Ist der neue Kalte Krieg vom Himmel gefallen? Nein.
Er ist gemacht. Und wer den heißen Krieg verhindern und dann die richtigen therapeutischen Schlüsse ziehen will, muss ehrlich analysieren und Roß und Reiter nennen. Das tut nicht einmal der Willy-Brandt-Kreis. Das ist erstaunlich, denn ihm gehören Menschen an, von denen wir eine einigermaßen korrekte Analyse und darauf aufbauende Impulse und Forderungen erwarten könnten. Die am 21. Juni veröffentlichte und von den NachDenkSeiten verlinkte Erklärung zum Warschauer NATO-Gipfel mit der Botschaft „Der europäische Frieden ist in Gefahr!“ wird diesem notwendigen Anspruch nicht gerecht. Wir kommen darauf zurück, weil es in der aktuellen gefährlichen Situation wichtig wäre, dass sich Personen, die man eigentlich zum Kern einer Friedensbewegung zählen können müsste, anders äußern und dies künftig bitte auch tun. Albrecht Müller.
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Ich glaube nicht, dass zum Beispiel folgende Personen nach nochmaliger Lektüre der eigenen Erklärung hinter dem Text stehen können: Peter Brandt, Daniela Dahn, Axel Schmidt-Gödelitz, Friedrich Schorlemmer, Ingo Schulze, Walther Stützle, Antje Vollmer, Christoph Zöpel zum Beispiel. Und ich bin überzeugt davon, dass Egon Bahr, der den Willy-Brandt-Kreis mitgegründet hatte, diesen Text nicht unterzeichnet hätte. Und ich kann die Freundin/e im Willy-Brandt-Kreis nur ermuntern, künftig kritischer und konstruktiver an solche wichtigen Fragen heranzugehen.
Nun zur Sache und zunächst zum Positiven:
Parallel zum Text der Erklärung wurde eine Pressemitteilung veröffentlicht. Darin heißt es nach einem eher peinlichen Hinweis auf eine Äußerung von Außenminister Steinmeier:
„Der NATO-Gipfel darf nicht zu neuen Spannungen in Europa führen, das Wettrüsten weiter anheizen und Europa zurück in das Zeitalter wechselseitiger Abschreckung führen.
Dazu gehört auch eine angemessenere Erinnerung an 75 Jahre Überfall auf die Sowjetunion. Das hat mehr als symbolische Bedeutung.
Die Mitglieder des Willy-Brandt-Kreises fordern die Bundesregierung auf, in Warschau folgende Gesichtspunkte zu vertreten:
„1. Grundakte und NATO-Russland Rat neu beleben! 2. Militärische Vertrauensbildung stärken! 3. Verhandlungen zum Abzug taktischer Atomwaffen beginnen! 4. Raketenabwehrprogramm stoppen und neu verhandeln! 5. Sanktionen schrittweise aufheben! 6. OSZE stärken!“
Viele NachDenkSeiten-Leserinnen und -Leser werden diese Zeilen vorbehaltlos unterstützen können.
Aber der Text der Erklärung selbst?
Ich gebe ein paar Hinweise und stelle ein paar Fragen:
- Schon in den ersten beiden Absätzen muss man den Eindruck gewinnen, dass es für die neue Konfrontation zwischen West und Ost keine Täter gibt. Da heißt es zum Beispiel in passiver Formulierung: „Leider ist die zwischen Russland und der NATO eingetretene Eskalationsdynamik seither nicht zum Stillstand gekommen“. Oder es heißt, ein „Ende der Sanktionen“ sei „nicht in Sicht“. Sind die Sanktionen nicht aktiv vom Westen und mit Zustimmung der deutschen Bundesregierung verhängt worden?
- Ist es wirklich berechtigt, die Wiederbelebung der Konfrontation beiden Seiten, dem Westen und Russland, in gleicher Weise in die Schuhe zu schieben? Dieser Eindruck wird in dem Text permanent vermittelt. Da ist von Rhetorik der Eskalation beider Seiten die Rede. Haben die Russen mit der Stationierung von neuen Raketen begonnen? Haben sie mit der Manövertätigkeit an der Grenze zum Westen begonnen? Wer hat denn die gepanzerten Fahrzeuge im März 2015 an die russische Grenze geschickt? Wer modernisiert die Atomwaffen, die im deutschen Büchel gelagert sind? Hat Russland von Libyen über Syrien und Irak bis Afghanistan Krieg geführt? Haben die Russen mit der Besetzung der Krim mit dem Ukraine Konflikt begonnen?
Es ist eine wiederkehrende und erkennbare Absicht des Westens, also der USA und der NATO, so zu tun, als sei die neue Eskalation das gemeinsame Werk von West und Ost.
