Die Rentengehirnwäsche
Die gewollte Demontage der gesetzlichen Rentenversicherung und die damit verbundenen Kampagnen sind seit jeher eines der Kernthemen der NachDenkSeiten. In wohl kaum einen anderen Bereich gibt es in der öffentlichen Debatten so viele Lobbyisten, die sich „Rentenexperten“ nennen und am Ende des Tages doch nur die Einflussarbeit für die Finanzwirtschaft erledigen, die an der privaten Altersvorsorge fürstlich verdient. Eine rühmliche Ausnahme stellt da der Versicherungsexperte Holger Balodis[*] dar, mit dem Jens Wernicke für die NachDenkSeiten gesprochen hat.
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Herr Balodis, in Zeiten, in denen eine immer größere Verarmung und Verelendung breiter Bevölkerungsteile zu beobachten sind, betätigen sich viele Medien als Sprachrohr der Oberen und vernebeln den Bürgern den Verstand. So hat etwa die Debatte über Armut immer skurrilere Züge angenommen, seitdem man nicht mehr über sozioökonomische Ausgrenzung spricht, sondern von „gefühlter Armut“ – so, als litten die Armen an einer Art „kollektivem Wahn“, den es nur zu therapieren gelte. Und auch die Debatte zur steigenden Altersarmut verläuft immer fragwürdiger. Etwa, indem man uns beizubringen versucht, Altersarmut sei nur „ein Mythos“ und jeder könne ja ohnehin „länger arbeiten“. Wie bewerten Sie die aktuellen Entwicklungen? In welcher Situation befinden wir uns?
Wir stecken in der Renten- und Armutsdebatte mittendrin in einem Kampf um Worte. Altersarmut, die bereits jetzt ein riesiges Problem darstellt und nachweisbar weiterwächst, wird neuerdings schlicht wegdefiniert. Und was es demnach nicht gibt, muss man ja auch nicht bekämpfen. Damit wurde und wird massiv Einfluss genommen auf die Rentenpolitik der Bundesregierung.
Wer genau übt hier welchen Einfluss aus?
Dahinter stehen dieselben Kreise, die bereits die Renten-Kehrtwende unter Schröder und Riester vorbereitet hatten. Besonders tut sich da die sogenannte Initiative Neue Soziale Marktwirtschaft, kurz INSM, hervor. Aber auch das Institut der deutschen Wirtschaft. Da tauchen immer wieder Prognos-Gutachten auf, unter anderem finanziert vom Gesamtverband der deutschen Versicherungswirtschaft oder der INSM. Dazu Stellungnahmen und Gutachten des wissenschaftlichen Beirates im Bundeswirtschaftsministerium, und alle behaupten im Kern: Altersarmut gäbe es nur im Einzelfall. Als Massenphänomen existiere es nicht. Den Rentnern gehe es gut und selbst bei sinkendem Rentenniveau werde es ihnen in 20 oder 30 Jahren noch viel bessergehen als heute.
Das klingt nach etwas, das der französische Soziologe Pierre Bourdieu einmal als rationale Demagogie bezeichnet hat – mit den Mitteln der Wissenschaft Macht ausüben und manipulieren. Warum tun diese Kreise das? Worum geht es Ihnen?
Nun, diese Institutionen betreiben Interessenpolitik. Sie vertreten die Interessen großer Wirtschaftszweige und der Arbeitgeberverbände – und deren generelles Ziel ist es, dass die Steuern und Sozialabgaben niedrig bleiben. Und man darf auch nicht vergessen, dass beispielsweise die Finanzwirtschaft an der Schwächung der gesetzlichen Rente prächtig verdient. Es ist also aus deren Sicht sehr sinnvoll, mit pseudowissenschaftlichen Beiträgen vermeintlich „objektiv“ zu beweisen, dass es keine verbreitete Altersarmut gibt. Sonst bestünde die Gefahr, dass die Politik womöglich die Demontage der gesetzlichen Rente doch noch korrigiert. Und wenn daraufhin die Arbeitgeberbeiträge für die Rente stiegen, eine Erwerbstätigenversicherung eingeführt würde und klar würde, dass mehr Steuermittel für die gesetzliche Rente benötigt werden, wäre das für interessierte Kreise natürlich sehr ärgerlich.
