Europa – gemeinsam einsam
Ein wenig bürokratisch, aber ansonsten doch sehr erfolgreich – so lautet das Zwischenfazit der allermeisten Bewertungen, wenn es um das „gemeinsame Europa“ geht. Abseits der Sonntagsreden ist von der Gemeinsamkeit der Länder der Europäischen Union jedoch wenig zu spüren. Die neoliberale Ära hat ihre Spuren hinterlassen. Der komplette Süden ist mittlerweile soziökonomisch vom europäischen Traum abgehängt und die östlichen Mitgliedsländer verlieren immer mehr den Anschluss. Ein kleiner Ausflug in die Datenbank von Eurostat zeigt, wie geteilt Europa mittlerweile ist. Ohne einen massiven Kurswechsel droht Europa auseinanderzubrechen. Von Jens Berger
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Glaubt man den Statistikern von Eurostat, ist Europa vor allem im Norden ein Erfolgsmodell. Gefragt nach ihrer „allgemeinen Zufriedenheit“ liegen die Dänen, die Finnen und die Schweden mit einer glatten 8,0 auf einer Skala von 0 bis 10 ganz weit vorne. Am unteren Ende der Skala befinden sich die Bulgaren mit einer sehr schlechten 4,8. Nur unwesentlich zufriedener mit der Allgemeinsituation sind die Griechen, die Portugiesen, die Kroaten und die Bewohner der baltischen Republiken. Verantwortlich für die hohe Zufriedenheit im Norden und die Unzufriedenheit im Süden und Osten ist vor allem die finanzielle Situation. Gefragt nach diesem Teilbereich geht die Zufriedenheit der Bulgaren sogar auf 3,7 zurück und auch die Griechen (4,3), die Portugiesen (4,5) und die Kroaten (4,6) weisen mit Werten unter 5,0 extrem schlechte Ergebnisse auf. Feierlaune über das gemeinsame Europa kommt in diesen Ländern sicher nicht auf.
Das Nord-Süd-Ost-Gefälle wird immer größer
Ein Däne kommt im Durchschnitt [1] auf ein Jahresnettoeinkommen von 28.364 Euro, ein Schwede immer noch auf 26.640 Euro und ein Finne auf 23.763 Euro. Deutschland liegt hier mit 20.668 Euro übrigens im oberen Mittelfeld. Die Nettoeinkünfte der Polen, Kroaten und Balten liegen bei rund einem Viertel der Deutschen. Ein Bulgare kommt im Schnitt auf 3.332 Euro pro Jahr und ein Rumäne sogar nur auf 2.315 Euro, also weniger als ein Zehntel des dänischen Durchschnittseinkommens.
Unterschiede – wenn auch nicht so dramatische – gibt es freilich auch in den Nationalstaaten selbst. Ein Hamburger oder ein Münchner bekommt im Mittel auch ein deutlich höheres Einkommen als Bewohner ländlicher Gegenden in Brandenburg oder Sachsen-Anhalt. Ein „gemeinsames Europa“ hat jedoch das Ziel, dass diese Lücken im Laufe der Zeit geschlossen werden. Um dies zu realisieren, müssen jedoch die Löhne in den armen Regionen deutlich schneller steigen als die Löhne in den wohlhabenden Regionen. Ansonsten öffnet sich die Schere noch weiter. Und genau dies geschieht in Europa. Während das Durchschnittseinkommen [2] der Schweden beispielsweise zwischen 2010 und 2015 um 35% gestiegen ist, wuchsen die Einkommen in Bulgarien und Rumänien mit 10% und 14% weitaus langsamer.
Besonders problematisch ist, dass in einigen Ländern die Durchschnittseinkommen nicht nur relativ – also inflationsbereinigt – sondern sogar absolut sinken. So mussten die Kroaten 2015 im Schnitt mit 6% weniger Geld auskommen als fünf Jahre zuvor. In Italien betrug der Verlust 1%, in Portugal 3%, in Spanien 9%, in Zypern 15% und in Griechenland sogar sagenhafte 37%. Heute liegt das griechische Durchschnittseinkommen auf einem Niveau mit dem tschechischen Wert. Vor fünf Jahren verdiente ein Grieche im Schnitt noch das Doppelte wie ein Tscheche.
