Jedem Ende wohnt ein Anfang inne – der Brexit als (vielleicht letzte) Chance für Europa
Die Briten haben sich – entgegen der meisten Prognosen – tatsächlich gegen einen Verbleib in der Europäischen Union entschieden. Der Katzenjammer der etablierten Politik wird gigantisch sein und uns noch Wochen lang begleiten. Doch die Sonntagsreden vom gemeinsamen Europa, das aus den Trümmern von Faschismus und Krieg entstanden ist, sind hohl. Gemeinsam sind im modernen Europa nur die Märkte. Will die EU wieder eine vereinende Kraft werden, die seinen Menschen Frieden, Wohlstand und Solidarität garantiert, muss sie sich neu erfinden und auf den Trümmern des Neoliberalismus ein neues Europa errichten. Dazu bietet der Brexit eine gute Chance … vielleicht die letzte, wollen wir nicht im Sommer 1914 oder 1939 wieder aufwachen. Von Jens Berger.
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Es gibt kritische Geister, die sich ernsthaft und reinen Herzens über das Abstimmungsergebnis in Großbritannien freuen. „Die Briten zeigen der neoliberalen EU die rote Karte“, so liest man in den sozialen Netzwerken. Ach, wenn es doch nur so wäre. Wortführer des Brexit waren und sind ja eben keine progressiven Kräfte, sondern der rechte Flügel der konservativen Tories und die reaktionäre UKIP. Der Brexit ist kein „anti-neoliberales“ Projekt, sondern ganz im Gegenteil ein Projekt derer, denen Brüssel zu „sozialistisch“ ist und die nicht nur die „EU-Bürokraten“, sondern generell die Politik entmachten wollen. Willkommen im neoliberalen „Wonderland UK“!
Aber wie soll man als progressiver Europäer heute noch irgendwen von Europa begeistern? Versuchen Sie doch mal, einem überzeugten Europa-Skeptiker zu erklären, was so toll an einem vereinten Europa ist und warum dies ein starkes Argument für die EU sein soll. Die EU garantiert den Frieden im gemeinsamen Europa? Das sehen Kroaten, Serben, Bosnier, Kosovaren, Albaner, Ukrainer und Russen sicherlich anders. Die EU steht für eine Solidarität unter den europäischen Völkern? Fragen Sie mal die Griechen, ob sie diesen Satz so unterschreiben würden. Die EU sichert gemeinsamen Wohlstand? In Zeiten, in denen die Einkommens- und Vermögensschere sich in allen EU-Staaten teils massiv öffnen, ist auch dieser Satz kaum mehr als eine bedeutungslose Hülse. Europa hat sämtliche Versprechen, die es gegeben hat, nicht eingehalten. Es ist daher oberflächlich betrachtet nicht einmal besonders überraschend, dass die Briten Europa lieber „farewell“ sagen. Hat Europa versagt? Nein, so einfach ist das nicht.
Nicht Europa, nicht der europäische Gedanke, sondern das „real existierende Europa“ ist spätestens heute gestorben. Auf die Frage „Was ist Europa?“ gibt es viele Antworten. Jeder Brite, jeder Deutsche, jeder Grieche, Pole oder Italiener wird darauf seine eigene – nicht immer enthusiastische, nicht immer optimistische und nicht immer überzeugte – Antwort haben. Parallelen zu den Floskeln und den Sonntagsreden seitens der Politik wird man dabei jedoch vermissen. Politik und Menschen leben auf europäischer Ebene in zwei Paralleluniversen.
Das politische Europa folgt einer marktkonformen Ideologie, ist ein Europa der Reichen und Mächtigen, dem die Wünsche und Träume seiner Bürger relativ egal sind und das himmelschreiende, demokratische Defizite in nahezu allen Bereichen aufweist. Selbst für bekennende Europa-Freunde wird es da von Tag zu Tag schwieriger, den Traum von einem gemeinsamen politischen Europa zu verteidigen.
