Statt Entgeltgleichheit: Löhne in der Leiharbeit bleiben verhandelbar

Jens Berger
Ein Artikel von:

Gleiche Bezahlung in der Leiharbeit, diese oft erhobene Forderung hätte von den Gewerkschaften im Handstreich und aus eigener Kraft durchgesetzt werden können. Statt sich zu der dafür nötigen radikalen Position durchzuringen, hat die DGB Tarifgemeinschaft Leiharbeit letzte Woche neue Entgeltverträge ausgehandelt. Gewerkschaftslinke mögen sich ärgern, wundern sollten sie sich nicht, denn bei der Durchsetzung von „Equal Pay“ stecken die Gewerkschaften in einem strukturellen Dilemma. Von Markus Krüsemann[*].

Leiharbeiter/innen sind Beschäftigte zweiter Klasse, die sehr oft mit Niedriglöhnen abgespeist werden, immer und regelmäßig aber deutlich weniger verdienen als festangestellte Beschäftigte in vergleichbarer Position. So weit, so schlecht. Und das umso mehr, als sich das Lohndumpingmodell der Arbeitnehmerüberlassung in den vergangenen Jahren wie ein Krebsgeschwür ausgebreitet hat, weshalb die Zahl der Leihkräfte mittlerweile die Millionengrenze erreicht hat.

Arbeitsmarktpolitik gegen die Interessen der Leiharbeitenden

Die Fakten sind allen im Bundestag vertretenen Parteien bekannt, und während die einen schlicht leugnen, dass dies ein Problem darstellt, rühmen sich andere für eine Gesetzesnovelle, die an den erbärmlichen Verhältnissen schlicht nichts ändern wird. Von der SPD ist hier nichts mehr zu erwarten. Vorbei die Zeiten, als sich im sozialdemokratischen Parteiprogramm die Forderung nach einem Verbot der Leiharbeit fand. Seit die Genossen auf dem dritten Weg zur Mitte sind, kann davon natürlich keine Rede mehr sein. 2003 haben sie mit ihrer neoliberalen Agenda-Politik die Ausbeutung durch Leiharbeit erst so richtig entfesselt, und heute fordert die ehemalige Arbeiterpartei allenthalben noch, man möge doch den Missbrauch der Leiharbeit zurückdrängen. Bei den Grünen sieht es etwas besser aus, die stören sich nicht nur am Missbrauch, sondern wollen auch erreichen, dass Leiharbeitskräfte die gleiche Entlohnung erhalten wie Stammbeschäftigte, „und zwar ab dem ersten Tag, und zusätzlich einen “Flexibilitätsbonus“. Letztlich tritt unter den Bundestagsparteien derzeit nur die LINKE für ein Verbot der Leiharbeit ein.

Und die Gewerkschaften?

Die Situation am Arbeitsmarkt und die Tatenlosigkeit der Politik müssten nicht nur den Betroffenen, sondern auch ihrer organisierten Interessenvertretung mächtig stinken, werden doch Leiharbeitnehmer/innen regelmäßig und systematisch als billige Verfügungsmasse und als Disziplinierungsinstrument gegenüber Stammbelegschaften missbraucht. Grund genug, ernst zu nehmenden Widerstand von den Gewerkschaften zu erwarten, die sich ja traditionell dem, nun ja, Kampf gegen Ausbeutung und Lohndumping verschrieben haben. Im Interesse der Arbeitnehmer/innen, die sie zu vertreten beanspruchen, liegt es sicher nicht, als Beschäftigte zweiter Klasse für wenig Lohn herumgereicht zu werden. Schon daraus sollte ein klarer Handlungsauftrag erwachsen. Doch um eine eindeutige programmatische Opposition der im Deutschen Gewerkschaftsbund (DGB) zusammengeschlossenen Arbeitnehmerorganisationen zu finden, muss man schon ein wenig in die Geschichte der Gewerkschaftsbewegung zurückgehen.

