Keine „sicheren Gebiete“ weit und breit
Bereits vor mehreren Monaten betonte die deutsche Bundesregierung, dass es in Afghanistan „sichere Gebiete“ gebe, in denen die Menschen weitgehend friedlich leben können. Aus diesem Grund, so der Unterton, gehen auch Abschiebungen in derartige Gebiete völlig d’accord. Dabei haben allein in der afghanischen Hauptstadt die letzten Tage wieder einmal deutlich gemacht, warum es mehr als verständlich ist, aus einem solchen Land zu fliehen. Von Emran Feroz aus Kabul.
Dieser Beitrag ist auch als Audio-Podcast verfügbar.
Podcast: Play in new window | Download
Es ist kurz vor Mitternacht. Ich sitze vor meinem Notebook und nippe an meiner Teetasse. Plötzlich ein lauter Knall. Irgendwo, mitten in Kabul, ist wieder einmal eine Bombe hochgegangen. An jenem Montag war es schon die dritte innerhalb von zwölf Stunden. Bereits am Nachmittag griffen die Taliban das afghanische Verteidigungsministerium an. Offiziellen Angaben zufolge wurden mindestens 35 Menschen getötet, über 100 weitere wurden verletzt.
Nun also wieder. Angespannt will ich herausfinden, wo der neue Anschlag stattgefunden hat. Mein Twitter-Feed quellt über. „Boom“, twittern viele Afghanen nahezu zeitlich. Nach wenigen Minuten ist der Schauplatz des Geschehens bekannt: Shar-e Nao, das Einkaufs- und Hotelviertel Kabuls, in dem auch viele Ausländer leben. Rund zwei Stunden vor dem Anschlag bin ich ebenfalls noch in diesem Stadtteil gewesen und hatte einen Verwandten besucht. Und nun konnte ich dennoch den Knall der Explosion wahrnehmen, obwohl ich mich mittlerweile am anderen Ende der Stadt befand.
Erst am darauffolgenden Morgen wurde das Ausmaß des Angriffs bekannt. Ziel war das Gebäude der internationalen Hilfsorganisation Care. Im Laufe des elfstündigen Gefechts konnten 42 Geißeln von den Sicherheitskräften befreit werden. Alle drei Angreifer wurden getötet. Wer für den Anschlag verantwortlich gewesen ist, ist weiterhin unklar. Amnesty International hat den Angriff bereits als Kriegsverbrechen bezeichnet.
Die jüngsten Anschläge haben vor allem eines deutlich gemacht: Kabul mag viele Attribute haben, „sicher“ ist jedoch keines davon. Doch was für die Menschen in Kabul zum Alltag geworden ist, wird in westlichen Hauptstädten weiterhin kaum zur Kenntnis genommen. Während Geflüchteten aus Syrien oder dem Irak in nahezu allen Fällen problemlos Asyl gewährt wird, ist dies bei vielen Afghanen nicht der Fall. Bevor ich etwa meine jüngste Reise nach Afghanistan antrat, musste ich einem Freund dabei helfen, Bestätigungen von potentiellen Arbeitgebern zu sammeln. Seit fast fünf Jahren lebt er in Österreich, nun droht ihm die Abschiebung. Allem Anschein nach reicht es der österreichischen Bürokratie nicht, dass in seiner Heimat seit über 35 Jahren Krieg herrscht.
Ähnlich, womöglich sogar schlimmer, verhält sich auch die Bundesregierung. Im Schatten der jüngsten Anschläge lassen sich nämlich in Kabul sowie in anderen großen Städten weiterhin Plakate der deutschen Abschreckungskampagne finden. „Viele Afghanen in Deutschland, die unqualifiziert sind oder nicht Deutsch sprechen, sind arbeitslos“ ist da etwa im propagandistischen Neusprech zu lesen. Das österreichische Außenministerium war von der Kampagne derart begeistert, dass sie sie prompt imitiert hat.
Fünfzehn Jahre seit dem Einsatz der westlichen Truppen in Afghanistan könnte die Lage im Land nicht schlimmer sein. Vom versprochenen Frieden, der Demokratie und den Menschenrechten fehlt jegliche Spur. Die Unterstützungsmission der Vereinten Nationen in Afghanistan (UNAMA) zählt seit Beginn ihrer Zählung im Jahr 2009 jährlich einen neuen Höchststand an zivilen Opfern. Zum gleichen Zeitpunkt flüchten zahlreiche Afghanen aus ihrer Heimat. Bevor der Krieg in Syrien ausbrach, stellten Menschen aus Afghanistan die größte Gruppe von Geflüchteten weltweit dar. Mittlerweile befinden sie sich nach den Syrern auf dem zweiten Platz. Rund ein Zehntel der afghanischen Bevölkerung befindet sich weiterhin auf der Flucht. Ein neuer UNICEF-Bericht hat vor Kurzem deutlich gemacht, dass knapp die Hälfte aller minderjährigen Geflüchteten sowohl aus Syrien als auch aus Afghanistan stammen.
Krieg herrscht nämlich nicht nur in Kabul, sondern vor allem in den anderen Provinzen des Landes. In vielen Provinzen, etwa in Kunduz, in Uruzgan, in Baghlan oder etwa in Helmand, spielt sich in diesen Tagen nahezu dasselbe Szenario ab wie im vergangenen Jahr: Die Taliban erobern ein Distrikt nach dem anderen. Der Höhepunkt im September 2015 war die kurzzeitige Eroberung der Provinzhauptstadt von Kunduz. Nun setzt die NATO alles daran, einen solchen Erfolg in diesem Jahr zu verhindern. Alles andere würde der Weltöffentlichkeit nämlich ein weiteres Mal das absolute Scheitern des westlichen Militäreinsatzes vor Augen führen.
Und natürlich wäre es im Kontext all dieser Tatsachen töricht zu behaupten, der Westen trage für die Eskalation in Afghanistan keine Schuld. Denn wer sich mit brutalen Kriegsherrn verbündet, ganze Landstriche bombardiert, mit Drohnen Menschen jagt, brutalste Foltermethoden anwendet und Kriegsverbrecher, wie etwa den ehemaligen Bundeswehr-Oberst und mittlerweile zum Brigadegeneral beförderten Georg Klein, nicht bestraft sondern belohnt, hat sehr wohl Schuld zu tragen – und muss irgendwann auch dafür büßen.
Zu all diesen Dingen lässt sich allerdings nur wenig bis gar nichts in den deutschen Medien finden. Man zieht es vor, über die andauernde Zerstörung Afghanistans nur wenig zu berichten. Viele Medien beschreiben eben nicht die Realität, sie kreieren sie. Dies kann auch durch Schweigen oder dem schlichten Ignorieren von bestimmten Ereignissen geschehen. Und genau dadurch, durch diese permanente Nichtberichterstattung, wird die Mär vom sicheren Afghanistan, das man erfolgreich befriedet hat, aufrecht erhalten.