Frankreich im Ausnahmezustand
Der französische Präsident François Hollande erklärte am 14.6.2016: „Ich möchte den Franzosen also sehr klar sagen, dass der Ausnahmezustand nicht ewig verlängert werden kann (…) Das hätte gar keinen Sinn, das würde bedeuten, dass wir keine Republik mehr wären mit einem Recht, das unter allen Umständen angewandt wird.“ Nur ein Tag später – als Antwort auf einen verheerenden Anschlag in Nizza – verlängerte er den Ausnahmezustand. Wolf Wetzel hat für die NachDenkSeiten einen Blick auf die Entwicklungen des letzten Monats geworfen, in dem sich Frankreich dauerhaft im Ausnahmezustand befand.
Siehe dazu auch: Wolf Wetzel: Die stille Nacht deutscher Qualitätsmedien und nuit debout – kurz vor Eröffnung der Fußball-EM
Über die Kämpfe, Proteste und Streiks, die der EM in Frankreich vorausgingen, während dieser fortgesetzt wurden und mit dem Ende der EM nicht vorbei sind, wurde in den deutschen Medien so gut wie gar nicht berichtet. Das war alles andere als leicht, denn an diesen Kämpfen gegen die geplante Arbeitsmarktreform beteiligten sich nicht ein paar Hundert oder ein paar Tausende. Am 14. Juni 2016 kamen über 1.000.000 Menschen zusammen, um ihre Ablehnung gegenüber diesem Gesetz und dem seit November 2015 verhängten Ausnahmezustand (état d’urgence) zu demonstrieren.
Es lag auch nicht daran, dass keine JournalistInnen vor Ort waren. Sie waren zu Hunderten dort, nur nicht, um darüber zu berichten. Ihre Augen und Bleistifte richteten sich nur auf ein Ereignis und zwar auf die Fußballeuropameisterschaft. Frei und unabhängig schaute man nicht über den Stadionrand, selbst dann nicht, als es dort qualmte und fußball-untypische Geräusche zu hören waren.
„Die EM als Antidepressivum“(FR vom 9.6.2016) – Ein Terroranschlag muss her (beigeredet werden)
Gérard Biard, Chefredakteur von ‚Charlie Hebdo’, hat das, was kommen wird, treffend so beschrieben:
„Die EM ist eine enorme kommerzielle Unternehmung, die es Politikern außerdem ermöglicht, auf Zeit zu spielen. Für François Hollande und Manuel Valls kommt die EM gerade recht, um die Sozialproteste abzuwürgen. Nachher folgt die Tour de France, dann Olympia und, wer weiß, noch eine kleine Hitzewelle, um von den Problemen Frankreichs abzulenken.“ (FR vom 16.6.2016)
Als wollte der französische Inlands-Geheimdienstchef Patrick Calvar dieser leicht satirisch angehauchten Prophezeiung Substanz verleihen, erklärte er in einer Anhörung der Nationalversammlung: „Frankreich ist heute ganz klar das am stärksten bedrohte Land.“ Wahrscheinlich hat er von Syrien oder vom Irak noch nie etwas gehört. Dafür weiß er ganz genau, was in Frankreich zu tun ist. Der Ausnahmezustand ist ja bereits in Kraft. Nun musste man ihn nur noch (mehr) füllen: „Amnesty berichtet von nächtlichen Durchsuchungen, die Betroffene stigmatisiert und traumatisiert hätten. Einige der 60 befragten Personen sollen nach Durchsuchungen ihren Job verloren haben. Laut Amnesty gab es seit den Anschlägen mehr als 3.000 Hausdurchsuchungen und mehr als 400 Hausarreste.“ (SZ vom 4.2.2016)
Nationalismus als Tranquilizer und Antidepressivum
Zwei Tage vor dem Eröffnungsspiel in Paris entdeckte schließlich doch noch eine deutsche Zeitung, die Frankfurter Rundschau … Frankreich, und zwar “in beklagenswertem Zustand“. Was wochenlang kein Thema war, drängte sich nun als Leitartikel auf. Zuerst wurde der Ball leicht links angeschnitten: „Protestieren kann befreiend sein.“ Dann ging der Ball ab durch die Mitte:
„In Frankreich, dem Land der Revolutionen, der Protestkultur, muss man das niemandem erklären. Nur, die von Gewalt überschatteten Proteste (…) wirken nicht befreiend. Sie wirken beklemmend. Ob Eisenbahner, Fluglotsen, Piloten, Raffinerie-Arbeiter, Angestellte der Elektrizitätswerke oder Taxifahrer: Diejenigen, die Verkehrswege oder Energieversorgung blockieren oder dies während der Fußballeuropameisterschaft noch zu tun gedenken, sind keine Revolutionäre.“ (Die EM als Antidepressivum, FR vom 9.6.2016)
Dagegen hilft noch mehr Polizei … und als 13. Mann ein „Sommermärchen“. Oder ein Wunder:
„Eines wie jenes von 1998. Die schon damals von Fliehkräften erfasste Nation lag sich nach dem Gewinn der Fußball-WM im eigenen Land freudetrunken in den Armen. Schwarze, Weiße und die Nachfahren nordafrikanischer Einwanderer würden fortan zum Wohle aller ihre Kräfte bündeln. Das schien beschlossene Sache.“ (s.o.)