Als 1967 das Verbot des gewerbsmäßigen Verleihens von Beschäftigten aufgehoben wurde, geschah dies sehr zum Verdruss der Gewerkschaften, die sich damals strikt gegen derartige Verleihpraktiken wandten und noch bis weit in die 1980er Jahre hinein dem Beschäftigungsmodell ablehnend gegenüberstanden. Im DGB-Grundsatzprogramm von 1981 etwa wurde wie selbstverständlich noch ein Verbot der Leiharbeit gefordert.

Strategiewechsel: vom Abwehrkampf zur Mitgestaltung

Erst 1996 wurde diese Forderung aus dem (heute noch gültigen) Grundsatzprogramm gestrichen. Zwei Jahre später verkündete der DGB, er wolle in Zukunft Tarifverträge abschließen, um eine Regulierung der Leiharbeit zu erreichen. Offensichtlich hatte sich bei den Kolleginnen und Kollegen eine politische Haltung durchgesetzt, der zufolge ein Verbot der Leiharbeit als nicht mehr durchsetzbar erschien. Kurzum: Der DGB, die IG Metall und andere Gewerkschaften vollzogen einen deutlichen Strategiewandel. Sie hielten Leiharbeit nun für eine zwar nicht geliebte, aber wohl nicht mehr zu verhindernde und vielleicht ja doch ein klein wenig geeignete Brücke in den regulären Arbeitsmarkt und schlossen Tarifverträge mit Leiharbeitsunternehmen ab, wenn sie sich nicht selbst sogar in der Überlassungsbranche geschäftlich engagierten. An dieser Grundhaltung hat sich bis heute im Wesentlichen nichts geändert.

Nun klingt es zunächst einmal nicht allzu verkehrt, eine wachsende Zahl von Leiharbeitsbeschäftigten nicht ihrem Schicksal zu überlassen, sondern für deren Rechte einzutreten, sie dabei in den gewerkschaftlichen Organisationsbereich zu integrieren und auf diesem Wege vor der schlimmsten Ausbeutung und vor prekärer Beschäftigung zu schützen. Für die Gewerkschaften hat das den wichtigen Effekt, eine bis dato schlecht organisierte und ebenso schlecht organisierbare Beschäftigtengruppe zu erreichen und so neue Mitglieder zu gewinnen. Ein Punkt, auf den unten noch zurückzukommen sein wird.

Ziel ist Equal Pay

Gleicher Lohn für gleiche Arbeit, lautet ein, wenn nicht das zentrale Ziel, das Gewerkschaften für die Leiharbeitsbeschäftigten in Verhandlungen mit den Arbeitgebern durchsetzen wollen. Keine schlechte Strategie, sollte man meinen, wenn es da nicht einen Passus im Arbeitnehmerüberlassungsgesetz (AÜG) gäbe, der den Gewerkschaften eine alternative strategische Handlungsmöglichkeit eröffnet, dieses Ziel zu erreichen und zugleich noch der ausufernden Leiharbeit einen Riegel vorzuschieben. Die Rede ist vom „Equal Pay“-Grundsatz:
In § 9 Abs. 2 (oder auch in § 10 Abs. 4) des Arbeitnehmerüberlassungsgesetzes (AÜG) ist festgeschrieben, dass der Verleiher dem Leiharbeitnehmer für die Zeit der Überlassung an den Entleiher das im Betrieb des Entleihers für einen vergleichbaren Arbeitnehmer des Entleihers geltende Arbeitsentgelt zahlen muss. Auf gut Deutsch: Der Leiharbeiter muss den gleichen Lohn erhalten wie der mit vergleichbaren Aufgaben betraute, fest im Betrieb angestellte Kollege. Wie gleich die Bezahlung am Ende wirklich ausfallen würde, ist allerdings nicht eindeutig geregelt, denn im Gesetz fehlt eine Definition der Gehaltsbestandteile, die zu Equal Pay gehören.

