Beate Zschäpes Flucht und die Beseitigung ‚elektronischer’ Zeugen
Ab dem 30. März 2016 strahlt das ARD die Spielfilmtriologie „Mitten in Deutschland: NSU“ aus, die als Spurensuche angekündigt wird. Dass es im NSU-Kontext nicht an Spuren mangelt, sondern an der Weigerung, ihnen nachzugehen, zeichnet folgender Beitrag von Wolf Wetzel [*] nach.
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Wie die beiden NSU-Mitglieder Uwe Böhnhardt und Uwe Mundlos am 4. November 2011 zu Tode gekommen sein sollen, wissen wir. Zumindest gibt es dafür eine offizielle Selbstmordversion. Ziemlich rätselhaft ist hingegen, was Beate Zschäpe in dieser Zeit getan, was sie in den folgenden vier Tagen gemacht hatte, bevor sie sich im Beisein eines Rechtsanwaltes der Polizei stellte. Ganz offensichtlich muss sie vom Tod ihrer „Kameraden“ erfahren haben. Aber wer hat sie informiert? Mit wem hatte sie telefoniert, mit wem telefonischen Kontakt während der vier „Flucht“tage?
Man muss kein Kriminalist sein, um festzuhalten, dass das Handy, das Beate Zschäpe benutzt hatte, eine hervorragende „Quelle“ wäre, um diese Tage zu rekonstruieren. Eine elektronische Quelle, die ohne Verdrängung und spontanen Erinnerungslücken vieles enträtseln könnte – wenn man die Kommunikationsdaten sicherstellt und auswertet. Angesichts der Dimension dieses Vorganges eine Selbstverständlichkeit, eine Routinearbeit polizeilicher Ermittlungen. Vor allem dann, wenn man „Spekulationen“ und „Verdächtigungen“ ausräumen will, die der Möglichkeit nachgehen, dass die NSU-Mitglieder in Zwickau unter geheimdienstlicher Beobachtung standen, was in aller letzter Konsequenz bedeuten würde, dass man sehr wohl eine „heiße Spur“ hatte, die man bis heute leugnet.
Dass dieser Verdacht nicht aus der Luft gegriffen ist, sondern handfesten Fakten geschuldet ist, war seit Langem bekannt. Denn in der ersten Phase der Aufregung kam einiges ans Tageslicht, was seitdem angestrengt unterbelichtet bleibt.
Der Berliner Kurier vom 29.5.2012 rekonstruierte die Ereignisse, kurz nach dem Tod von Uwe Mundlos und Uwe Böhnhardt wie folgt:
»Etwas mehr als Stunde, nachdem sie ihre Wohnung in der Frühlingsstraße 26 in die Luft jagte, versuchte jemand Zschäpe anzurufen. Das Pikante: Die anrufende Nummer ist im Sächsischen Staatsministerium des Inneren registriert. Wer aus der Behörde in Dresden wollte Zschäpe sprechen – und vor allem warum?«
Das sächsische Innenministerium reagierte auf diese Indiskretion sehr hektisch: Man habe nach dem Brand mit dem/r WohnungsinhaberIn Kontakt aufnehmen wollen, um sie über die Ereignisse in Kenntnis zu setzen. Es hätte sich also bei den Anrufen um ganz normale Ermittlungstätigkeiten von Polizeidienststellen gehandelt, die mit dem Brand betreut gewesen waren.
Mit dieser „Version“ machten sich Journalisten daran, die damals veröffentlichten Diensthandynummern anzurufen, um sich der Behörde zu vergewissern, die diese benutzt hatten. Das Ergebnis war mehr als verblüffend: Die Nummern hatten keinen Anschluss mehr – sie wurden „abgeschaltet“.
Damit war eine elektronische Spur gelöscht – was in einem solch schwerwiegenden Fall nur als Vertuschungstat gewertet werden kann. Denn durch die Löschung dieser Verbindung konnte nicht geklärt werden, ob es sich beim Nutzer dieser Handynummer um eine Behörde handelt oder um einen V-Mann. Dieser wird in aller Regel mit einem Handy ausgestattet, das ebenfalls auf das jeweilige Innenministerium zugelassen ist.
