Zu 100-Jahren-Sykes-Picot-Abkommen ein Essay von Heiko Flottau. Keine Geschichtsstunde, Anmerkungen zu einer Region voller Konflikte.
Vor 100 Jahren haben Briten und Franzosen ein Abkommen über die Aufteilung des Osmanischen Reiches geschlossen. Heiko Flottau skizziert und bewertet die Folgen. Er kennt sich in der Region aus. Von 1985 bis 1992 und von 1996 bis 2004 war er Nahostkorrespondent der Süddeutschen Zeitung, mit Sitz in Kairo, von 2005 bis 2009 freier Journalist in Kairo.
Heiko Flottau zum 100-jährigen des Sykes-Picot-Abkommens
Es ist nicht bekannt, ob dieser 16.Mai 2016 in den Außenministerien von London und Paris mit Freude, mit Genugtuung, mit Vergessen oder gar mit ein wenig Selbstkritik begangen wird. Denn vor 100 Jahren, am 16.Mai 1916 (andere Quellen geben den 11.Mai 1916 an) schlossen der britische Diplomat Mark Sykes und sein französischer Kollege Francois Georges Picot ein Abkommen über die Aufteilung des Osmanischen Reiches nach dessen erwarteter Niederlage im ersten Weltkrieg.
Jeder Araber, der ein wenig historische Kenntnisse besitzt, fühlt sich noch 100 Jahre danach vom Westen verraten. Denn weniger als ein halbes Jahr zuvor, am 30.Januar 1916, hatte der britische Hochkommissar in Kairo, Sir Henry McMahon in seinem vierten und letzten Schreiben an den Sherifen Hussein, den Herrscher von Mekka, angedeutet, Groß Britannien könne sich sehr wohl vorstellen, daß die Araber nach dem Sieg über die Osmanen einen Staat oder einen Staatenbund gründen könnten, der, mit einigen territorialen Ausnahmen, vom heutigen Saudi Arabien bis an die Grenze der heutigen Türkei reichen würde.
Was aber die Herren Mark Sykes und Francois Georges Picot unter der Einbeziehung des im Weltkrieg um seine Existenz kämpfenden russischen Zarenreiches beschlossen, war das genaue Gegenteil von dem was Sir Henry MacMahon in Aussicht gestellt hatte: die Aufteilung der osmanischen Beute unter, hauptsächlich, Groß Britannien und Frankreich.
Danach kamen das heutige Syrien und der heutige Libanon unter französischen Einfluß – unter französisches Mandat -, wie es im 1920 gegründeten Völkerbund hieß – das heutige Jordanien, der Irak und Palästina (heute Israel) unter britisches Mandat. Von einem selbstständigen arabischen Königreich, wie von Sir Henry McMahon angedeutet, war nicht mehr die Rede. Verrat riefen die Araber, nachdem die neue bolschewistische Führung 1917 das Geheimabkommen veröffentlicht hatte, Verrat rufen noch viele Araber heute.
Eine große deutsche Tageszeitung schrieb vor kurzem, das Sykes-Picot Abkommen habe über ein Jahrhundert eine stabile Ordnung geschaffen (die allerdings heute gefährdet sei) – und außer der Besetzung des Iraks im Jahre 2003 durch George W. Bush hätten die USA im Nahen Osten eigentlich nicht interveniert. Das ist zwar richtig, wohl aber haben die kolonialen Vorläufer der USA in der Region, Groß-Britannien und Frankreich, eine Kontinuität von Interventionen geschaffen, in welche sich der Krieg, den George W, Bush 2003 gegen den Irak anzettelte, mühelos einfügt.
Zunächst einmal hatte das von Sykes-Picot getroffene Abkommen durchaus seine Vorgeschichte. 1881 etwa hatten sich die Briten in Ägypten festgesetzt. So betrachtet war das für die Araber fatale Abkommen lediglich eine Fortsetzung europäischer Kolonialpolitik im Nahen Osten. Und es war der Anfang einer ganzen Reihe von westlichen Interventionen in der Region, von denen der Krieg, den George W. Bush im Jahre 2003 gegen Saddam Hussein führte, der bisher letzte, außerordentlich tragische Höhepunkt war.