Entgeltgleichheit also per Gesetz? Für die realen Verdienstaussichten der Leihkräfte spielt dies keine Rolle, denn fatalerweise wurde – nicht ohne Zutun der Gewerkschaften – in das Gesetz zur Regelung der Leiharbeit an mehreren anderen Stellen (etwa im § 3 Abs. 1) eine Ergänzung eingefügt, die es in sich hat: „Ein Tarifvertrag kann abweichende Regelungen zulassen“. So konnte der Equal-Pay-Grundsatz faktisch nie greifen. Und weil die in der Leiharbeit ausgehandelten Tarife unterhalb der für regulär Beschäftigte vereinbarten Entgelt-Tarifverträge liegen, verdienen Leiharbeitsbeschäftigte regelmäßig weniger als ihre festangestellten Kollegen. Das ist starker Tobak, die organisierten Interessenvertreter der Leiharbeitnehmer/innen streben eine Entgeltgleichheit an, die sie durch ihr Handeln erst verhindern.

Was hier als Knüppel auf die Leiharbeiter/innen niedergeht, wäre aber zugleich der Hebel, um sie aus der Ausbeutung herauszuholen. Die in der Tarifgemeinschaft Leiharbeit zusammengeschlossenen DGB-Gewerkschaften bräuchten nämlich nur genau diese Tarifverträge zu kündigen, schon gäbe es keine abweichenden Regelungen mehr. Leiharbeitskräften stünde von der ersten Einsatzminute an der gleiche Lohn zu, und Lohndumping per Leiharbeit wäre dann nicht mehr möglich.

Verträge gekündigt – um neue abzuschließen

Tatsächlich laufen die bestehenden Entgelttarife in der Leiharbeit zum Jahresende aus, sie wurden von der DGB-Tarifgemeinschaft fristgerecht gekündigt. Nun hätten sich die Arbeitnehmerorganisationen nur noch weigern müssen, neue Verträge abzuschließen, schon wäre das Schlupfloch für Lohndumping gestopft. So weit, so einfach. Die Realität indes sieht anders aus.

Besagte Tarifgemeinschaft hatte lieber wieder neue Tarifverhandlungen mit den Leiharbeitsverbänden aufgenommen, um ab 2017 Entgeltsteigerungen (aber nicht gleiche Löhne) für die Beschäftigten der Überlassungsbranche zu erzielen. Gefordert wurde die Erhöhung der Entgelte um sechs Prozent, mindestens aber 70 Cent pro Stunde, sowie eine baldige Ost-West-Angleichung der Bezahlung, Maximalforderungen, die am Ende sowieso nie durchsetzbar sind. Die Verhandlungsrunden folgten dann dem üblichen Drehbuch der Positionsannäherungen. Die Einigung kam dann bereits in der dritten Runde zustande, und wie die neuen Tariftabellen zeigen, sind die Entgeltsteigerungen alles andere als berauschend ausgefallen. Da sollte die Kuh wohl möglichst schnell vom Eis geholt werden.

Offener Brief für „Equal Pay“

Das Vorgehen der DGB-Tarifgemeinschaft hat linke Gewerkschafter/innen (und nicht nur die) auf die Palme gebracht. Sie hielten und halten es für vollkommen absurd, Lohnerhöhungen in einer Situation auszuhandeln, in der der Durchbruch zu Equal Pay so greifbar nahe war. In einem offenen Brief hatten sie die an der Tarifgemeinschaft beteiligten Gewerkschaften frühzeitig aufgefordert, die Gunst der Stunde zu nutzen und die Entgelttarifverträge in der Leiharbeit ersatzlos auslaufen zu lassen. Ein erneutes Aushandeln von Tarifverträgen in der Leiharbeit kam für Verfasser und Unterzeichner der Briefinitiative einer Zustimmung zu Niedriglohn, Ausbeutung und Tagelöhnerei gleich.

