„Die normalen Leute sind okay“

Ein Artikel von Jens Wernicke
Prinz Chaos II.

Viele kritische Analysen sind zwar korrekt, verbreiten aber doch in aller Regel nur eine Mischung aus Rationalisierung und Resignation. Was aber tun? Kann man überhaupt noch etwas tun? Und wie „rechts“ ist eigentlich der viel zitierte „kleine Mann“? Zu diesen Fragen sprach Jens Wernicke mit dem Künstler und Liedermacher Prinz Chaos II., auf dessen Thüringer Schloss morgen das „Paradiesvogelfest“ starten wird.

Dieser Beitrag ist auch als Audio-Podcast verfügbar.

Eure Majestät, für den 26. bis 29 Mai laden Sie zum „Paradiesvogelfest“ auf Schloss Weitersroda in Hildburghausen ein. Auf der Gästeliste steht eine ziemlich beeindruckende Anzahl deutschsprachiger Liedermacher; Keimzeit, Götz Widmann, Cynthia Nickschas und Felix Meyer sind, um nur einige zu nennen, mit von der Partie. Warum dieses Festival; was versprechen Sie sich hiervon? Ich meine: Im Osten, so vernehmen wir es doch täglich in den Medien, gibt es doch eigentlich eh nur Nazis, da hat man es nicht so mit linker Kultur …

Der Osten ist extrem polarisiert. Und er hat eventuell sogar mehr mit Kultur am Hut als der Westen, zumindest mit einer Kultur, die noch eine Botschaft und gesellschaftlichen Anspruch hat. Und damit meine ich jetzt nicht die Semperoper und das Gewandhaus. Die Festivalszene spricht hier eine deutliche Sprache. Die Fusion etwa, das vielleicht weltweit bedeutendste alternative Festival, steigt in Mecklenburg-Vorpommern. Im thüringischen Rudolstadt gibt es ein Folkfestival mit 80.000 Besuchern usw. usf. Und diese, wie auch vergleichbare Festivals sind klar antifaschistisch orientiert.

Speziell die Liedermacherei und das Kabarett haben in der Ex-DDR eine sehr starke Basis. Liedermacher wie Gerhard Gundermann haben in der Identitätskrise nach 1989 eine große Rolle gespielt. Und gerade in Thüringen hat das gemeinsame Singen nach wie vor eine starke Verankerung. Alleine im Sängerkreis Hildburghausen gibt es 36 Chöre. Das ist enorm! Und zu Volker Pispers kommen in Leipzig 5.000 Leute. Ein Kollege von mir, Roger Stein, sagt immer: „Im Westen wollen die Leute unterhalten werden, im Osten hören sie Dir zu!“

Dennoch lautet eine der Erzählungen in Radio und TV, aufgrund der „Diktaturerfahrenheit und -affinität“ der Ostdeutschen sei der Faschismus dort hoffähiger als andernorts. Und überhaupt wird die Gefahr durch reaktionäre oder faschistische Kräfte massenmedial entweder gen Osten oder den Subalternen delegiert. Der „kleine Mann“ im Osten scheint so mehr oder minder die größte Gefahr für den demokratischen Zusammenhalt in unserem Land… 

Dass an den starken Strukturen des Neofaschismus in den neuen Ländern auch im Jahre 2016 immer einzig und allein die DDR schuld sein soll, finde ich nicht überzeugend. Es wäre andererseits albern, die spezielle Gefahr von rechts in den neuen Ländern herunterzuspielen. Natürlich hat das auch historische Gründe. Es gibt ganz zweifellos eine stärkere Verankerung autoritären und dezidiert rechtsextremen Gedankenguts in der ehemaligen DDR – und eine andere Homogenität der Mehrheitsgesellschaft.

Die Gründe sind vielfältig. Die Geschichte der Einwanderung ist hier eine völlig andere. Das entscheidende ideologische Reservoir des Neofaschismus ist gleichzeitig eindeutig der Rassismus. Als die Mauer fiel, war die Linke in einer welthistorischen Krise. Ihr Symbolsystem und ihre Sprache waren diskreditiert. Währenddessen sind die Nazis aus dem Westen quasi sofort im Osten aktiv geworden. Nach allem, was wir inzwischen über den NSU-Verfassungsschutz-Komplex wissen – und vor allem auch: nicht wissen sollen! -, erscheint die einst oft zu hörende Vermutung, die Dienste hätten beim Aufbau rechtsextremer Strukturen maßgeblich mitgeholfen, nicht mehr absurd. Ich denke, man wollte das progressive Erbe der friedlichen Revolution möglichst klein halten, einen starken Gegenpol zur demokratischen Massenbewegung etablieren und vor allem Sachsen, die historische Wiege der deutschen Arbeiterbewegung, stabil nach rechts entwickeln. Das ist auf eine grauenvolle Weise gelungen.

