jeweiligen Kandidaten an und versagten Ypsilanti so eine, wenn auch nur demonstrative Unterstützung ihres Kurses. Mit diesem Detail lässt sich belegen, dass das linke sozialdemokratische Projekt einer „sozialen Moderne“ in Zusammenarbeit mit den Grünen und der Linken, für das Andrea Ypsilanti stand, gescheitert ist.

Nach den sieben Erinnerungsschritten möchte ich nun einige Erkenntnisschritte wagen.

  1. Über „Frau und Macht“, so berichtet Wikipedia, schrieb die Soziologin Andrea Ypsilanti ihre Diplomarbeit. Theoretisch dürfte sie gewusst haben, was in einer Mediengesellschaft bevorsteht, die keinerlei Grenzen und Hemmschwellen mehr kennt. In der Praxis ist der Boulevard-Journalismus, der sich alles herausnimmt ( etwa der „Stern“: „Sind Sie machtgeil, Frau Ypsilanti“?) oder Zumutungen verlangt (z.B. das Posieren in einem roten Abendkleid, das die „Bunte“ mitgebracht hatte), schwer auszuhalten. Doch den Fall Ypsilanti auf die Frauenfrage zu reduzieren, führt in die Irre. Denn eine andere Politikerin in Deutschland, die mindestens so ehrgeizig und stur-zielbewusst ist, erfährt eine völlig andere Behandlung durch die Medien. Die Christdemokratin Ursula von der Leyen, Tochter des ehemaligen niedersächsischen Ministerpräsidenten Ernst Albrecht und gerade einmal ein Jahr jünger als Andrea Ypsilanti, ist der gehätschelte und umworbene Star der Berliner Bundespressekonferenz und der gesamten Regenbogenpresse. Kritik an ihrer oftmals rein populistischen Politik fällt praktisch aus. Ihr „Politikwechsel“ zur Vereinbarkeit von Familie und Beruf zum Beispiel, den sie nach der Föderalismusreform im gesamten Bildungsbereich nur anstoßen, aber nicht umsetzen und gestalten kann, wird auf Risiken und Nebenwirkungen nirgends gründlich geprüft. Es gibt demnach akzeptierte und nicht akzeptierte Politikwechsel.
  2. Der „Wortbruch“ der Andrea Ypsilanti und ihr Versuch, sich im Landtag mit Hilfe der Linken zur Ministerpräsidentin wählen zu lassen, ist – 18 Jahre nach der deutschen Vereinigung – mit allen politischen und medialen Möglichkeiten für den Westen Deutschlands, d.h. die alte Bundesrepublik zum „Tabubruch“ überhöht worden. Koalitionsaussagen in Wahlkämpfen sind immer gemacht und nach dem Entscheid des Wählers nicht eingehalten worden. Der angebliche Tabubruch bezog sich auf Kommunisten in der „Linken“, die früher einmal bei der DKP oder ähnlichen orthodox-marxistischen Gruppierungen – oder auch in der SPD- waren. Kommunisten aller Schattierungen und Varianten von den Trotzkisten bis zu den Maoisten gab es aber zuhauf bei den „Grünen“ in den frühen achtziger Jahren, von denen sich Holger Börner zum ersten Ministerpräsidenten einer rot-grünen Koalition in Westdeutschland wählen ließ. Von einem „Tabubruch“ war damals nicht zu lesen. Aber der Nordhesse Holger Börner gehörte zur Parteirechten, Andrea Ypsilanti nicht. Den vor allem bei älteren Sozialdemokraten tief sitzenden Ängsten und Erfahrungen mit kommunistischen Parteien und Gruppierungen konnte sie nicht