Die Forderung klingt bestechend. Mit quasi nicht mehr als einem Federstrich hätten die Gewerkschaften aus eigener Kraft eine starke Eindämmung der Leiharbeit erreichen und vielleicht sogar das Ende der Leiharbeit als Lohndumpingmodell besiegeln können. Einschränkend muss zwar gesagt werden, dass sich der im Gesetz festgelegte Equal-Pay-Grundsatz nur auf die Entlohnung während der Einsatzzeiten, nicht aber auf die Entgelthöhe in der verleihfreien Zeit bezieht. Doch welches Unternehmen wäre noch daran interessiert, Leihbeschäftigte zu mieten, wenn die deutlich teurer kommen als die Stammbelegschaft. Da muss die Not (die plötzlich erhöhte Auftragslage, der kurzfristig zu überbrückende Personalmangel) schon groß sein, und dann muss für die Linderung der Not, für die zusätzliche Flexibilität eben auch gezahlt werden.

Um zu verstehen, warum die Gewerkschaften der Forderung nicht nachgekommen sind und lieber an Tarifverträgen festhalten, muss man zunächst ins Jahr 2003 zurückschauen und sich dabei vor allem vergegenwärtigen, dass die Arbeitnehmerorganisationen Gestaltungsmacht, nicht Gegenmacht sein wollen – auch wenn das früher einmal anders war.

Umfassende Tarifierung – ein Köder, der Agenda 2010 zuzustimmen

Wir erinnern uns: Seit Ende der 1990er Jahre bereits setzten Gewerkschaften bei der Leiharbeit nicht mehr auf die Gegenmacht-Strategie, Leiharbeit zu verhindern, sondern auf eine Gestaltungsmacht-Strategie, Strukturen in der Leiharbeit mitzubestimmen, die dort Beschäftigten zu organisieren und so auch an die eigene Organisation zu binden. Dabei hatten sie zunächst nur mäßigen Erfolg.

Das änderte sich zu Beginn der Jahrtausendwende, als die damalige rot-grüne Regierung unter Kanzler Schröder ihre fatale, neoliberale Agenda 2010 auf den Weg brachte. Von der grundfalschen Vorstellung ausgehend, dass nur mit einer weitreichenden Flexibilisierung und Deregulierung des Arbeitsmarktes der damals exorbitant hohen Arbeitslosigkeit beizukommen sei, versprach sich die Regierung auch von der Ausweitung einer von gesetzlichen Regulierungen weitgehend befreiten Leiharbeit einen Impuls für ein stärkeres Jobwachstum. Die Qualität der Arbeit war natürlich egal, Hauptsache Arbeit.

Abgehandelt wurde dies, wie alle entscheidenden Agenda-Reformen, in der „Kommission für moderne Dienstleistungen am Arbeitsmarkt“, der sogenannten „Hartz-Kommission“, in der auch eine Gewerkschafterin und ein Gewerkschafter vertreten waren. Um die Arbeitnehmerseite bei der Entfesselung der Leiharbeit mit ins Boot zu holen, musste die Kommission ihnen ein Angebot machen: „Die Deregulierung sollte (…) durch eine umfassende tarifliche Regulierung der Leiharbeit flankiert werden und so die Anerkennung der Leiharbeit durch die Gewerkschaften sichern“, stellte der Sozialwissenschaftler Tobias Wölfle 2008 fest.

Die gesetzliche Stärkung der Tarifautonomie im Gegenzug für Zustimmung zur Deregulierung, das war ein Köder, den zu schlucken die Gewerkschaften damals nicht widerstehen konnten oder mochten. Schließlich wollte man Gestaltungsmacht sein, mitgestalten. Die bislang eher unwillige Gegenseite, die Verbände der Verleihbranche, konnte so quasi per Gesetz an den Verhandlungstisch gedrängt werden. Denn natürlich waren jetzt auch die Arbeitgeber an dem Abschluss von Tarifverträgen interessiert, ließ sich doch nur auf diesem Wege die Geltung des Gleichbehandlungsgrundsatzes verhindern. Die Abweichung vom gesetzlichen Gleichstellungsprinzip des „Equal Pay“ wurde zugunsten der Möglichkeit einer umfassenden Tarifierung der Leiharbeitsbranche in Kauf genommen. Es ist diese Grundhaltung gewerkschaftlich-strategischen Handelns, die dem Verzicht auf ein erneutes Aushandeln von Tarifverträgen in der Leiharbeit entgegenstand.