Die Armut verfestigt sich an der Peripherie
In Tschechien und vielen schwedischen, dänischen und finnischen Regionen sind laut Eurostat weniger als 15% der Menschen akut von Armut oder sozialem Abstieg bedroht. In Griechenland sind es 35,7%, in Rumänien 37,4 % und in Bulgarien sogar 41,3%. In der gesamten süd- und osteuropäischen Peripherie liegt die Armutsquote zwischen 23,4% (Polen) und 30,9% (Lettland). Einige Regionen, wie beispielsweise Sizilien mit einer Armutsquote von 55,4%, sind mittlerweile Europas Armenhäuser.
In ganz Schweden mit seinen rund 10 Millionen Einwohnern gibt es rund 68.000 Menschen, die so arm sind, dass sie ihre lebensnotwendigen Ausgaben nicht bestreiten können. Die Statistiker sprechen hier von einer „erheblichen materiellen Deprivation“. In der südbulgarischen Region Plovdiv sind es mit rund 620.000 fast zehnmal soviel. Die Planungsregion „Yuzhen Tsentralen“ ist jedoch mit ihren 1,5 Millionen Einwohnern auch deutlich kleiner als Schweden. Während mehr als jeder dritte Bulgare seine lebensnotwendigen Ausgaben nicht bestreiten kann, ist es in Schweden nur jeder Fünfzehnte. Auch in Griechenland, Rumänien und einigen Regionen Italiens liegt die Quote übrigens zwischen 20 und 30%.
Der „Club Med“ rutscht ab
Besonders problematisch ist, dass die Entwicklung in die falsche Richtung geht. Und hiervon sind nicht nur die neueren EU-Mitglieder betroffen. So stieg die Armutsgefährdungsquote in der gesamten EU von 2008 bis 2015 um 12%. In einigen alten Mitgliedsländern war die Steigerung jedoch wesentlich höher. So wuchs die Quote in Irland von 15,5% auf 19,9%, in Italien von 18,9% auf 25,6%, in Spanien von 19,8% auf 29,9% und in Griechenland von 20,1% auf 48,0%. Dies „relativiert“ freilich auch die ohnehin schon schlechten Werte beim Durchschnittseinkommen. Jeder zweite griechische Haushalt hat den Zahlen von Eurostat zufolge somit sogar weniger als 60% des tschechischen Durchschnittseinkommens zur Verfügung.
Besonders deutlich wird die fatale Entwicklung Europas, wenn man sich einmal die Arbeitslosenzahlen der alten EU-Mitglieder aus dem Mittelmeerraum anschaut. In den Sonntagsreden ist man sehr stolz darauf, dass die Arbeitslosenquoten in Griechenland, Frankreich, Spanien, Italien und Portugal im letzten Jahr rückläufig waren. Das ist jedoch bestenfalls die halbe Wahrheit. Lag die Gesamtzahl der offiziell registrierten Arbeitslosen in diesen fünf Ländern im Herbst 2008 noch bei 6,7 Millionen, so liegt sie heute bei 12 Millionen. Die leicht positiven Zahlen des letzten Jahres sind vor allem darauf zurückzuführen, dass viele Erwerbslose in diesen Staaten nun als nicht mehr vermittelbar gelten und aus der offiziellen Statistik herausfielen. Die Migration vor allem junger Erwerbsloser tat ihr übriges.