Es begann gleich ein Jahr nach Sykes-Picot, als die Briten nach der Eroberung Bagdads 1917 versuchten, aus den in der Region ansässigen arabischen Schiiten, arabischen Sunniten und Kurden einen Staat namens Irak zu gründen. Der in Bagdad stationierte britische Zivilverwalter Arnold Wilson kabelte nach London, diese Pläne seien ein „Rezept für Desaster“. Später schrieb er, daß fast zwei Millionen schiitische Muslime nicht bereit seien, die Vorherrschaft der sunnitischen Minderheit hinzunehmen. Und ein amerikanischer Missionar schrieb an die mit der britischen Besatzungsmacht kooperierende, seinerzeit in Bagdad ansässige Forschungsreisende und Abenteurerin Gertrude Bell, sie stelle sich „gegen 4000 Jahre Geschichte“, wenn sie versuche, „um den Irak eine Linie zu ziehen und das Ganze dann eine politische Einheit zu nennen“.
Die Konflikte ließen denn auch nicht auf sich warten. 1920 rebellierten die Kurden im Norden gegen die Briten, diese schlugen den Aufstand nieder – auch mit Giftgas. In Syrien schufen die Franzosen fünf Einzelstaaten (zusammen mit dem Libanon waren es sogar sechs), 1920 rebellierten zunächst die Drusen, dann auch andere religiöse und ethnische Gruppen gegen die Franzosen. Nach der Niederlage Frankreichs gegen Hitlerdeutschland kam Syrien 1940 sogar unter die Herrschaft des Vichy-Regimes General Petains. Erst 1944 wurde Syrien unabhängig.
In Palästina, dem heutigen Israel, erhoben sich die palästinensischen Araber von 1936 bis 1939 gegen die britische Mandats- und Besatzungsmacht und gegen die gewaltsame jüdische Kolonisation. Die Briten schlugen den Aufstand nieder, 5000 Palästinenser waren tot, 10 000 verletzt. Die Juden beklagten 463 Tote, die Briten 101.
Die bedeutendste – und folgenschwerste – Intervention des Westens war die Unterstützung der militanten Zionisten, deren Kampf gegen die einheimischen Palästinenser letztlich zur Gründung Israels führte. Natürlich hatte das jüdische Volk nach der jahrhundertelangen Verfolgung in Europa und nach dem Holocaust das Recht auf eine sichere Existenz. Doch der von den Zionisten in Palästina angestrebte Staat wurde gegen den Willen der einheimischen Palästinenser gegründet. Dabei gab es durchaus warnende Stimmen – etwa jene von Hannah Arendt, welche zwar für die Gründung eines jüdischen Staates in Palästina eintrat, aber gleichzeitig warnte, dieser Staat dürfe nicht gegen den Willen der Einheimischen aufgebaut werden – andernfalls sich Israel stets wie in einer belagerten Wagenburg fühlen werde. Eine Prophezeiung, die, wie die Gegenwart zeigt, zu einhundert Prozent wahr geworden ist.
Viele Kriege waren die Folge dieser westlichen Intervention – denn daß die Araber die Gründung eines fremden Staates auf ureigenem Boden nicht ohne Widerstand hinnehmen würden, mußte allen Beteiligten klar gewesen sein. So kam es 1948/49 zum Krieg zwischen Palästinensern und Israelis (von Israel „Befreiungskrieg“ genannt), 1967 zum Sechs Tage Krieg, in dem Israel das Westjordanland eroberte und – 2017 werden es 50 Jahre – seitdem dort ein rigoroses Besatzungsregime unterhält. 1973 überschritten ägyptische Truppen den Suezkanal, um die 1967 verlorene Sinaihalbinsel zurück zu erobern, 1982 drang Israel in den Libanon ein, um die dort ansässige PLO Jassir Arafats zu vertreiben. Zuvor, 1970, hatte König Hussein Arafats Truppen aus Amman vertrieben, wo sich Arafat mit seinem Stab festgesetzt hatte und eine Art Staat im Staat etabliert hatte. Überhaupt waren die Gründung der „Palästinensischen Befreiungsorganisation“ (PLO) und später die Etablierung der „Islamischen Widerstandsorganisation“ (Hamas) direkte Folgen des gegen den Willen der Palästinenser gegründeten Israel. Dass Israel die, aus seiner Sicht, Gunst der Stunde 1948/49 nutzte und Hunderttausende von Arabern vertrieb, ist genügend dokumentiert worden, aber noch immer nicht in das Bewußtsein des Westens eingedrungen. (Siehe auch NachDenkSeiten vom 3.Mai 2016).