Die Pflicht einer Organisation ist es, sich zu erhalten

Wenn linke Gewerkschafter/innen fordern, keine Tarifverträge in der Leiharbeit mehr abzuschließen, so fordern sie implizit (zuweilen auch explizit) einen Strategiewechsel zurück zu jenen Zeiten, in denen man sich eher als Gegenmacht im Kampf um Arbeitnehmer/innenrechte positionierte. Ob auf der Kommandobrücke des Gewerkschaftstankers so ein Kurswechsel überhaupt in Erwägung gezogen wird, darf bezweifelt werden. Neben zeitaktuellen Hemmnissen gibt es auch einen strukturellen Grund, vertrautes Fahrwasser nicht zu verlassen, und der liegt in der Logik von Organisationen begründet.

Die DGB-Gewerkschaften verstehen sich als handlungs- und durchsetzungsfähige Interessenvertretungen für alle abhängig Beschäftigten. Sie beziehen ihre Legitimation daraus, im Namen und im Interesse ihrer Mitglieder erfolgreich zu handeln. Ziel ist es, die Arbeitnehmerinteressen aufzugreifen, zu bündeln und durchzusetzen. Wie bei allen Großorganisationen unterliegt die Verfolgung dieses Ziels auch bei den Gewerkschaften einer typischen Organisationslogik, die eine Sicherung der eigenen Existenz und die Stabilisierung sowie den Ausbau der eigenen Funktionsbereiche vorsieht. Im Idealfall wird dann ein Vertretungsmonopol und eine hohe Mitgliedsquote erreicht. Gewerkschaften haben also ein organisationsinhärentes Eigeninteresse, das ihr Handeln anleitet.

Mit welchen Mitteln eine Organisation ihre allgemeine Zielsetzung am besten verwirklicht, ist ein Frage der strategischen Ausrichtung. Im Falle der Gewerkschaften hat man sich dazu entschlossen, dass gestalterisches Organisationshandeln im Sinne der Mitglieder im Wesentlichen in Form von Tarifverhandlungen stattfinden soll. Anders gesagt: Das genuine Handlungsfeld von Gewerkschaften ist die Lohn- und Tarifpolitik. Tarifvertragliche Handlungsfähigkeit und Tarifautonomie sind die übergeordneten handlungsleitenden Ziele, die den Mitgliederinteressen wie auch dem Organisationserhalt nach eigener Einschätzung am besten dienen. Im Falle der Entgeltgleichheit in der Leiharbeit erwächst daraus ein Dilemma.

Das Equal-Pay-Dilemma

Im Normalfall zahlt sich erfolgreiches Organisationshandeln (Tarifverträge) sowohl für die Organisation (Machterhalt) als auch für ihre Mitglieder (Besserstellung) aus. Zwischen Eigeninteressen und Handlungsauftrag tut sich kein Widerspruch auf. Im Falle der Equal-Pay-Diskussion ist dies anders, hier stecken die Gewerkschaften in einem Dilemma: Ihrer Kernaufgabe, ihre Mitglieder zu schützen und möglichst viel für sie rauszuholen, können sie im Falle der Entlohnung von Leiharbeit nur dann nachkommen, wenn sie ihr genuines Handlungsfeld, Tarifverträge abzuschließen, preisgeben. Das kommt aber aus der Binnenperspektive einer an Macht- und Selbsterhalt interessierten Organisation einer Selbstgefährdung und Selbstschädigung gleich. Equal Pay durchzusetzen, das würde bedeuten, sich aus Tarifverhandlungen zurückzuziehen, eine etablierte und mittlerweile auch exklusive Beziehung kollektiver Vertragsverhandlung preiszugeben. Zudem würde man mit dem Rückzug aus einer institutionalisierten Machtposition ein stückweit die Kontrolle über die Branche wieder aus der Hand geben.