Auch die Arbeitslosigkeit verfestigt sich
Es ist ohnehin erstaunlich, dass die Politik zwischen den ganzen roten Zahlenkolonnen der europäischen Statistikbehörden immer wieder Arbeitsmarktdaten findet, die man als Erfolgsmeldung verkaufen kann. Dabei ist die Zahl der Langzeitarbeitslosen in der EU zwischen 2008 und 2015 von 6,2 auf 10,9 Millionen Menschen gestiegen – ein Plus von 76%. Auch hier ist es besonders dramatisch, dass die Zahlen in den ökonomisch ohnehin schon schwachen Regionen besonders dramatisch sind. So lag das Wachstum der Langzeitarbeitslosigkeit in Bulgarien bei 91%, in Irland bei 201%, in Griechenland bei 379%, in Frankreich bei 60%, in Italien bei 134% und in Zypern sogar bei 1330%. Was das konkret heißt, sieht man am Beispiel Spanien. Dort gab es 2008 467.000 Langzeitarbeitslose. Heute sind es 2,6 Millionen – eine Steigerung von 459%. Alleine in der Hauptstadt Madrid ist die Zahl der Langzeitarbeitslosen zwischen 2008 und 2015 von 43.000 auf 322.000 gestiegen. Dies zeigt einmal mehr, wie wenig aussagekräftig die offiziellen Quoten sind. Fast elf Millionen EU-Bürger gelten nach den offiziellen Definitionen als langzeitarbeitslos.
Woher soll die Wende kommen?
Die sozioökonomische Entwicklung in der EU klafft immer stärker auseinander. Um die Schere wieder zu schließen, müssten vor allem die Regionen wachsen, die heute am unteren Ende der Skala stehen. Hier muss jedoch die Frage gestattet sein, wie dies geschehen soll? Von alleine?
Die Konsumausgaben der griechischen Haushalte sanken seit 2008 um 27%. Und Griechenland ist nicht alleine. Auch in Spanien (-8%), Kroatien (-13%), Italien (-5%), Zypern (-9%), Portugal (-6%) und vielen weiteren Staaten sanken die Ausgaben sogar in absoluten Zahlen. In der gesamten EU sind die Konsumausgaben in diesem Zeitraum übrigens auch nur um miserable 2,0% gestiegen. Ein Wachstum aus dem Konsum heraus kann es in der EU also nicht geben; vor allem nicht in den ohnehin schon schwachen Regionen.
Und wie sieht es mit den Investitionen aus? Seit 2008 ging die Zahl der Bruttoinvestitionen in der gesamten EU um 8% zurück. In den wirtschaftlich angeschlagenen und den ohnehin schwachen Ländern der Peripherie sind die Investitionen seitdem förmlich eingebrochen. In Griechenland um 67%, in Spanien um 28%, in Kroatien um 41%, in Italien um 28%, in Zypern um 53% und in Portugal um 33%. Aber auch in „Musterstaaten“ wie Slowenien (-42%), Finnland (-15%) und sogar in Deutschland (-3%) sind die Investitionen rückläufig. Wen wundert es auch? Wenn die Wirtschaft stagniert, die Gehälter nicht steigen und der Staat sich als eiserner Ausgabenkürzer versteht, kann die Wirtschaft auch nicht wachsen und Investitionen bleiben aus.
Um ein „gemeinsames Europa“ zu realisieren, müsste vor allem Geld an der Peripherie ankommen. Aber woher soll das Geld kommen? In allen genannten Ländern ist neben den Investitionen auch der Teil des Bruttoinlandproduktes rückläufig, den Ökonomen als Arbeitnehmerentgelt bezeichnen; also der Teil des Kuchens, der bei den Werktätigen hängen bleibt. Und dies ist abseits von Krisenzeiten eigentlich sehr ungewöhnlich. Es kommt immer wieder vor, dass reiche Regionen stagnieren, aber wenn ärmere Regionen stagnieren, können sie nicht aufholen, sondern fallen im internationalen Vergleich immer weiter zurück. Genau dies ist in fast allen EU-Ländern der Süd-Ost-Peripherie der Fall. Wenn Investitionen zurückgehen und die Arbeitnehmerentgelte in ohnehin schon armen Staaten wie Rumänien, Kroatien oder Lettland sinken anstatt zu steigen, vergrößert sich der Abstand zur „blauen Banane“, also der europäischen Kernregion, von Jahr zu Jahr. Gleiches gilt für ehemals erfolgreiche Regionen in der Peripherie, die Berlin und Brüssel seit der Finanzkrise am ausgestreckten Arm verhungern lassen.