Was aus der „beschlossenen Sache“ geworden ist, erspart uns der Leitartikler. Es wurde nichts daraus. Das weiß er. Dass besagte „Fliehkräfte“ nicht durch Fußball-Gucken verschwinden, sondern weiterhin wirken, dürfte ebenfalls bekannt sein. Aber darum ging es, darum geht es nicht. Es geht einfach nur darum, dass sie nicht stören sollen – schon gar nicht beim Fußballgucken.
Nationalismus als Antidepressiva und Medikamentenmissbrauch
Nun, die französische Nationalmannschaft hat es bis ins Endspiel der EM geschafft und die Medien haben alles getan, dass es nur Fußball zu sehen gab, selbst dann, wenn die meisten Spiele so langweilig waren, dass man die Tore auch hätte abbauen und verschenken können.
Dann musste sich die Grande Nation doch noch geschlagen geben – auf dem Spielfeld: Sie verlor gegen die portugiesische Mannschaft 0:1. Außerhalb des Spielfeldes gingen die verschwiegenen Kämpfe gegen die Arbeitsmarktreform weiter. Auch dort gibt es ein vorläufiges Ergebnis, über das erst gar nicht berichtet wird. Die Regierung hat Zugeständnisse gemacht, die sie in offiziellen Stellungnahmen strikt abgelehnt hatte. Es hat nicht an der mehrheitlichen Ablehnung dieser Arbeitsmarktreform gefehlt. Es war wohl eher die Erschöpfung nach wochenlangen Streiks und Demonstrationen, die dieses Patt erklären hilft.
Die EM ist zu Ende, der Ausnahmezustand geht in die dritte Verlängerung
Noch am 14.7.2016 erklärte der französische Präsident François Hollande in einem Pressegespräch:
„Ich möchte den Franzosen also sehr klar sagen, dass der Ausnahmezustand nicht ewig verlängert werden kann“, fügte der Präsident hinzu. „Das hätte gar keinen Sinn, das würde bedeuten, dass wir keine Republik mehr wären mit einem Recht, das unter allen Umständen angewandt wird.“ (tagesanzeiger.ch vom 14.7.2016)
Dass die Suspendierung elementarer Schutzrechte gegenüber dem Staat nun ins Strafrecht eingeschleust wurde, erwähnte er nicht. Genau dies war bereits ein Monat zuvor geschehen, mit dem, was man Reform des Strafrechts nennt und nichts anderes kaschiert, als die Verrechtlichung des Ausnahmezustandes.
Ein Tag später … am Tag der Freiheit
Ein Lastwagen, der am Nationalfeiertag in Nizza in die Menge fuhr und Dutzende von Menschen getötet hatte, hat diese präsidiale Erkenntnis über den Haufen geworfen. Ein scheußlicher Anschlag, der geradezu eine reaktionäre Antwort sucht. Dass weder die Verschärfung des Strafrechts, noch der Ausnahmezustand einen Lastwagen aufhalten, einen solchen Anschlag verhindern können, hat auch dieser Anschlag gezeigt.
Dass der nun abermals verlängerte Ausnahmezustand hingegen die Republik verändern wird, kann man mit erwähntem Präsidentenwissen untermauern.
Die ‚Republik’ zu verteidigen, indem man sie abschafft, bekämpft nicht den Terror. Aber man kann recht sicher sein, dass diese Antworten das Land dorthin bringen (können), wo der Front National bereits mit offenen Armen wartet.