Wenn sich aber die Logik des Organisationserhalts über jene der unbedingten Verfolgung von Mitgliederinteressen schiebt, dann erwächst daraus ein anderes Problem. Gewerkschaftliche Organisationen müssen sich nicht nur nach außen als handlungsmächtige Akteure erhalten, sie müssen gleichzeitig auch nach innen die „Gefolgschaft“ ihrer Anhänger organisieren und langfristig sicherstellen. Das bedeutet, sie müssen bei ihren Mitgliedern eine Akzeptanz der Ergebnisse ihres Handelns und Aushandelns erreichen. Im Falle großer Verhandlungserfolge ist dies kein Problem, doch kann dies auch bei spärlichen Ergebnissen und dem Verzicht auf Equal Pay funktionieren?

Die DGB-Gewerkschaften ahnten wohl, dass ihr Kurs, erneut auf Tarifverträge zu setzen, auf Widerstand stoßen würde. Um ihre Strategie zu legitimieren, hatte die Tarifgemeinschaft vor dem Verhandlungsauftakt versucht, sich Rückendeckung durch die Leiharbeiter/innen selbst zu holen. Per Umfrage sollten die Wünsche der in der Arbeitnehmerüberlassung Beschäftigten ermittelt werden, um sie in die eigenen Forderungen einfließen zu lassen. Die Idee hat bei den Betroffenen wohl nicht so recht gezündet, denn gerade mal 1.500 Rückmeldungen sind bei einer Grundgesamtheit von mehr als 900.000 Beschäftigten ein klägliches Resultat. Rechnerisch haben nicht einmal 0,2 Prozent ein Votum abgegeben. Auf die Frage „Sind sie dafür, dass wir keine neuen Entgelttarife für sie abschließen, um auf diesem Weg kurzfristig die Entgeltgleichheit für ihre Arbeit zu erreichen?“ hat sogar niemand geantwortet. Wie auch, diese Frage wurde wohl aus gutem Grund erst gar nicht vorgelegt.

Das Dilemma wurde im Sinne der Organisation aufgelöst…

Mit dem Entschluss, weiterhin Tarifverträge in der Arbeitnehmerüberlassung abzuschließen, hat sich die DGB-Tarifgemeinschaft dafür entschieden, die allgemeinen Interessen der Organisation über die Interessen der dort Beschäftigten zu stellen. Für die Verfasser des offenen Briefs werden die Leiharbeitenden damit schlechter gestellt, als es sein müsste. Es steht sogar der Verdacht im Raum, dass Gewerkschaften einer Zunahme prekärer Beschäftigung dann nicht entgegentreten, wenn sie sich eigene Vorteile davon versprechen. Leiharbeit wäre demnach o.k., wenn man mit im Spiel ist und an ihrer Ausgestaltung beteiligt wird.

Normalerweise würde man das typisches Organisationshandeln nennen. Basis verbreitern, Mitglieder gewinnen, Einfluss steigern. Sind Gewerkschaften aber ganz normale Organisationen? Der Grat zwischen der von den Mitgliedern erwarteten Durchsetzung von Arbeitnehmerinteressen und einer auf Selbsterhalt ausgerichteten Instrumentalisierung von Beschäftigten für eigene Zwecke ist ein schmaler.

… denn die Gegenmacht-Strategie in der Leiharbeit schien zu riskant

Abgesehen vom letztendlich typischen Organisationshandeln muss man den Gewerkschaften aber eins auch zugestehen: Ein Konfrontationskurs wäre im Falle der Leiharbeit mit erheblichen Risiken verbunden gewesen.

