Die verdrängten Massenproteste von Paris
Während die Mainstreammedien von der EM berichten, protestierten in den letzten Tagen mehr als zwei Millionen Franzosen auf den Straßen gegen ihre Regierung. Der hauptsächliche Grund für den anhaltenden Protest sind die Arbeitsmarktreformen von Francois Hollandes Regierung, die per Dekret am Parlament vorbei verabschiedet wurden. Der deutsche TV-Zuschauer erfährt davon nur am Rande und stichwortartig; verpackt als Bedrohung, neben Terrorgefahr und Hooligans. Alexander Pohl ist für die NachDenkSeiten vor Ort und versucht zu erklären, was ARD, ZDF und Co. nicht erklären wollen.
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Am Freitagabend strahlte das ZDF nach dem Eröffnungsspiel zwischen Frankreich und Rumänien eine Dokumentation vom Sportreporter Jochen Breyer aus. Die Proteste gegen die neoliberale Agenda der Hollande-Regierung kamen darin erst gar nicht vor. Stattdessen ging es auch um Rassismus. Dass der Rassismus und die Erfolge der Front National in Frankreich auch tiefere Ursachen haben, wurde in der Doku jedoch nicht erwähnt. Den Menschen geht es nicht mehr so gut wie früher. Die Gesamtarbeitslosigkeit ist – genauso wie die Jugendarbeitslosigkeit – sehr hoch. Die Sozialisten haben ihre Wahlversprechen nicht eingehalten. Nun hat Hollande eine radikalere Kopie der Hartz-Gesetze durch den Verfassungsteil 49.3 per Dekret beschlossen. 49.3 erlaubt es dem Präsidenten, Gesetze zu erlassen ohne dass das Parlament darüber abstimmt. Als er noch in der Opposition war, hatte Francois Hollande dies auch heftig kritisiert und abgelehnt. Als Präsident hat er den 49.3 aber schon vier Mal verwendet.
In der Bevölkerung gibt es sehr hohe Ablehnungsraten gegen die „Reformen“. 70-80 Prozent der Bevölkerung lehnen die Loi El Khomri (Arbeitsgesetz) ab. Die deutschen und französischen Mainstreammedien vergessen das häufig und nennen die Streikenden und Protestierenden “eine extremistische Minderheit”, die “das Land erpressen” wolle. Das ist falsch, denn bei der Nuit Debout und bei den Großdemos trifft sich jeder Teil der Gesellschaft. Von der Unterschicht bis hin zu Teilen der Besserverdienenden, die keine weitere Spaltung der Gesellschaft in 99 % gegen 1% haben wollen.
Anfangs wurde der Protest sehr stark von Schülern und Studierenden getragen. Nun ist das Semester aber vorbei und in den Gymnasien Frankreichs steht das Abitur bevor. Trotzdem mobilisiert die Jugend in Frankreich sehr präsent für die Proteste. Im März und April blieben etliche Schulen geschlossen, weil die Jugend rebellierte und diese kurzerhand besetzte. Die Proteste wurden zwar fortgeführt, dies geschah aber ruhiger. Wiederbelebt wurden die Proteste durch die Ankündigung des Premierministers Manuel Valls, das Arbeitsgesetz durch den 49.3 zu beschließen. Das hat die Lage wieder eskalieren lassen und den Protesten neuen Schwung gegeben.
In Paris streikten bisher die Briefträger, die Eisenbahner und einige andere Sektoren. Eine große gemeinsame sektorenübergreifende Diskussion über einen Generalstreik gab es in Paris aber so noch nicht. In der Hafenstadt Le Havre sieht das anders aus. Früh morgens besprechen die Streikenden der verschiedenen Sektoren, wie sie agieren wollen. So können sie effektiver demonstrieren. Das hat dort auch Erfolg gehabt, denn die Stadt gilt nicht umsonst als “Hauptstadt der Bewegung”. In der Arbeiterstadt wird beispielsweise immer wieder eine sehr wichtige Brücke von Lastwagenfahrern blockiert.
Außerdem findet jeden Abend am Place de la Republique Nuit Debout statt. Anfangs versammelten sich dort jeden Abend mehrere Tausende von Menschen. Die Zahlen stagnieren jedoch, denn jeder Abend ist dort gleich und das wird vielen Demonstranten auf Dauer langweilig. Es kann sich auch nicht jeder leisten, jeden Abend bis Mitternacht oder gar später mitten in der Stadt zu verbringen. Nuit Debout lehnt Gewalt strikt ab. Sie diskutieren Methoden, um dies auch bei den großen Demos zu erreichen. Gegengewalt, nachdem man selbst Gewalt erlebt hat, nennen sie “heuchlerisch”, denn Gewalt erzeuge “immer neue Gewalt”. Diese pazifistische Grundhaltung kommt wohl bei der Polizei gut an.