Auch außerhalb Palästinas kam es zu westlichen Interventionen, die fatale Folgen für die Geschichte der Region haben sollten. Etwa 1953. Im Jahre 1951 hatte der iranische Premier Mohammed Mossadeq die Ölindustrie des Landes verstaatlicht und so britischem Zugriff entzogen. Die Briten hatten Anfang des Jahrhunderts die Ölquellen um die Stadt Abadan requiriert und ausgebeutet, indem sie das iranische Öl zu Schleuderpreisen nach England exportierten. Diese Ausbeutung war um so wichtiger für die Seefahrtsmacht Groß-Britannien, als diese im ersten Weltkrieg ihre Kriegsflotte mit Hilfe des iranischen Öls von Kohle auf Öl umstellen konnte.
Freilich, Briten und Amerikaner ließen sich die Enteignung durch Mossadeq nicht gefallen, In Zeiten des Kalten Krieges wurde der iranische Premier als Kommunist verunglimpft und es war ein Mann namens H. Norman Schwartzkopf , Vater jenes Generals, der 1991 Sadddam Husseins Truppen aus Kuwait vertrieb, der 1953 zusammen mit dem CIA-Agenten Kermit Roosevelt den Putsch gegen den aufsässigen Premier Mossadeq plante, diesen absetzte und den Schah wieder in sein Amt einsetzte. Südafrikas Freiheitsheld Nelson Mandela sagte später, die Vertreibung Premier Mossadeqs durch den Westen habe konsequenterweise 1979 zum Sturz des Schahs und zur Machtübernahme von Ayatollah Chomeini geführt. Der Sturz von Mohammed Mossadeq ist bis heute ein Trauma für die Menschen der Region – Iraner wie Araber gleichermaßen – vergleichbar mit dem Abkommen Sykes-Picot von 1916.
Kaum hatte sich Ayatollah Chomeini an der Macht etabliert, überfiel der große Konkurrent, Saddam Hussein, am 22.Sepember 1980 den iranischen Nachbarn. Der blutige Krieg dauerte acht Jahre. Gewiß, der Westen hatte den Krieg wohl nicht unmittelbar angezettelt. Aber daß sich die beiden Öl-Supermächte am Golf neutralisierten, war ihm durchaus recht. Mal unterstützten die USA die Iraner, mal die Iraker – je nach Kriegslage. Insgesamt etwa eine Million Tote fielen da nicht weiter ins Gewicht. Es ging um Öl und um die Herrschaft über die Ölquellen. Ein westlicher Ölhändler sagte damals: „Wir starteten den iranisch-irakischen Krieg, und ich sage, wir begannen ihn, weil ein Land benutzt werden musste, um das andere zu zerstören.“ Am Ende, nach acht Jahren, lagen beide Kontrahenten am Boden, der Westen hatte sein Ziel erreicht: niemand, weder der Iran, noch der Irak hatte sich als alleiniger Herrscher über die Ölquellen etablieren können.
Und dann der Krieg von 1991, die Vertreibung des Irak aus dem zuvor durch Saddam Huseins Truppen eroberten Kuwait. Sicher, es gab ein Mandat des UN-Sicherheitsrates, das der von den USA geführten Koalition diesen Krieg gegen den Irak erlaubte. Vordergründig also ein völkerrechtskonformer Krieg. Aber auch eine völkerrechtskonforme Kriegführung?. Wochenlang führte H. Norman Schwartzkopf junior einen Bombenkrieg gegen das Land – angeblich um im Voraus irakische Nachschubwege und die militärische Infrastruktur des Landes zu zerstören. Aber mußten dazu – zum Beispiel – auch Brücken im mehr als 600 Kilometer nördlich des Kriegsschauplatzes gelegenen Bagdad bombardiert werden?
Erst nachdem sich der Kriegslärm gelegt hatte, wurde klar: Ziel der amerikanischen Bombenkampagne war es auch gewesen, so viel von der zivilen irakischen Infrastruktur zu zerstören, daß sich dieses in vielen Aspekten hoch entwickelte arabische Land so schnell von den Kriegsschäden nicht werde erholen können. Gewünschter Effekt: ein arabischer Hauptgegner Israels war auf lange Zeit ausgeschaltet.