  • Das womöglich noch geringste Problem: Die gesetzlich vorgesehene Entgeltgleichheit gilt nur in Phasen der Einsatzzeiten bei den Entleihbetrieben. In verleihfreien Zeiten müssten die Leihkräfte also Einkommenseinbußen in Kauf nehmen. Der Mindestlohn von bald 8,84 Euro ist ihnen aber sicher, und zumindest im Vergleich zu den für März 2017 ausgehandelten Branchenmindestlöhnen von 9,23 Euro (West) und 8,91 Euro (Ost) (in der niedrigsten Qualifikationsstufe) bedeutet er keine große Schlechterstellung. Zudem dürfte es sich um ein eher hypothetisches Problem handeln, denn erstens sind alle Verleihbetriebe bestrebt, die verleihfreien Zeiten so kurz wie möglich zu halten, und zweitens dürfte mit echtem Equal Pay die derzeitige Geschäftsgrundlage der Branche sowieso entfallen.
  • Ein größeres Problem betrifft die Entsendung von Beschäftigten: Ein tarifloser Equal-Pay-Standard in der Leiharbeit würde nicht für aus dem Ausland entsandte Beschäftigte gelten. Es entstünde also ein neues Einfallstor für Lohndumping und für die Ausbeutung ausländischer Arbeitskräfte, womit die Spaltung von Belegschaften einhergeht.
  • Aus Sicht der Organisation noch schwerer wiegen dürfte die Gefahr eines Reputationsverlustes. Arbeitgeberfreundliche Presse und Lobbyorganisationen wie auch die Arbeitgeberverbände selbst wären über die Gewerkschaften herfallen, hätten ihnen bloße Verweigerungshaltung, Unzuverlässigkeit und Verantwortungslosigkeit vorgehalten. Und an dem mit Sicherheit erhobenen Vorwurf, die Gewerkschaften schickten so Hunderttausende in die Arbeitslosigkeit, hätte der DGB zu tragen gehabt. Vor dem Einschwenken auf einen Konfrontationskurs hätten die DGB-Gewerkschaften daher ihre Rolle, ihr Selbstverständnis und ihre Funktion als Sozialpartner grundsätzlich neu bewerten müssen.
  • Zuletzt kann nicht ausgeschlossen werden, dass (von den Arbeitgebern lancierte) gelbe Gewerkschaften wieder erstarken. In der Leiharbeitsbranche hatte lange Zeit die Tarifgemeinschaft Christlicher Gewerkschaften für Zeitarbeit und Personal-Service-Agenturen (CGZP) Niedriglohn-Tarifvereinbarungen mit den Arbeitgeberverbänden abgeschlossen. Seit das Bundesarbeitsgericht ihnen 2010 die Tariffähigkeit abgesprochen hatte, sind die christlichen Gewerkschaften bedeutungslos und keine ernsthafte Konkurrenz – wohl auch, weil die Überlassungsbranche mit den einschätzbaren und verlässlichen DGB-Verhandlungspartnern und ihrem Vertretungsmonopol ganz gut fährt. Sollten die ihre kooperative Haltung jemals aufgeben, stellte sich die Frage nach dem Aufbau einer arbeitgeberfreundlichen Konkurrenzgewerkschaft wieder von Neuem.

Es hätte den Gewerkschaften trotz allem gut zu Gesicht gestanden, sich in Zeiten einer unter Legitimationsdruck geratenen, neoliberalen Hegemonie endlich wieder klar und auch konfrontativ zu positionieren. Gründe dafür gäbe es genug. Was hätte derzeit nähergelegen, als im Handlungsfeld Leiharbeit die ersten Schritte zu tun, auch wenn die genannten Risiken dort groß und teilweise nicht kalkulierbar sind?

Allerdings: Ohne Einbettung in eine neue, radikalere Gesamtstrategie wäre das ein Strohfeuer geblieben, an dem sich die Entfacher auch böse die Finger hätten verbrennen können. Die Debatte zur Neubewertung der Funktion als Sozialpartner und der Ausrichtung als Gegenmacht wollen die Gewerkschaftsspitzen aber lieber vermeiden. Erschwerend kommt eine Organisationslogik hinzu, die deren Strukturkonservatismus noch bekräftigt. Nein, die DGB-Gewerkschaften werden sich wohl kaum jemals aus der sozialpartnerschaftlichen Mitgestaltung der Leiharbeit verabschieden (können).


[«*] Markus Krüsemann ist Soziologe am Institut für Regionalforschung, Göttingen und Betreiber des Infoportals miese-jobs.de.