Technisch läuft die Verschleierung der Altersarmut folgendermaßen ab: Den Berechnungen liegen in der Regel keine Menschen mit tatsächlichen Einkommen, sondern theoretische Konstrukte zugrunde, die dann unter der Prämisse fiktiver Bedingungen weiter fortgeschrieben werden. Fast immer rechnet man dabei mit dem Standardrentner, einem Phantom, das 45 Jahre lang durchschnittlich – derzeit pro Jahr rund 36.000 Euro – verdient hat. Arbeitslosigkeit, Teilzeitbeschäftigung, schwere Krankheiten, vorzeitige Verrentung – all das existiert für den Standardrentner nicht. Und wenn man ihn gar 47 oder 50 Jahre arbeiten lässt und die Lohnentwicklung in den kommenden Jahren optimistisch hochrechnet, kommt man leicht auf traumhafte Renten in der Zukunft. Doch das wirkliche Leben ist anders. Die Realität nimmt einen ganz anderen Weg.
Tatsächlich verdienen rund 40 Prozent der Beschäftigten inzwischen richtig mies und nur wenige werden die unterstellten Versicherungsjahre tatsächlich schaffen. Das Rentnerparadies ist also in weiter Ferne, wenn man mal von den Beamten absieht. Dennoch setzen INSM & Co. alles daran, Politik und Gesellschaft einzuhämmern, es gebe keinen Reformbedarf bei der Rentenhöhe. Es ist genau wie vor den Riester-Reformen: Die Gesellschaft soll einer regelrechten Gehirnwäsche unterzogen werden.
Die Lage ist also ernst und die genannten Institutionen tun alles, um das zu verschleiern, zu vertuschen, den Leuten einzureden, dass es gar kein Elend gebe – bestenfalls bedauerliche Einzelfälle individueller Versagernaturen. Wie ernst ist die Lage denn konkret?
Bereits heute bezieht deutlich über eine Million Rentner aufstockende Grundsicherungsleistungen. Das heißt, ihre Rente reicht nicht zum Leben. Ansprüche haben aber vermutlich weitere zwei Millionen Rentner, die sich aus Scham nicht zum Amt trauen.
Schon in wenigen Jahren wird die Zahl der armen Alten explodieren: Rund 13 Millionen der heute versicherungspflichtig Beschäftigten verdienen so wenig, dass ihre Rente unterhalb der Grundsicherung liegen wird.
Dazu kommen Millionen von Langzeitarbeitslosen, schlecht verdienende Solo-Selbstständige und Mini-Jobber. Wer nicht das Glück hat, dass ihn oder sie ein gut verdienender Ehepartner unterstützt, landet dann unweigerlich in der Altersarmut. Europaweit steht das deutsche Rentensystem bei der Behandlung der Klein- und Mittelverdiener ganz hinten.
Nehme ich das richtig wahr: Immer mehr Menschen werden schwer krank und dann mit einer unzureichenden Erwerbsminderungsrente abgespeist. Immer mehr Menschen landen nach jahrzehntelanger Arbeit in einer Rente auf Hartz IV-Niveau. Und es trifft nicht nur Unqualifizierte und Kleinverdiener. Dennoch wird das Ganze weitgehend ignoriert. Was geschieht hier: Frisst, wie es so schön heißt, der Kapitalismus zunehmend seine Kinder – und redet ihnen dabei aber stets aufs Neue ein, es läge ja an ihnen selbst?
Das ist weniger eine Systemfrage als eine Frage, sagen wir es mal altmodisch: der Anständigkeit. Länder wie die Schweiz oder Österreich zeigen, dass man auch KIein- und Normalverdienern eine sehr ordentliche Rente zahlen kann. Und dass das die Wirtschaft keineswegs ruiniert. Im Gegenteil. Doch hierzulande glauben die Arbeitgeber, dass sie bessere Renten für alle unbedingt mit Hilfe ihrer Propagandatruppe INSM verhindern müssen. Und das Perfide daran: Sie tun dabei noch so, als ginge es ihnen darum, die aktiv Beschäftigten vor zu hohen Beiträgen zu schützen. So wird künstlich ein Kampf „Jung gegen Alt“ angeheizt, um von den wahren Interessen abzulenken. Dabei belegen Umfragen: die Jungen würden gerne etwas mehr zahlen, wenn sie dafür später armutsfeste Renten bekämen.
Renten bilden ja die Lebensgrundlage für über 20 Millionen Menschen im Land. Warum ausgerechnet Angriffe auf diesen Bereich der Daseinsvorsorge, der mehr oder minder jeden von uns unmittelbar betrifft?