Bei uns, in Thüringen, ist die Lage dagegen offener. Wir haben Björn Höcke, eine starke AFD, ein rechtsaffines Bürgertum und in der Breite mitunter sehr starke und militante Nazistrukturen. Aber wir haben auch eine Rot-Rot-Grüne Landesregierung, eine handlungsfähige, demokratische Zivilgesellschaft, vergleichsweise rührig-kämpferische Gewerkschaften und eine gut verankerte Alternativkultur.

Sie sehen also sozusagen „beides“: Einen Trend nach rechts, den man nicht nur am Osten festmachen sollte, und einen nach Links – gen Zivilgesellschaft und Humanität? Verstehe ich recht?

Es ist noch nicht ein eindeutiges Entweder-Oder. Die Lager sind, von ihren Kernen abgesehen, nicht klinisch separiert. Wie überall, erleben wir ein ideologisches Durcheinander. Aber durch den Druck der extremen Rechten klärt sich auch vieles. Auch die davon abgestoßene Menge wird kompakter, klarer. Und hier finden spannende Prozesse statt. Wir brauchen noch etwas Zeit. Die Nazis haben 15 Jahre Vorsprung. Es gibt aber einen ermutigenden Trend.

Und an was machen Sie diesen medial eher unthematisierten „Trend zum Besseren“, den Sie auch erleben, denn genau fest? Um was geht es da genau?

Ein Beispiel: Derzeit möchte die muslimische Ahmadiyya-Gemeinde eine Moschee in Erfurt bauen. Die Ahmadiyya ist eine sehr liberale Variante des Islam, deren Motto lautet „Liebe für alle – Hass für keinen!“. Und das bezieht sich bei der Ahmadiyya auch auf Schwule und Lesben. Natürlich flippt die AFD trotzdem komplett aus. Eine Moschee in Erfurt? Skandal, Untergang des Abendlandes!

Und dann gibt es in Thüringen aber auch noch das „Bündnis für Mitmenschlichkeit“. Hier sind mehr als 250 Organisationen zusammengeschlossen, von den Wohlfahrtsverbänden, den Kirchen, der jüdischen Landesgemeinde, dem Landessportbund und dem LSVD bis hin zum Feuerwehrverband. Und dieses Bündnis springt der muslimischen Gemeinde in einer Weise solidarisch zur Seite, das ist sensationell. Die Kirchen sagen: die Ahmadiyya-Gemeinde ist völlig in Ordnung, wir freuen uns auf diese Moschee! Die jüdische Gemeinde stellt sich hinter das Projekt. Hier sehen wir die demokratische Zivilgesellschaft in Aktion. Im Kontrast zum „tiefen Staat“ würde ich hier von der „tiefen Demokratie“ sprechen, die da zu beobachten ist.

Die sehen Sie in Thüringen am Werk?

Thüringen ist nicht Sachsen, soviel steht fest. Ich persönlich bin in der Tat der Auffassung, dass wir hier ein bundesweit sehr interessantes Modell für eine progressive Antwort auf die gesellschaftliche Krise etablieren können, wenn wir konsequent weiter an unseren Strukturen arbeiten, also eine Alternative aufbauen.

Und das kann man, sozusagen, leider von den Nazis lernen. Die haben ihre Szene über 20, 30 Jahre aufgebaut. Die waren da sehr beharrlich und haben sich immer weiter verankert. Das müssen wir auch machen. Und dort, wo das passiert, gibt es auch klare Erfolge.

Es geht also um … die Etablierung von „Alternativen“ im Kleinen; um eine Art humanistische Gegenkultur und die Arbeit an einer „kulturellen Hegemonie“ von Links?

Ich baue nicht an meinem Schlossprojekt, in dem derzeit 14 Leute wohnen, und sage mir jeden Tag: „Hoho, kulturelle Hegemonie!“ Es geht um sehr alltägliche Prozesse, um Austauschbewegungen, um Partnerschaften, Freundschaften, um freie Vereinbarung und freie Kooperation. Und ich betreibe das hier seit acht Jahren.

Es gibt Bündnispartner und befreundete Projekte. Die Nazis haben freilich auch Bündnispartner und befreundete Projekte. Also geht es am Ende sehr simpel darum, wer mehr Menschen anzieht, wer den größeren Magnetismus entwickelt. Das ist nicht nur eine Frage der Zahlen. Die Moral der Nazis ist unglaublich hoch. Die Gegenseite jammert und winselt mitunter geradezu. Wir lernen aber, in unserem kleinen Dorf mit 325 Einwohnern, mit den ganz normalen Leuten zu reden. Mit denen, die angeblich die Basis des Neofaschismus sind. Meine Meinung ist: die normalen Leute sind in aller Regel ziemlich okay. Der Faschismus kommt von oben.