begegnen. Ein Machtpolitiker wie Roland Koch kannte diese Schwachstelle der SPD und wusste sie zu nutzen. Am 18. Dezember, als für ihn alles in seinem Sinne gelaufen war, sagte er in einem Interview: „Die Frage, ob die SPD geschlossen ist oder nicht, war letztlich nicht durch mich zu beeinflussen. Ich habe aber in Kauf genommen, dass sich der Gärungsprozess innerhalb der SPD beschleunigt hat. An dieser Beschleunigung hatte ich ein strategisches Interesse, auch wenn sie vielen in meiner Partei Sorgen gemacht hat.“ (Süddeutsche Zeitung vom 18. Dezember 2008, S.5) Das strategische Interesse des Roland Koch war, dem „Wortbruch“ eine solche Dimension in der politischen Auseinandersetzung zu geben, dass der von Andrea Ypsilanti angestrebte Politikwechsel dahinter verschwindet. Diese Rechnung ist aufgegangen, wenn auch nicht zu Gunsten der hessischen CDU, für die sich weniger Wählerinnen und Wähler entschieden haben als ein Jahr zuvor. Der opportunistische Slogan der FDP: „Unser Wort gilt“ bescherte ihr ein historisches Rekordergebnis und weckte Erwartungen als CDU-Korrektiv, die die profillosen hessischen Liberalen unter dem Koch-Freund Jörg-Uwe Hahn nicht einzulösen vermögen: Ihr einstiger sozialliberaler Flügel unter Karl-Hermann Flach, Wolfgang Mischnick und Hans-Herbert Karry ist seit Jahrzehnten spurlos verschwunden und politische Köpfe fehlen. Aber Kochs „strategisches Interesse“ an der Neuauflage des schwarz-gelben Bündnisses richtet sich ohnehin auf die Bundestagswahl. Der „Wortbruch“ lässt sich in den alten Bundesländern weiterhin instrumentalisieren: für „bürgerliche Verhältnisse“ sowie eine klare Koalitionsaussage der CDU zugunsten der FDP und zum Weitertreiben des „Gärungsprozesses“ in der SPD, die sich ohne klaren Kurs und Inhalte zwischen den Grünen und der Linken selbst marginalisiert. Mit Hilfe der Medien und der Meinungsforscher dürfte auch diese Rechnung des Roland Koch aufgehen.
  3. Die Furcht vor einem tatsächlichen, „linkeren“ Politikwechsel in der Bundesrepublik ist groß, die Medien und die mindestens zur oberen Mittelschicht gehörenden Journalisten transportieren sie. Die Einlösung von sozialer Gerechtigkeit auf dem Gebiet der Bildung, der Ausbildung , der „guten Arbeit“, des erfüllten Lebens, des schonenden Umgangs mit der Natur, der Umwelt und der nächsten Generationen kostet nicht nur Geld sondern bisherige Privilegien, Abstriche am „Traum immerwährender Prosperität“ (Burkart Lutz). Mehr kulturelle und demokratische Teilhabe für alle, die hier leben und aufwachsen, kostet Zuwendung zu den Einwanderern, die wir Migranten nennen, und Anerkennung, dass sie unserer Kultur etwas Neues hinzufügen und sie damit verändern. Mehr Arbeit für alle, von der Männer, Frauen und Familien auch leben können, bedeutet nicht nur Umverteilung, sondern auch eine Neubewertung von Arbeit, zum Beispiel der Erzieherinnen oder der Altenpfleger. „Hessen vorn“, der alte sozialdemokratische Slogan aus der Ära Zinn hätte einen neuen, modernen Klang bekommen können.