Die europäische Peripherie schrumpft. Dabei bräuchten gerade Staaten wie Lettland, Litauen, Estland, Kroatien, Bulgarien und Rumänien, also Staaten, die wirtschaftlich weit hinter dem Zentrum Europas zurückhängen, eigentlich bei allen Kennzahlen mindestens zweistellige Wachstumsraten, um mittel- bis langfristig aufzuschließen. Davon sind sie jedoch Lichtjahre entfernt. Wer draußen ist, bleibt draußen.
Was Europa bräuchte, wäre ein groß angelegtes Investitionsprogramm für die Peripherie. Doch davon will in der neoliberal geprägten EU-Kommission freilich niemand etwas hören. Stattdessen redet man sich lieber ein, dass die unsichtbare Hand des Marktes derartige Schieflagen von alleine korrigiert. Das tut sie, aber auf eine ganz andere Art und Weise wie es sein sollte.
Wenn wir nicht gegensteuern, kommt es zu einer Völkerwanderung
Wenn wir über „Flüchtlinge“ sprechen, dann haben wir meist Syrer, Afghanen oder Schwarzafrikaner vor Augen. Die allermeisten „Wirtschaftsflüchtlinge“ sind jedoch Binnenflüchtlinge aus der EU. Die drei baltischen Republiken sind beispielsweise seit 1990 von ehemals rund acht Millionen Menschen auf heute nur noch 6,2 Millionen Menschen geschrumpft. Ähnlich sieht es in Bulgarien (8,8 Millionen auf 7,2 Millionen), Rumänien (23,2 Millionen auf 19,7 Millionen) und Kroatien (4,8 Millionen auf 4,2 Millionen) aus. In Deutschland kennt man dieses Phänomen ja selbst zu genüge. Auch die Flächenstaaten der ehemaligen DDR mussten im Schnitt rund 20% ihrer Bevölkerung gen Westen ziehen lassen.
Seit Beginn der Finanzkrise ist das Phänomen der Armuts- und Arbeitsmigration im Kern Europas angekommen und es gibt keinen Grund anzunehmen, warum die Migrations- und Fluchtbewegungen nicht noch dramatisch zunehmen werden, wenn sich die ökonomischen Rahmenbedingungen an der Peripherie nicht bald verbessern. EU-Bürger haben nun einmal die Möglichkeit, innerhalb der EU frei zu reisen und sich frei niederzulassen. Und wenn man sich nun einmal die Unterschiede zwischen Südbulgarien und Schweden anschaut, wundert man sich eher, warum sich nicht noch mehr Bulgaren sich auf den Weg gemacht haben.
Sozioökonomisch ist dies natürlich alles andere als wünschenswert. In den europäischen Zentralregionen würden die Zuwanderer vor allem die Löhne nach unten drücken – ein Effekt, der von der neoliberalen EU-Kommission sicher durchaus gewollt ist. Auf der anderen Seite verlieren die Herkunftsregionen jedoch vollends den Anschluss, da es ja in der Regel die Gebildeten, Jungen und Fitten sind, die sich in der Hoffnung auf eine bessere Zukunft auf die große Reise machen. Schon heute sind ganze Regionen Europas von der jüngeren Generation entvölkert. Im Baltikum hat sich die Zahl der Kinder seit 1990 von 1,8 Millionen auf heute 935.000 fast halbiert. Ähnlich hoch ist der Rückgang in Bulgarien (-45%), Polen (-41%) und Rumänien (-44%).
Wie also soll unser gemeinsames Europa aussehen? Übervölkerte Städte in den Metropolregionen des Benelux, Ostfrankreichs und Südwestdeutschlands und einsame Dörfer mit zahnlosen Greisen in Spanien, Griechenland, Kroatien, im Baltikum und auf dem Balkan? Wenn dies unser politisches Ziel ist, sind wir auf dem besten Weg. Wenn wir ein echtes gemeinsames Europa haben wollen, dann müssen wir gegensteuern.