Hier geht es um gewaltige Beträge: In der gesetzlichen Rente werden jährlich über 250 Milliarden Euro verteilt. Wenn nur ein Teil dieses Geldes auf die private Altersvorsorge umgeleitet wird, dann bedeutet das ein exzellentes Geschäft. Und es ist natürlich ein Kampf der Ideologien. Wenn breiter Konsens bestünde, dass nur eine umlagefinanzierte staatliche Rente für alle Bürger eine auskömmliche Rente im Alter bieten kann und das auch tatsächlich umgesetzt würde, wäre dem Geschäftsmodell der sogenannten kapitalgedeckten Altersvorsorge weitgehend der Boden entzogen. Deswegen die massiven Angriffe von INSM und IW gegen jede Form von Rentenerhöhungen. Deshalb die ständigen Zweifel an der Zukunftsfähigkeit der Rente und die Warnungen vor der angeblichen demografischen Katastrophe. Natürlich beißt sich die Katze damit selbst in den Schwanz: Denn wenn das staatliche System so mies wie behauptet wäre, dann sollte doch auch die drohende Altersarmut eine logische Konsequenz sein.
Aber natürlich ist alles genau andersherum: Nicht das Rentensystem ist schlecht, sondern die verantwortlichen Politiker tun seit fast 20 Jahren mit wenigen Ausnahmen alles dafür, es zu ruinieren.
Gibt es unter den, bitte entschuldigen Sie die Härte meiner Worte, Apologeten des Sozialabbaus Akteure, die man besonders im Auge behalten muss?
Da fällt mir natürlich sofort Professor Bernd Raffelhüschen ein. Der verkündet auf der INSM-Homepage in einem Video großspurig: „Es gibt keine Altersarmut in Deutschland. Sie ist quasi irrelevant.“ Folgerichtig hält er eine weitere Senkung des Rentenniveaus für höchst sinnvoll und notwendig.
Diese Haltung hat sich nun offenbar auch in der Bundesregierung durchgesetzt. Finanzstaatssekretär Jens Spahn, CDU, meldet sich als Protagonist der Jüngeren immer wieder zu Wort und erklärt: Altersarmut sei kein Thema. Allenfalls bei Erwerbsgeminderten und Solo-Selbstständigen sieht er ein gewisses Armutsrisiko. Das Rentenniveau für alle wieder anzuheben oder auch nur auf heutigem Stand einzufrieren, sei hingegen für die Beitragszahler nicht zumutbar.
Aber so einen Unfug kontert doch sicher die sogenannte sozialdemokratische Partei in Regierungsverantwortung prompt und pointiert?
Leider nein. Ganz im Gegenteil, selbst die zuständige Ministerin Andrea Nahles hat das Problem steigender Altersarmut offenbar noch gar nicht als solches erkannt. Sie spricht zwar nebulös von Haltelinien beim Rentenniveau, doch das würde den Millionen Schlechtverdienern, Teilzeitbeschäftigten, Mini-Jobbern und Langzeitarbeitslosen auch nichts nutzen. Die brauchen eine deutliche Anhebung ihrer Armutsrenten auf ein Niveau oberhalb der Grundsicherung. Bislang hat Nahles aber kein Konzept geliefert, was den millionenfachen Marsch in die Altersarmut stoppen könnte.
Immerhin soll sich aber die Absicherung über Betriebsrenten nun deutlich verbessern.
Das klingt erst mal gut, dabei handelt es sich aber um einen riesigen Etikettenschwindel. Klassische Betriebsrenten sind eine gute Sache, wenn der Chef seinen Beschäftigten eine Rente fürs Alter zusagt und das voll über den Betrieb finanziert. Doch das, was die Bundesregierung jetzt fördern will, ist etwas ganz Anderes: Es nennt sich Entgeltumwandlung und dabei zahlt der Arbeitnehmer den Beitrag in der Regel voll aus der eigenen Tasche.
Zwar spart er mit seiner Einzahlung zunächst meist kräftig Steuern und Sozialabgaben, doch am langen Ende ist es leider allzu oft ein Verlustgeschäft. In der Rentenphase sind nämlich volle Steuern, Krankenkassen- und Pflegebeiträge zu zahlen. Und zwar Arbeitnehmer- und Arbeitgeberbeitrag vom Rentner allein. Und was oft vergessen wird: Mit der Entgeltumwandlung sinken die Ansprüche aus der gesetzlichen Rente. Das kann im Alter zehntausende Euro kosten und schon rutscht die hochgepriesene sogenannte „Betriebsrente“ gewaltig ins Minus.
Wenn Andrea Nahles nun also die Betriebsrenten in Form der Entgeltumwandlung ausbaut, schwächt sie damit die gesetzliche Rentenkasse weiter. Sie erweist sich damit als würdige Nachfolgerin von Walter Riester. Man könnte auch sagen als Totengräberin der Rente.