Ebenfalls will bis heute niemand erklären, wie eine Person X, ausgestattet mit einem Handy des Sächsischen Staatsministerium des Inneren in den Besitz der Handynummer von Beate Zschäpe kommen konnte? Beate Zschäpe benutzte einen Decknamen, die Wohnung war auf „Mathias D.“ angemeldet. Eine Behörde, die nicht mehr wollte, als den Wohnungseigentümer zu informieren, hätte niemals Beate Zschäpe anrufen können.
Diesen Vertuschungen ging auch der „Terrorexperte des ZDF“ Elmar Theveßen im November 2014 nach:
„Am 4. November 2011 fliegt die Terrorzelle NSU auf: Uwe Böhnhardt und Uwe Mundlos begehen Selbstmord, Beate Zschäpe steckt die Wohnung des Trios an und flüchtet. Ihr Handy klingelt am Nachmittag sehr häufig, über 30 Mal allein zwischen 16.30 und 21 Uhr. Doch wer ruft Zschäpe immer wieder an?“
Auf diese Frage eine Antwort zu bekommen, ist keine große Aufgabe – für die ermittelnde Polizei. Diese muss sich nur an den Provider wenden, über den die Kommunikation abgewickelt wurde.
Auch das gehört zur Polizeiroutine und müsste in einem solchen Fall höchste Priorität haben. Schließlich geht es um die Frage: Wer hat ihr in den vier Tagen „Flucht“ geholfen? Wer gehört möglicherweise mit zum NSU-Netzwerk? All das sollte ein Kinderspiel sein, wenn man die Handynummer von Beate Zschäpe hat – sollte man meinen.
Am 17. März 2016 wurde dazu im dritten parlamentarischen Untersuchungsausschuss/PUA in Berlin Kriminaloberkommissar Sascha Allendorf im BKA befragt. Er war mit der Auswertung der Mobiltelefon-Daten von Zschäpe beauftragt. Was er dazu sagte, findet sich in einer Erklärung des Bundestages:
„Nachdem vermutlich Zschäpe am Nachmittag des 4. November 2011 ihre gemeinsame Wohnung mit Uwe Böhnhardt und Uwe Mundlos in Zwickau in Brand gesetzt hatte, war ihre Handynummer von der Polizei in Erfahrung gebracht worden. Zur Überprüfung der Telefongespräche, die sie über ihr Handy geführt hatte, wurden in den folgenden Wochen die jeweiligen Provider kontaktiert. Allendorf wies darauf hin, dass es damals keine gesetzliche Grundlage für eine Vorratsdatenspeicherung gab und die Verbindungsdaten von den Anbietern daher auf unterschiedliche Weise gespeichert worden waren. Von einigen Telefongesellschaften wurden der Polizei nur Nummern übermittelt, bei denen die letzten drei Stellen durch “x” ersetzt waren. Insgesamt handelte es sich um 42 Telefonnummern. Nach Allendorfs Aussage wäre der Aufwand zu groß gewesen, die Inhaber dieser Nummern zu ermitteln, da man im Extremfall fast 42.000 Nummern hätte überprüfen müssen. Allein für die Überprüfung der 412 Rufnummern, die der Polizei vollständig vorlagen, habe man sechs Monate benötigt. Binninger ließ das nicht gelten, zumal einige der unvollständigen Nummern als Behördenanschlüsse erkennbar gewesen seien. Die übrigen Nummern hätte das BKA zumindest darauf überprüfen lassen sollen, ob polizeibekannte Rechtsextremisten zu den Inhabern gehörten.“ (Quelle: Deutscher Bundestag vom 18.3.2016)
Man weiß nicht, über was man vor allem wütend sein soll: über die Dummheit oder Dreistigkeit dieser Aussage. Und man fragt sich, warum sich die Parlamentarier eine solche Antwort gefallen lassen. Sie erfüllt den Straftatbestand der Irreführung und der Strafvereitelung im Amt gleichermaßen.