Und wie wirken sich aktuell die Flüchtlinge aus, die es ja sicher auch in Südthüringen gibt? Wie reagieren die Leute vor Ort?

Anfänglich herrschte die blanke Panik. Einige schienen täglich darauf zu warten, dass sie vergewaltigt, ausgeraubt und ihre Dörfer gebrandschatzt werden. Diese Mischung aus Angst und Hass war so furchteinflößend wie bemerkenswert.

Aber auch hier wirkt der Faktor Zeit, und ist die Gewöhnung des Menschen an die ihn umgebenden Umstände kaum zu verhindern. Nehmen wir die Gemeinde Masserberg, oben im Thüringer Wald. 900 Einwohner: dann wurde ein leerstehendes Hotel zur Gemeinschaftsunterkunft umgebaut. Jetzt wohnen dort 1.100 Leute. 900 Einwohner, 200 Flüchtlinge: das ist in der Tat eine dramatische Veränderung!

Die erste Bürgerversammlung war katastrophal. Und man muss sagen, dass der CDU-Landrat Thomas Müller sich bravourös geschlagen und mit seinem christlichen Weltbild dem aufkommenden Rassismus gut Paroli geboten hat. Dann kamen die ersten beiden Busse an. Anstatt der erwarteten, kampfbereiten Terroreinheiten stiegen erst einmal 30, 40 Kinder aus dem Bus. Das hat die Stimmung schlagartig verändert und es ist eine Welle der Hilfsbereitschaft entstanden. Derzeit ist die Lage in Messerberg ziemlich okay. Ein kurdischer Imbissbesitzer hat nun mitten in Hildburghausen ein Gebäude gekauft. Es ist das zweite in kurdischem Besitz. Er eröffnet dort nun eine Shisha-Bar. Auch in den Kindergärten gibt es neue Kinder in den Gruppen. Die sind einfach Kinder unter Kindern.

Wir haben hier auf Schloss Weitersroda ein Projekt gestartet mit dem Schullandheim in Heubach, im Thüringer Wald. Wir hatten eine Party mit 65 und eine gemeinsame Wanderung mit 125 Refugees. Wir haben jeden Mittwoch eine Trommelsession. Und haben bereits zehn Ausbildungsplätze für jugendliche Flüchtlinge in Aussicht. Ich bin gespannt, wie das weitergeht, aber die Lage ist offen in alle Richtungen. Das wächst eventuell zusammen, wenn eine kritische Menge positiver Erfahrungen und echter Kontakte etabliert wird.

Der „rechten Gefahr“, wie sie grad allerorten verkündet wird, ist Ihrer Meinung nach aktuell also wie am besten zu begegnen? Was konkret kann und sollte jeder von uns Ihrer Einschätzung nach aktuell am sinnvollsten tun?

Schluss mit dem Gewinsel! Rein in konkrete Projekte und eine echte Praxis mit und für echte Menschen. Die Moral der Truppen auf unserer Seite ist teilweise eine richtiggehende Peinlichkeit. Und ehrlich: ich vermisse auch bei den NachDenkSeiten oder bei KenFM, dass mal das Brennglas auf die Projekte gelegt wird, die funktionieren. Best practice! Auswerten, was funktioniert! Hinein, in das Klein-Klein der Prozesse. Mich interessieren Techniken des Siegens. Nicht, wie wir auf hohem moralischen Niveau formschön verlieren können.

Und Schluss mit dem internen Mobbing! Es gibt hier eine neue Organisation, die nennt sich: SOLIBRI – Solidarität bringt’s! Die haben als Debüt ein sehr aufwändiges Open Air gemacht und aus verschiedenen Gründen haben sie ein Defizit erwirtschaftet. Ehrlich gesagt, habe ich mich aus dem Projekt rausgezogen, obwohl ich den Organisationsprozess selbst angestoßen hatte. Aber dann wurde ich wegen meiner Kooperation mit Ken Jebsen als problematisch gesehen.

Das ist dann okay, ich habe auch so genug zu tun. Und beim Paradiesvogelfest wird es zwei Spendensammlungen geben für den SOLIBRI. Ich sage mir: Ihr könnt nicht verhindern, dass ich mit Euch solidarisch bin! Und es sind auch wirklich gute Leute, ich möchte, dass es weitergeht. Und wir dürfen nicht so kleinkariert sein, ich auch nicht. Es gibt halt mal Differenzen. Deswegen sollte nicht immer gleich alles in Bausch und Bogen verdammt und die Solidarität aufgekündigt werden.

Noch ein letztes Wort?

Ja.

Ich bedanke mich für das Gespräch und wünsche ein gutes und vor allem gut besuchtes Festival.


Weitere Veröffentlichungen von Jens Wernicke finden Sie auf seiner Homepage jenswernicke.de. Dort können Sie auch eine automatische E-Mail-Benachrichtigung über neue Texte bestellen.

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