Dabei hat die russische Führung über lange Zeit fast schon bettelnd um die Erhaltung der Verständigung geworben – Putin zum Beispiel im Deutschen Bundestag am 25.9.2001. Das war zweieinhalb Jahre nach dem Jugoslawien Krieg, der auch nach Meinung des mitbeteiligten deutschen Bundeskanzlers Schröder völkerrechtswidrig war und letztlich auch gegen Russland gerichtet war. Und dennoch warb die russische Führung um Frieden und Verständigung.
Kriegsrhetorik gab es vor allem von westlicher Seite und diese Rhetorik bediente sich auch der Methode, die Worte der Vertreter Russlands im Munde herum zu drehen. So geschehen nach der Rede des russischen Ministerpräsidenten in München am 13.2.2016.
Die NachDenkSeiten haben damals beschrieben, wie die Kriegsrhetorik auf unserer Seite läuft: „Wie unsere lieben „Qualitätszeitungen“ Medwedews Münchner Rede in ihr Gegenteil verdrehen“
Die Mitglieder des Willy-Brandt-Kreises müssen ja nicht unbedingt NachDenkSeiten lesen. Aber sie sollten sich wenigstens informieren und das allgemeine Gerede nicht nachplappern. Das nämlich ist wirklich eine Förderung der Eskalationsdynamik.
- Auch die Sanktionen werden dem Westen und Russland in gleicher Weise unterschoben. Wörtlich heißt es: „Vor allem die wechselseitig verhängten Sanktionen belasten das Klima für eine vertrauensfördernde Zusammenarbeit.“
Hier wie auch schon an anderen erwähnten Beispielen verwendet der Willy-Brandt-Kreis die Manipulationsmethode, die Geschichten verkürzt zu erzählen, also alles wegzulassen, was vorher geschehen war und was die Erzählung und die Schuldzuweisung stören könnte. Das gilt für die Bemerkungen zur Ukraine Krise, es gilt für die Bemerkungen zu Syrien.
Diese Manipulationsmethode wird in der aktuellen Debatte ständig angewendet. Man hätte erwarten können, dass der Willy-Brandt-Kreis die Finger davonlässt.
- Wir sind seit 1990 um die Früchte von Willy Brandts und Egon Bahrs Ostpolitik betrogen worden. Wie das geschehen ist, habe ich hier ausführlich belegt. In der Erklärung des Willy-Brandt-Kreises wird mit keiner Silbe auf die Ausdehnung der NATO bis an die russische Grenze und damit auf den Bruch der Verabredungen zwischen den Spitzen unseres Landes und Russlands eingegangen.
- Der Willy-Brandt-Kreis tut so, als hätte diese Zerstörung der verabredeten gemeinsamen Sicherheit in Europa nicht stattgefunden. Der Kreis kommt deshalb zu der Feststellung: „eine umfassende Friedens- und Sicherheitsordnung unter Einbeziehung Russlands muss das oberste Ziel einer verantwortungsvollen Außen- und Sicherheitspolitik sein.“ Das war doch schon das Ziel der Arbeit für die KSZE und OSZE in den siebziger, in den achtziger und neunziger Jahren des letzten Jahrhunderts. Das war doch alles schon geleistet. Es ist beschädigt und zerstört worden. Wenn der Ablauf so war, dann kann man doch nicht so tun, als würde dies alles neu erfunden werden müssen. Wenn man so tut, dann muss man sich fragen lassen, ob man die Zerstörer schützen will.
- Auf die imperialen Absichten der USA und ihre Bedeutung für die neue Eskalation zwischen West und Ost wird mit keiner Silbe eingegangen. Auf die Rolle Brzezinskis nicht, auf Friedman nicht, auf Kagan nicht. Auch die von den USA eingesetzten 5 Milliarden $ zur Destabilisierung des gewählten Präsidenten der Ukraine und die Tätigkeit von Frau Nuland nicht. Kann man einen Text über den neuen Kalten Krieg schreiben, ohne die Absichten und die Tätigkeiten der genannten wichtigen Personen in den USA und der von ihnen mit beeinflussten Führung der USA zu erwähnen? Kann man zu diesem Thema etwas schreiben, ohne die Rolle der Rüstungswirtschaft als Motor der Eskalation zu erkennen und zu beschreiben? Und die Rolle von Herrn und Frau Clinton?
- Das Tollste in dem Text ist damit direkt verbunden: die Rolle der USA wird systematisch klein geschrieben. „Der Auf- und Ausbau der Raketenabwehr im europäischen NATO-Bereich“ heißt es im Text, ohne die Veranlasser, die Akteure, die USA zu nennen. Im Text ist dann von der „Raketenabwehr der NATO“ die Rede. War das die NATO in Brüssel, also einschließlich der Bundesrepublik Deutschland, die diesen Aufbau betrieben hat?