Und schließlich der fatale März des Jahres 2003. Zwölf Jahre zuvor hatte H. Norman Schwartzkopf junior seinen Präsidenten, George Bush davon zu überzeugen versucht, gleich bis Bagdad durchmarschieren zu dürfen und mit Saddam Hussein Schluß zu machen – ein für allemal. Doch Vater Bush sah voraus, was eine solche, im Übrigen vom UN-Sicherheitsrat nicht gedeckte Intervention, hervorrufen würde: Chaos im Land. Sohn George scherte die Vernunft des Vaters wenig. Mit einer Lügenkampagne sondergleichen bereitete er seine Mission „Regime Change“ im Irak vor: Saddam Hussein horte Massenvernichtungswaffen, Saddam Hussein habe versucht, in Westafrika Uran zu besorgen, auf Bagdads Straßen marodierten Al-Qaida Banden – ein besonders absurder Vorwurf, denn kein Despot vom Schlage Saddam Husseins würde jemals militärische oder politische Konkurrenz im Lande zulassen.
Die USA obsiegten militärisch – und fuhren das Land politisch ins Chaos. Zivilverwalter Paul Bremer löste die staatstragende Baathpartei und die Armee auf – Tausende Funktionäre und Offiziere verloren ihre Jobs, das Vakuum nutzten Terrororganisationen wie „Al Qaida in Mesopotamien“ und der wie aus dem Nichts entstandene „Islamische Staat in der Levante“ (ISIL). Das Chaos war perfekt. Es dehnte sich auf Syrien aus, wo George W. Bush nur deshalb von einem weiteren Versuch eines „Regime Change“ abgesehen hatte, weil er schon das von ihm im Irak angerichtete Chaos nicht beherrschen konnte. Fazit: der von den USA geführte Irakkrieg von 2003 war die bisher letzte große Intervention des Westens seit Sykes-Picot. Im Westen mag diese fatale Kontinuität nicht gesehen werden, in der arabischen Welt aber ist sie vielen Menschen durchaus im Bewußtsein.
Das Thema westlicher Interventionen im Nahen Osten füllt Bücher. Dieser Text ist nur ein grober Überblick. Bleibt die, eigentlich unhistorische, Frage: was wäre in der Region geschehen, hätte es Sykes-Picot und die Folgeinterventionen nicht gegeben? Ein friedliches Arabien etwa? Arabische Gesellschaften sind bis heute überwiegend Clan- und Stammesgesellschaften. Konflikte gibt es dort ursprünglich nicht unter Nationalstaaten, sondern unter Stämmen, Clans, Großfamilien. Zu erwarten, der Nahe Osten wäre ohne westlichen Einfluß ein weitgehend friedliches Gebilde geworden, ist also eine eher illusionäre Vorstellung. Und: der allmählich nach 1916, nach Sykes-Picot entdeckte Ölreichtum der Region hätte zweifellos Interventionen aller möglicher Staaten hervorgerufen. Auf einen, sozusagen, ewigen Frieden in der Region hätte man demnach nicht hoffen dürfen.
Schließlich: so schlecht Sykes-Picot für die Entwicklung Arabiens gewesen sein mag, so barg es dennoch einige Chancen – etwa den allmählichen Aufbau demokratischer Strukturen in den neuen Staatsgebilden. Doch die arabischen Herrscher der vom Westen geschaffenen Nationalstaaten waren niemals in der Lage, wirklich ihren Völkern zu dienen. Eigener Machterhalt war stets Ziel Nummer Eins der jeweiligen Machthaber. Arabische Solidarität – etwa gegen die von Sykes-Picot geschaffene Ordnung – hat es nie gegeben. Die Könige und Präsidenten richteten sich in den ihnen vom Westen zugewiesenen neuen Nationalstaaten ein und machten das Beste aus dieser Lage – vornehmlich für sich selbst. Ja, der Westen hat in fataler Weise seit 1916 in der Region interveniert. Aber arabische Solidarität gegen dieses territoriale Diktat hat es nie gegeben. Daher haben die Klagen gegen Sykes-Picot, soweit sie von den jeweiligen herrschenden Eliten kommen, stets einen faden politischen Beigeschmack.