Das Interessante an Nuit Debout sind die Kommissionen. Diese sind teilweise grundverschieden untereinander. Es gibt die klassischen Kommissionen wie Umwelt, Flucht und Migration, SDF (Obdachlose) und viele weitere. Jede Kommission hat ihren eigenen Stand. Dort wird informiert und diskutiert. Jeder kann von diesen Kommissionen dazulernen. So gibt es beispielsweise eine Kommission zu einem Teil Frankreichs, der Mayotte heißt. Dort kann man ohne Pass hinfliegen, obwohl Mayotte mitten im Indischen Ozean liegt. Dieses französische Territorium ist der französischen “Imperialistenregierung” egal. Sie sollte dort eigentlich für Recht und Ordnung sorgen. Was dort unten gerade abläuft, kümmert Francois Hollande jedoch kein bisschen. Auch nicht, wenn man ihn darauf hinweist, dass in Mayotte ein ethnischer Konflikt nach dem Muster des Konflikts in Ruanda am Laufen ist. Die Weltöffentlichkeit verschließt die Augen und es gab auch in Deutschland keinen einzigen Bericht über den Zustand in Mayotte. Bei der Nuit Debout ist dies anders. Nuit Debout ist mehr als „nur“ ein Protest gegen die Arbeitsgesetze.
Auch bei der Commission France-Afrique, wo es ständig ein offenes Mikro gibt, wird Mayotte als eines der zentralen Themen behandelt. Bei der Commission France-Afrique geht es um die Probleme, die der immer noch anhaltende französische Imperialismus im eigentlich reichsten Kontinent der Welt verursacht. Diese Kommission befasst sich mit allerlei Themen. Von der Geschichte bis zur Gegenwart. Ein sehr informierter Franzose mit afrikanischen Wurzeln leitet die Kommission und führt die Teilnehmer durch den Abend. Es wird beispielsweise über die Rolle der Afrikaner beim Widerstandskampf gegen die Nazis aufgeklärt. Die Besatzung wäre nicht gebrochen worden, wenn die Afrikaner nicht so mutig gewesen wären und für Frankreich gekämpft hätten. Ein anderes Thema dort ist auch der jüngere französische Imperialismus. So wird dort beispielsweise auch das immer noch sehr aktuelle Thema „Libyen“ rege besprochen, in das die französische Politik massiv verstrickt ist.
Bei Nuit Debout werden auch zahlreiche Spenden für die wenigen Flüchtlinge, die in Frankreich aufgenommen werden, angenommen. Bei den Protesten hat man im Allgemeinen ein schlechtes Bild von Angela Merkel, lobt sie aber für ihr „Wir schaffen das“. Viele Teilnehmer sind jedoch auch von der anfänglichen Euphorie in Deutschland geblendet und haben noch die anfängliche Willkommensstimmung der deutschen Bundesregierung im Kopf.
Anfangs soll auch die extreme Rechte versucht haben, bei Nuit Debout Fuß zu fassen. Das ist ihr nicht gelungen, denn die „Aufrechten der Nacht“ sind radikal weltoffen und solidarisch. Da ist kein Platz für Fremdenfeindlichkeit. Die meisten Teilnehmer gehören der Generation an, die noch nie eine große Massenbewegung miterlebt hat. In Frankreich sind Massenbewegungen keine Seltenheit, wenn man an den Mai 1968 zurückdenkt oder an das Jahr 1995. Bedingt durch das Alter und die Euphorie ist der große Teil der Teilnehmer jedoch auch sehr naiv. Das birgt die Gefahr der Unterwanderung von Geheimdiensten oder anderen Gruppen.
Am Freitag wurde nun die EM eröffnet und wird, wie zu erwarten, für lange Zeit das einzige Thema in den Nachrichten sein. Am Samstagabend kam es zu Randalen zwischen Hooligans und die Polizei tat das, was sie in letzter Zeit sehr häufig tut. Sie verschoss Tränengasgranaten. Die UEFA droht jetzt England und vor allem Russland mit dem EM-Aus. Das sind die Topthemen in unseren Nachrichtensendungen. Das am Dienstag zwei Millionen Menschen bei den Demonstrationen gegen die Arbeitsmarktreformen auf der Straße waren, wird in den Medien noch nicht einmal in einem Nebensatz erwähnt. Man besänftigt den „Pöbel“ lieber damit, dass ein Paar Männer einem Ball hinterherlaufen. Das ganze Land ist im Fußballfieber und wer da stört, wird zum „Chaoten“ oder Schlimmerem erklärt. So titelte die Bild zu den Protesten: “Mon Dieu! Versauen die uns die EM?”
Versauen die uns die EM?
Die Sorgen der deutschen Leitmedien.
Denken wohl die Franzosen protestieren aus Langeweile. pic.twitter.com/qLnRmZAZJv— Résistance (@FrankreichNews) 23. Mai 2016
Das ist nicht weit vom Kommentar von Nikolaus Piper in der SZ. Dort sprach er den Menschen in Frankreich das Recht ab zu streiken.
Wenn die Mainstreammedien wieder einen Funken Anstand beweisen wollen, dann werden sie von den Protesten berichten müssen. Vergessen dürfen sie dann aber auch nicht die andauernde Polizeigewalt, wegen der ein Mann in Lebensgefahr schwebt.