Weil die Geschichte von den Siegern geschrieben wird, müssen die Besiegten ihre Geschichten erzählen

Max Uthoff
Ein Artikel von Max Uthoff

Was ist das, Heimat? Der geografische Zufall allein schafft keine Heimat. Es sind Düfte, Geräusche, es ist die Sprache, in jedem Fall ist es Geborgenheit, eine Zuflucht vor dem Irrsinn der Tage. Kann Heimat überall sein, wo man Freunde findet, Rettung in der Musik oder in Büchern? Und was macht das mit einem Menschen, wenn ihm die Heimat geraubt wird? Ein Text von Max Uthoff und ein Auszug dem Buch “Ich bleibe immer der vierjährige Junge von damals” über das Leben von Argyris Sfountouris und das SS-Massaker von Distomo 1944.

Das Erste, was ich von Argyris Sfountouris sah, war diese Fotografie. Ein Schwarzweißfoto, das ihn als kleinen Jungen zeigt, der sehr konzentriert und neugierig in das Auge des Betrachters blickt. Ich wusste, dass dieser kleine Junge einer der wenigen Überlebenden des SS-Massakers von Distomo war. Ich wusste auch, dass Argyris Sfountouris bis heute vergeblich darum kämpft, eine Entschädigung von Deutschland zu bekommen. Wir hatten ihn als Gast in unsere Kabarettsendung »Die Anstalt« eingeladen. Meine Mitstreiter und ich wollten eine Sendung über die fatalen Folgen machen, die die Sparpolitik der Troika in Griechenland anrichtet. Und wir wollten in einem Gespräch mit unserem Gast klarmachen, dass Deutschland, welches seine Kriegsschulden gegenüber Griechenland praktisch nie bezahlt hatte, welches gegenüber den Opfern von Distomo nahezu keine Entschädigung geleistet hatte, sich besser zurückhalten sollte mit dem Mantra »Schulden müssten immer zurückgezahlt werden«.

Als ich Argyris Sfountouris am Tag der ersten Probe traf, war ich sofort eingenommen von ihm. Er ist ein Mann der alten Schule, wie man sagt, wenn man jemanden beschreibt, der höflich, charmant und zurückhaltend ist. Ein feiner, älterer Herr, in dessen Gesicht sich der wache Blick des kleinen Jungen wiederfindet. Mit funkelndem Verstand und trockenem Humor ermahnte er uns, auf keinen Fall die bösesten Gags der Sendung zu streichen.

Am Tag der Livesendung lenkte ein depressiver Pilot der Germanwings ein Flugzeug in die Berge Südfrankreichs, 149 Menschen starben. An einem Tag mit so vielen toten Deutschen wäre es mehr als unangebracht gewesen, die historische Schuld Deutschlands satirisch zu untersuchen, schon um unseren Gast und dessen Anliegen zu schützen. Dennoch war es ein seltsames Gefühl: Die Generation meines Großvaters hatte fast die gesamte Verwandtschaft von Argyris Sfountouris ausgelöscht, die Generation meines Vaters fädelte einen schmutzigen Deal ein, um den Überlebenden nichts zahlen zu müssen. Und ich bat an diesem Abend Argyris Sfountouris um Verständnis, dass die Sendung erst später ausgestrahlt werden könne, aus Rücksicht gegenüber den Gefühlen der Deutschen.

Trotz alldem, was ihm durch dieses Land angetan wurde, hegt er keinen Groll gegen seine Bewohner; die Verbrechen der Nazis haben ihm nicht die Lust an der Musik, der Dichtung, der Literatur dieses Landes geraubt. Argyris Sfountouris ist ein Weltbürger, ein Humanist und ein ungemein genauer Beobachter der politischen Entwicklung. Ich traf ihn später noch einmal in Zürich. Wir wollten uns kurz auf einen Kaffee treffen. Drei Stunden später verließ ich das Kaffeehaus, berauscht von einem Gespräch, in dessen Verlauf mir Argyris nicht nur die griechische Nachkriegsgeschichte, sondern auch einen ungemein kenntnisreichen Abriss der europäischen Entwicklung der letzten Zeit darlegte: pointiert, detailreich, erhellend. Der Standpunkt, von dem aus Argyris die Welt betrachtet, ist der des neugierigen Philanthropen, dessen Verständnis von Gerechtigkeit sich eben nicht aus rein persönlichen Motiven speist. Sein Blick auf die Welt ist der des Vielgereisten, des Vertriebenen, des Sehnsüchtigen.

Wer die Geschichte des Lebens von Argyris Sfountouris liest, kann dies immer auch im Lichte der Worte tun, die Roger Willemsen einmal über Dieter Hildebrandt schrieb: »Man muss einen Menschen nicht dafür loben, dass er alt geworden ist, sondern für die Entscheidungen seines Lebens: abertausende von kleinen und großen Entscheidungen, immer wieder für die richtige Sache, den guten Gedanken, den bedürftigen Menschen. Der Humanist hat ein Bild vom ganzen Menschen und seiner Würde, er hat die Courage, sich zu schaden, schützt die seinen und ihren Lebensraum, er versteht die Herrschaft der Mehrheit als ein Protektorat für die Minderheit.«

Dieses Buch erzählt die Geschichte eines Menschen, dem die Eltern und seine Heimat geraubt wurden und der sich dann aufgemacht hat, um ein ereignisreiches, leidenschaftliches und glückliches Leben zu führen.

Man täusche sich aber nicht: Ein furchtbares Erlebnis wie das Massaker von Distomo hinterlässt niemanden unbeschadet. Und nicht jeder hat den Willen, das Glück und die Kraft, danach ein erfülltes Leben zu führen. Die kleine Schwester von Argyris Sfountouris lebt, vom SS-Terror traumatisiert, seitdem in einem griechischen Pflegeheim. Eine bitterböse Volte der Geschichte hat dazu geführt, dass Kondylia Sfountouris jetzt noch einmal Opfer der Deutschen wurde. Durch die Griechenland vor allem unter Führung Wolfgang Schäubles aufgezwungenen »Reformen« hat sich die Rente Kondylias um 300 Euro gemindert, während durch die erzwungene Erhebung einer Mehrwertsteuer auf Heimleistungen ihre Versorgung um 150 Euro teurer geworden ist.

Deutschland hat diesen Krieg offiziell verloren, stiehlt sich aber als großer Sieger der Nachkriegsgeschichte aus der Verantwortung für die Opfer. Gerade weil die Geschichte von den Siegern geschrieben wird, müssen die Besiegten ihre Geschichten erzählen.

Das Buch „Ich bleibe immer der vierjährige Junge von damals. Das SS-Massaker von Distomo und der Kampf eines Überlebenden um Gerechtigkeit“ von Patric Seibel ist am 4. Oktober im Westend Verlag erschienen.

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