So unterschiedlich die Speicherfristen der Provider auch sind, sie hätten allesamt ausgereicht, die gespeicherten Kommunikationsdaten unversehrt zu bekommen. Und zwar in Gestalt vollständiger Telefonnummern. Denn nur beim privaten Einzelverbindungsnachweis werden die letzten drei Stellen durch x ersetzt. Auf die vollständigen Telefonnummern muss der Provider zurückgreifen können – im Reklamationsfall.
Aber auch die angeblich langwierige Suche im Heuhaufen ist eine vorsätzliche Täuschung. Bereits 1998 wurde in Jena in der Garage von den wenig später abgetauchten NSU-Mitgliedern eine Telefonliste gefunden, mit über 50 Einträgen – ohne xxx. Das Who is who der Neonaziszene, das Netzwerk von Kameraden, das es laut Anklage der Generalbundesanwaltschaft nicht gibt. Für diesen Abgleich hätte man 10 Minuten gebraucht. Selbst auf dieser konspirativen Telefonliste befanden sich vier V-Leute, die für die Neonazis „Kameraden“ waren, denen sie voll vertrauten.
Außerdem wäre es ein Leichtes gewesen, die vollständigen Nummern der Behördenanschlüsse zu bekommen, um so überprüfbar festzustellen, welche „Behörde“ diese Handynummern genutzt hatte und warum diese kurz nach Bekanntwerden „abgeschaltet“ wurden! Dass all dies der Vorsitzende des dritten PUA, Clemens Binninger (CDU), ein ehemaliger Polizeibeamter, mit unglaublicher Sanftheit moniert, ist in jedem Fall dem Sachverhalt völlig unangemessen.
Man darf übrigens davon ausgehen, dass das BKA selbstverständlich um diese Möglichkeiten wusste und diese auch nutzte. Würden all diese Telefonnummern nur auf Neonazis verweisen, hätte man das Ergebnis stolz präsentiert. Mehr als naheliegend ist also, dass man bei den gespeicherten Telefonnummern auf Verbindungen gestoßen war, die man eben nicht problemlos offen legen konnte.
Exakt dieser Annahme ist auch der anfangs erwähnte „ZDF-Terrorexperte“ Elmar Theveßen gefolgt, als er dazu blitzgescheit ausführte:
„Die deutschen Sicherheitsbehörden prüfen es später nicht ernsthaft nach, weil in den Anrufprotokollen die letzten drei Ziffern durch x ersetzt sind. Aber sie haben die Ziffern davor auch nicht mit den Mobilnummern der Personen aus dem Umfeld des Nationalsozialistischen Untergrunds (NSU) abgeglichen, unter ihnen eine große Zahl von V-Leuten der Behörden. Haben mehrere von ihnen an jenem 4. November 2011 verzweifelt versucht, Beate Zschäpe zu erreichen, weil sie mindestens Mitwisser waren, wenn nicht sogar mehr?“
Dass diese Kommunikationsdaten mehr verraten, als den Ermittlungsbehörden lieb ist, belegt ein weiteres Faktum.
Am 4. November 2011, kurz nachdem die Wohnung in Zwickau in Brand gesetzt wurde, erhielt Beate Zschäpe nicht nur von einer nicht mehr auffindbaren ›Polizeidienststelle‹ einen Anruf. Sie hatte auch telefonischen Kontakt mit André Eminger. Um 15.29 Uhr sprachen sie eine Minute und 27 Sekunden miteinander, dann tippte André Eminger eine SMS, eine Textnachricht an seine Frau Susan …
André Eminger zählt zu den führenden Neonazikadern, eine Schlüsselfigur in der sächsischen Neonazi-Szene. Er ist Mitbegründer der ›Weißen Bruderschaft Erzgebirge‹. Seine Ehefrau Susan Eminger stand ihrem Mann an neonazistischer Tatkraft in nichts nach.
André Eminger war der Polizei und den Verfassungsschutzbehörden seit Langem bekannt. Aus einem Schreiben des sächsischen Verfassungsschutzes geht hervor, dass die Behörde im März 2003 ein ›Informationsgespräch‹ mit André Eminger geführt habe, was nur mühsam umschreibt, dass er als V-Mann angeworben werden sollte. Angeblich habe er abgelehnt, da er keinen Kontakt mehr zur neonazistischen Szene habe. Das wussten die Anwerber besser: Noch im November 2006 gingen Verfassungsschutzämter davon aus, dass er laut Spiegel-online vom 10.12.2012 eine »herausgehobene Position« innehabe.