Auch die Gewerkschaften geben bezüglich der Rente und ihrer Sicherung ein eher trauriges Bild ab. Bei Vielen lautet die Devise inzwischen offenbar: Wenn wir es schon nicht verhindern können, verdienen wir an der Verelendung zumindest noch mit. Stichwort „MetallRente“. Haben die Gewerkschaften inzwischen die Seite gewechselt?
So ganz neu ist das leider nicht. Bereits die Riester-Reform wurde seinerzeit von den Gewerkschaften abgenickt, weil man zusammen mit der Riester-Rente für alle Arbeitnehmer ein gesetzliches Recht auf Entgeltumwandlung eingeführt hatte. Es geht da sicher nicht ums Mitverdienen, aber um Einfluss. Betriebsrenten werden ja oft tarifvertraglich geregelt. Da eröffnet sich also ein Spielfeld für gewerkschaftliche Einflussnahme. Ob das die Renten für die Arbeitnehmer deutlich verbessert, bleibt abzuwarten. Denn operativ wird das Geschäft von Pensionskassen und Direktversicherungen in der Regel von Allianz & Co gemacht, wie das Beispiel der Metallrente zeigt. Es bleibt in jedem Fall die Tatsache, dass Betriebsrenten in Form von Entgeltumwandlung die gesetzliche Rente enorm schwächen. Das kann eigentlich nicht im Interesse der Gewerkschaften sein.
Das klingt ja durchweg alles andere als rosig. Was müsste geschehen, was täte not, um diesen Entwicklungen Einhalt zu gebieten? Brauchen wir eine Art „sozialen Aufstand“ im Land gegen all die Zumutungen des neoliberalen Sozialabbaus? Oder zumindest doch eine Art „Seniorenaufstand“?
Definitiv ja. Wir brauchen eine Protestbewegung mindestens von der Stärke, wie sie sich gegen Ceta und TTIP formiert hat. Der Seniorenaufstand in Kiel ist ein erstes, zartes Pflänzchen und die Initiatoren machen eine tolle Arbeit. Aber gegen die öffentliche Meinungsmache anzukommen ist nicht einfach, denn es ist der INSM und den Arbeitgebern gelungen, einen Keil zwischen Jung und Alt zu treiben. Die Jungen glauben gar nicht mehr, dass eine gute Rente möglich ist und dass sich der Kampf dafür lohnt. Wenn aber nur Alte protestieren, wirkt es wie ein Kampf der Alten um ihre Pfründe. Und das schreckt die Jungen umso mehr ab. Diesen Teufelskreis gilt es zu durchbrechen. Die Jungen müssen verstehen, dass alles, was für die Rentner erreicht wird, auch ihnen später nutzt.
Gibt es etwas, das jeder und jede von uns tun kann? Jeder einzelne?
Natürlich. Jeder sollte in seinem persönlichen Umfeld in Gesprächen das System der gesetzlichen Rente verteidigen, insbesondere gegenüber der jüngeren Generation. Nur wenn wir der Gehirnwäsche mutig begegnen, haben wir eine Chance.
Noch ein letztes Wort?
Wir brauchen ganz dringend zwei Entscheidungen:
- Eine Mindestrente, damit all jene, die im Mindestlohnsektor oder in Teilzeit arbeiten, die lange arbeitslos waren oder krankheitsbedingt aus dem Erwerbsleben ausscheiden, nicht in die Altersarmut rauschen.
- Den Umstieg auf eine Erwerbstätigenversicherung: alle Erwerbstätigen, also auch Selbstständige, Freiberufler, Beamte und Politiker sollten einzahlen und eine gesetzliche Rente beziehen.
Das wäre nicht nur gerecht, macht die Rentenfinanzen stabiler, sondern schafft auch Raum für notwendige Umverteilungen zugunsten der Geringverdiener. Es ist ein ganz wichtiger Baustein für eine gute Rente für alle.
Ich bedanke mich für das Gespräch.
[«*] Holger Balodis, Jahrgang 1960, berichtete zusammen mit Dagmar Hühne 25 Jahre lang als Fachautor für die ARD-Magazine „Monitor“, „Plusminus“ und „Ratgeber Recht“. Er ist ausgewiesener Experte auf den Gebieten Altersvorsorge, Versicherungen und Finanzen. Im Jahr 2012 veröffentlichte er den Spiegel-Bestseller „Die Vorsorgelüge“. 2014 folgte für das Deutsche Institut für Wirtschaftsforschung (DIW) die Untersuchung „Privatrenten als (un)geeignetes Instrument der Altersvorsorge“. Das aktuelle Buch „Garantiert beschissen!“ erschien 2015 im Westend Verlag.