  4. Der erste Versuch eines tiefgreifenden Politikwechsels in Hessen fand vor vierzig Jahren statt: mit Politikern wie Hildegard Hamm-Brücher (FDP) und Ludwig von Friedeburg. Er zielte auf die Chancengleichheit in Schule und Hochschule und war verbunden mit der integrierten Gesamtschule und neuen Unterrichtsinhalten, niedergelegt in Rahmenrichtlinien. Gegen den ersten Politikwechsel von 1969 bis 1974 liefen die Medien, angeführt von der FAZ und dem dpa-Redakteur Konrad Adam, mit einem beispiellosen Kulturkampf Sturm. Auch damals lieferten die Wiesbadener Korrespondenten weitgehend gleichförmige Texte und Kommentare an ihre Zentralen und Redaktionen: Friedeburg, der Ideologe der Einheitsschule, muss weg. Gegen den Meinungsstrom zu schwimmen, war in dem engen Wiesbadener Politikgeschäft zwischen Landtag und Stammkneipe kaum auszuhalten. Mein damaliger Wiesbadener Kollege Bernd Jasper war keine Ausnahme, aber er respektierte mein massives Gegenhalten, das von der Chefredaktion getragen und gestützt wurde. Verloren ging der erste Versuch zu einer tiefgreifenden Demokratisierung des Bildungswesens in Hessen dennoch durch eine Forderung der FDP: In den sozialliberalen Koalitionsverhandlungen 1974 in Bad Orb opferte die SPD Ludwig von Friedeburg und das bildungspolitische Ziel einer demokratischen Schule für alle dem Machterhalt. Aber es blieben Spuren übrig, denn in und um die SPD herum hatten sich Initiativen wie der Elternbund oder die Gemeinnützige Gesellschaft Gesamtschule oder die Juso-Hochschulgruppen gebildet, die ein Stück weit die Ideen weiter getragen haben.
  5. Der zweite Versuch zielte darauf, die Protest-, Antiatom –, Frauen- und Friedensbewegung, kurz die neuen sozialen Bewegungen, in staatliche Politik einzubinden. Hessen wurde in den achtziger Jahren des vorigen Jahrhunderts zum Vorreiter der rot-grünen Koalitionen: gegen medialen Gegenwind, aber mit einem starken Unterstützer-Milieu vor allem in Frankfurt und in den Universitätsstädten. Die politischen Anstöße aus den sozialen Bewegungen nahm die hessische SPD unter Holger Börner aber nur halbherzig auf, so dass sich letztlich die Öffnung gegenüber den Grünen für die Sozialdemokratie und ihre Programmatik selbst weniger auszahlte.
  6. Der dritte Versuch zu einem tiefgreifenden Politikwechsel in Hessen zielte auf den Bereich der Ökologie und der Ökonomie, sollte die Energiewende ebenso einbeziehen wie ein Konzept der „guten Arbeit“, für das der hessische DGB wirbt. Die Köpfe dazu waren in Ypsilantis Wahlkampfteam Hermann Scheer, der „Solar-Papst“ und Träger des alternativen Nobelpreises, aber auch Rainer Domisch, der die Schulreformen in Finnland begleitet und umgesetzt hat. Hinzu kam die offene Unterstützung durch den hessischen DGB-Vorsitzenden und den IG Metall-Bezirksleiter. Mit dieser Konstellation wurde im hessischen Wahlkampf schnell klar, dass mit „sozialer Moderne“ etwas anderes gemeint war als eine Verfeinerung von Hartz IV oder der Agenda 2010, d.h. etwas anderes als die Modernisierungspolitik eines Gerhard Schröder und Wolfgang Clement. Was aber genau gemeint war oder sein könnte, blieb in Kurzformeln nebulös, auslegbar durch die Linke, die erklärter Maßen die Interessen älterer Gewerkschafter und Rentner bedient. Eben dies löst bei der heutigen Generation der Journalisten Abwehr, aber auch bei den Angehörigen in der 30 bis 50 jährigen erwerbstätigen Mittelschicht Ängste aus. Eine gewerkschaftsnahe Politik , gar der inzwischen seltene demonstrative Schulterschluss zwischen SPD und Gewerkschaften stoßen in den so genannten Leitmedien von ARD und ZDF bis zu Spiegel und SZ auf nahezu einhellige Ablehnung: die durchgehende Akademisierung des Journalistenberufs und die Selbstzuordnung zu den höheren gesellschaftlichen Schichten hat zu dieser Entwicklung beigetragen und die mediale Einstufung der Gewerkschaften als rückwärtsgewandte Traditionalisten, die rücksichtslos ihre Mitgliederinteressen verfechten, ebenso.