Die Politik hat sich von den Eliten einspannen lassen, einen Kurs zu verfolgen, der gegen die Interessen des Volkes, gegen die Interessen der übergroßen Mehrheit, ausgerichtet ist und einzig und allein einer kleinen, dafür um so reicheren und mächtigeren Elite nutzt. „You can fool some people some times but you cant fool all the people all the time”, wusste schon Bob Marley. Die Gegenbewegung der Massen ist bereits im vollen Gange, nur dass die Menschen leider keine progressiven Antworten hören wollen, sondern im Nationalismus, im Chauvinismus und im Isolationismus Alternativen zum real existierenden Europa suchen. Die einfachen „Lösungen“ der Rechtspopulisten sind den Menschen offenbar einfacher zu vermitteln als die oft komplexen Analysen der progressiven Seite. Frankreich, Polen, Österreich, die Niederlande, Dänemark, Deutschland – Kerneuropa ist im Rechtsruck gefangen und auch der Brexit, der ja nun weiß Gott kein progressives oder linkes Projekt ist, ist ein weiteres Zeichen für den europaweiten Siegeszug der Rechten.
Die politische Linke hat ihr Bestes getan, um den Rechtsruck zu verhindern. Doch das Europa der Eliten sah sich nicht durch die Rechten, sondern durch die politische Linke bedroht und hat alles Denkbare dafür getan, die Linke zu diskreditieren und auszugrenzen. Wie schon vor mehr als 80 Jahren haben die Eliten gedacht, sie würden schon ihren Pakt mit den Rechten hinbekommen. Damals wedelte am Ende der Schwanz mit dem Hund und Europa stand in Flammen. Ein solches Szenario ist heute vielleicht noch undenkbar. Aber warten Sie mal ab. Vor wenigen Wochen dachte auch niemand daran, dass Großbritannien tatsächlich den Brexit vollzieht.
Wie sieht die Welt in zwei, drei Jahren aus? Ein nationalistisches Großbritannien unter einem Premier Boris Johnson, das Seit´ an Seit´ mit einer paranoiden rechten Weltmacht USA unter einem Präsidenten Donald Trump Weltpolitik macht? Und auf dem Kontinent die zwei Großmächte Frankreich und Deutschland – angeführt von Madame Le Pen und Frauke Petry. Ja sicher, das ist noch Zukunftsmusik und wir alle können nur hoffen, dass ein solches Szenario nie eintreten wird. Mit Großbritannien ist jedoch heute der erste Dominostein gefallen. Es ist wohl nur noch eine Frage der Zeit, bis Boris Johnson das vakante Zepter übernimmt. Und wie es dann weitergeht, weiß niemand.
Bleibt Schottland im „Vereinigten Königreich“ oder gibt es eine Sezessionsbewegung? Wird Nordirland in der Union bleiben? Oder werden die „Troubles“ zurückkehren, der lange Zeit ausgeblendete Bürgerkrieg mitten in Europa? Bleibt Großbritannien das einzige Land, das aus der EU austritt? Auch in Dänemark gibt es seitens der politischen Rechten derartige Forderungen und die niederländische Rechte scharrt ebenfalls bereits mit den Hufen.
Wer den Weg in den Abgrund verhindern will, muss jetzt(!) die Notbremse ziehen. Europa muss jetzt(!) neu erfunden werden. Und der Brexit bietet dafür zumindest auf dem Papier eine sehr gute Chance. Denn bislang hat auch und vor allem Großbritannien als Trojanisches Pferd des Marktliberalismus die falsche Politik der EU mitbestimmt. Ohne die Briten wäre eine Wende möglich … was (noch) fehlt, ist jedoch der politische Wille, die Politik zu ändern und Europa zu retten. Die Uhr tickt jedoch und eine 180°-Wende ist – so verbraucht und kritikwürdig der Begriff auch sein mag – alternativlos. Denn die einzige Alternative ist keine und würde Europa in ein neues, dunkles Zeitalter stürzen.