Unstrittig ist, dass das Ehepaar Eminger den Untergrund des NSU mit ausgestattet hatte. U.a. besorgte André Eminger im Mai 2009 für Uwe Böhnhardt und Beate Zschäpe Bahncards, welche auf seinen und den Namen seiner Frau ausgestellt waren.
Jenseits der Frage, ob die fehlgeschlagene Anwerbung des Neonazis André Eminger eine Legende ist, kann man festhalten, dass ihre Überwachung direkt zu den Mitgliedern des NSU geführt hatte/hätte. Wie eng, wie vertrauensvoll der Kontakt zwischen den NSU-Mitgliedern und André Eminger war, beweist auch das Telefonat, das Beate Zschäpe kurz nach dem Tod von Mundlos und Böhnhardt geführt hatte.
Auf welche Weise also die Verfolgungsbehörden über André Eminger an den NSU angeschlossen waren, könnte zweifelsfrei die Auswertung des Handys ergeben, das bei seiner Festnahme am 24. November 2011 beschlagnahmt wurde. Das Handy wurde zur Auswertung ans BKA geschickt. Obwohl der interne Speicher gelöscht war, konnte das BKA die gelöschten Datensätze wiederherstellen. Das ist in der Regel kein Hexenwerk, denn die Löschung bezieht sich nur auf den Link (Pfad), nicht auf die gespeicherten Datensätze. Doch nun passierte das, was schon in vielen Fällen zuvor der Fall war: Die „Rekonstruktion“ weist auffällige Lücken auf, die man technisch am aller wenigsten erklären kann:
»So tauchen etwa Telefonverbindungen erst ab dem Datum 8. November 2011 wieder auf; bei den SMS reicht die Lücke vom 6. November bis zum 14. November 2011.« (Lücken in den Handydaten, FR vom 28.1.2013)
Die Lücke ist gut gewählt: Es handelt sich um den gesamten Zeitraum, in dem Beate Zschäpe auf der „Flucht“ war.
Um ganz sicher zu gehen, dass nichts gefunden wird, was nicht gefunden werden soll, wies das BKA die zuständige Bundespolizeidienststelle an, die Sicherungskopie zu löschen. Kein Versehen, sondern eine Anweisung, gegen Dienstvorschriften zu verstoßen: »Diese Anweisung habe der üblichen Vorgehensweisen widersprochen, wie der Bundespolizei-Direktor Heinz-Dieter Meier in seiner Vernehmung (…) sagte (…): ›Wenn Handys ausgewertet werden, sieht das Standardverfahren vor, dass die Daten archiviert werden‹, sagte Meier laut Aussageprotokoll vom 23. Februar 2012.« (s.o.). Für den Vorsatz der Verschleierung statt Aufklärung hat der Bundespolizei-Direktor eine professionelle Erklärung: »Er deutete an, dass das BKA mit seinem Vorgehen möglicherweise einen Informanten decken wollte, auf den E’s Handydaten hinweisen könnten.« (s.o.)
Was mit diesen vorsätzlich geschaffenen Lücken bezweckt werden soll, weiß der Bundespolizei-Direktor Meier auch: »Wenn das stimmen würde und das BKA jemand im Umfeld des Trio hätte, dann hätten wir ein Problem.« (s.o.) – Ein sehr großes. Denn damit wäre ein weiteres Mal bewiesen, dass die Verfolgungsbehörden am Küchentisch des NSU saßen – bis zum letzten Tag.
Dass die Kommunikationsdaten von Beate Zschäpe’s Handy nicht ausgewertet, dass die Verbindungsdaten von André Eminger im entscheidenden Zeitraum gelöscht wurden, berechtigt zu der Annahme, dass alles stimmt – nur nicht die offizielle Version.
[«*] Wolf Wetzel: Der NSU-VS-Komplex. Wo beginnt der Nationalsozialistische Untergrund – wo hört der Staat auf? Unrast Verlag 2015, 3. Auflage