  7. Auch eine 95 prozentige Unterstützung auf Parteitagen kann nicht darüber hinweg täuschen, dass die hessische SPD tief gespalten ist: 172 zu 172 ging schließlich der erste Wahlgang zwischen Ypsilanti und Jürgen Walter aus. Gespalten war sie in den vier Jahrzehnten, in denen ich diese Partei beobachtet und journalistisch begleitet habe, immer. Nicht von ungefähr gründeten sich die beiden Kreise, die die Spannweite in der SPD zwischen rechts und links markieren, in Hessen: Der „Seeheimer Kreis“ um Günter Metzger und der „Frankfurter Kreis“ um Karsten Voigt. Nur: als die SPD noch Staatspartei war, wie einst in Bayern die CSU, funktionierte die Balance zwischen rechts und links, zwischen Nord und Süd über Posten und Machtausgleich: Hans Eichels politische Grundsatzreferentin in der Wiesbadener Staatskanzlei hieß schließlich Andrea Ypsilanti. Das ist lange vorbei. Die „Seeheimer“ sind geblieben, die „Frankfurter“ haben sich verflüchtigt. Was heute fehlt, ist eine intellektuelle Fundierung und eine breite gesellschaftspolitische Verankerung dessen, was im Wahlkampf als „soziale Moderne“ bezeichnet worden ist. Das intellektuelle Format der gegenwärtigen politischen Klasse der SPD (nicht nur in Hessen) ist eher dürftig. Über Politik als Beruf müsste dringend neu nachgedacht werden: Eloquenz, Trickreichtum und Chuzpe reichen als Qualifikation nicht, sondern stärken eher die öffentlichen Vorbehalte. Zwar zeichnet es die Demokratie als Gesellschaftsform aus, auch mit menschlichem Mittelmaß fertig werden zu können. Was aber fehlt, ist die öffentliche intellektuelle Einmischung von interessierten Wissenschaftlern /innen, von Gruppen der viel zitierten Zivilgesellschaft, von engagierten Bürgern: es fehlt der verzweigte und vielfältige öffentliche Diskurs über die Zukunft des Gemeinwesens. Ohne eine solche Unterstützung kann ein Politikwechsel, der anstrengend und voller Widerstände ist, nicht funktionieren. Und diese Unterstützung hat im vergangenen Jahr gefehlt, von wenigen Ausnahmen wie Hans Mommsens Kommentar im Deutschlandfunk zu den Kommunisten oder Franziska Augsteins Analyse im SZ-Feuilleton zur Gewissensfrage der vier SPD-Abgeordneten abgesehen.
  8. Zum Schluss ein Blick über den hessischen Zaun: Die Frage, wie die soziale Moderne im 21. Jahrhundert aussehen könnte, hat noch keine europäische Sozialdemokratie beantworten können. Weder in Frankreich, noch in England, Holland oder gar Italien haben die Sozialisten oder Sozialdemokraten Visionen und Programme entwickelt, die die Wählerinnen und Wähler überzeugen. Im Gegenteil: Die innerparteilichen Auseinandersetzungen über Personen und Programme laufen auf „hessischem Niveau“, wie ein Blick in den französischen, italienischen oder amerikanischen Blätterwald bestätigt. Hillary Clinton ist von konservativen Zeitungen schlicht als „the bitch“, die Hexe, tituliert worden. Und Martine Aubry wird von Pariser Journalisten ebenso genüsslich, verächtlich und hämisch als Traditionalistin seziert wie die hessischen Sozialdemokraten von den Wiesbadener Korrespondenten der taz oder FAZ. Politische Aufklärung, Nachdenklichkeit und Reflexion verschwindet Schritt für Schritt aus den Medien und weicht einer Boulevardisierung mit bunten Bildern und locker-flockigen Texten. Eher düstere Aussichten für die „soziale Moderne“. Soll es wirklich dabei bleiben?

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