Im Text der Erklärung des Willy-Brandt-Kreises werden die USA an vielen Stellen geschont. Wer hat da wem die Feder geführt?
- An vielen Stellen der Erklärung muss man sich fragen, wie naiv Autoren sein können:
Zum Beispiel glaubt der Kreis, beim Warschauer NATO-Gipfel könnte die deutsche Bundesregierung, namentlich Außenminister Steinmeier, etwas Wesentliches zum Abbau der Konfrontation und gegen das Wettrüsten bewirken. Es ist sogar zu bezweifeln, dass die deutsche Bundesregierung das will. Die Verteidigungsministerin, die Bundeskanzlerin und auch der Außenminister sind bisher damit aufgefallen, dass sie die Beteiligung Deutschlands an militärischen Manövern für richtig halten. Die letzte Äußerung des Außenministers, die anders gelagert war, muss keine Wende darstellen. Sie könnte der besonderen Profilierung gewidmet sein und durchaus abgesprochen sein mit USA und NATO.
Zum Beispiel: Die sogenannten Besorgnisse der baltischen Staaten und Polens, Rumäniens und Bulgariens werden als berechtigt und als nicht hochgespielt und instrumentalisiert dargelegt. Und es wird etwas Gefährliches daraus geschlossen: „Die baltischen Staaten, Polen, Bulgarien und Rumänien müssen sich auf die ihnen gegebenen Sicherheitsgarantien in vollem Umfang verlassen können.“ – So undifferenziert kann man das doch nicht formulieren. Denn damit begibt sich der Westen – und auch Deutschland – auch in die Hände von Abenteurern und in die Hände von politischen Kräften, die noch Rechnungen mit den Russen offen haben oder das nur meinen.
Zum Beispiel: Auch die von den USA vorgeschobene Begründung für die Raketenabwehr, die potentielle Bedrohung durch das iranische Atomprogramm, wird als glaubhaft dargestellt, und dann wird angemerkt, „welches aber mittlerweile als Ergebnis von Verhandlungen suspendiert werden konnte.“ Naiver geht’s kaum.
Zum Beispiel heißt es in Ziffer 5 der Erklärung über die Sanktionen: „Die russische Wirtschaft und damit die russische Bevölkerung dauerhaft zu schädigen ist das Gegenteil einer friedensfördernden Maßnahme; nicht nur aus der deutschen Geschichte wissen wir, dass ökonomische und soziale Verelendung nationalistische Aggressivität befördert. Wirtschaftlicher Austausch war auch in Zeiten des Kalten Krieges ein wichtiges Element wechselseitiger Kenntnis und Kooperation.“ – Das ist eine gute Einsicht. Sie ist richtig. Aber es ist absolut naiv, nicht zu sehen, dass die Schädigung der russischen Wirtschaft und des russischen Volkes die Absicht der Sanktionen war und ist, und dass dies auch der deutschen Bundesregierung und eigentlich auch den Mitgliedern des Willy-Brandt-Kreises nicht hätte verborgen geblieben sein dürfen.
- Von den Mitgliedern des Willy-Brandt-Kreises hätte man erwarten können, dass sie sich daran erinnern, dass an den Sanktionen offensichtlich wird, dass im Westen heute nicht der Geist der Entspannungspolitik herrscht und gilt, sondern jener, der zum Beispiel schon bei Präsident Reagan virulent war. Anders als Brandt, Bahr und vermutlich die Mehrheit des Willy-Brandt-Kreises hat Ronald Reagan den Fall der Mauer und das Ende der Konfrontation nicht auf die Entspannungspolitik und die von Egon Bahr 1963 in Tutzing formulierte Formel „Wandel durch Annäherung“ und die
Vertragspolitik zurückgeführt, sondern darauf, dass der Westen die Sowjetunion wirtschaftlich „tot“ gerüstet hätte.Wenn man die Vergangenheit so sieht, dann liegt es nahe, die gleiche Methode noch einmal auszuprobieren, wenn man auch in Moskau einen Regime Change erreichen will. Der Willy-Brandt-Kreis sieht dies offensichtlich nicht und verkennt dabei eine wirklich große Gefahr, die Gefahr nämlich, dass in Umkehrung der Formel „Wandel durch Annäherung“ demnächst gelten könnte: „Wandel, d.h. Verhärtung in Moskau durch die neue Konfrontation des Westens“ einschließlich der Sanktionen und ihrer Funktion der wirtschaftlichen Zermürbung.
- Der von Egon Bahr mitgegründete Kreis hätte eigentlich die Funktion, genau diese Fehlentwicklung verhindern zu helfen. Dann müsste er aber die Verantwortlichen beim Namen nennen. Dann dürfte man Moskau nicht damit brüskieren, dass man die Eskalation der Konfrontation beiden Seiten zuschiebt, wie das in dem Papier des Willy-Brandt-Kreises geschieht.