Wie unsere lieben „Qualitätszeitungen“ Medwedews Münchner Rede in ihr Gegenteil verdrehen
Dass unsere selbsternannten „Qualitätszeitungen“ beim Thema Russland noch nicht einmal versuchen, auch nur im Ansatz objektiv zu berichten, ist hinlänglich bekannt. Bei der Kommentierung der Rede des russischen Ministerpräsidenten Dmitri Medwedew auf der Münchner Sicherheitskonferenz manipulieren die Großjournalisten jedoch in einer Art und Weise, die selbst im medialen Niveaulimbo negativrekordverdächtig ist. Wahrscheinlich hätte man Medwedew sogar dann noch Aggressivität unterstellt, wenn er in München die Bergpredigt vorgetragen hätte. Und da wundert sich die Branche ernsthaft, dass sie immer tiefer in der Glaubwürdigkeitskrise versinkt? Von Jens Berger.
Sollten Sie Medwedews Münchner Rede noch nicht gesehen haben, dann lade ich Sie zu einem kleinen Experiment ein. Lesen Sie sich doch bitte zunächst einmal diese drei kurzen Artikel durch, die allesamt von leitenden Journalisten deutscher „Qualitätszeitungen“ geschrieben wurden:
- Clemens Wergin in der WELT: München macht deutlich, wie tief das Misstrauen sitzt
- Carsten Luther in der ZEIT: Drohungen aus einem fernen Universum
- Christiane Hoffmann auf SPIEGEL Online: Putin Reloaded
Wie in solchen Fällen üblich, hat natürlich auch die Bildredaktion ihr Bestes gegeben, um „den Russen“ möglichst böse aussehen zu lassen
Nun dürften Sie ein Bild im Kopf haben. Ein Bild von einem aggressiven (Zitat: Luther) Dmitri Medwedew, der eine „Brandrede“ im „gehetzten Stakkato“ (Zitat: Hoffmann) hält, die einem „Wutausbruch ähnelt“ (Zitat: Wergin).
Und nun schauen Sie sich doch einmal die Rede in voller Länge an inklusive deutscher Simultanübersetzung an:
Wahrscheinlich werden Sie nun denken, die drei Großjournalisten hätten wohl eine andere Rede verfolgt. Nein, es handelt sich in der Tat um ein und dieselbe Rede. Sie können die Rede übrigens auch auf den Seiten der russischen Regierung auf Englisch nachlesen, was durchaus lohnenswert ist.
Nicht nur der Charakter und die Form, sondern auch der Inhalt von Medwedews Rede wird (nicht nur) in den drei oben verlinkten Artikeln zum Teil grotesk ins Gegenteil verdreht. Medwedew „wettert“ und „droht“ nicht dem Westen, sondern beklagt die aggressive Sicherheitspolitik der NATO. Er zeigt dem Westen nicht die kalte Schulter, sondern lädt den Westen zu mehr Kooperation ein. Er präsentiert Russland nicht als Gegner, sondern als Partner des Westens.
In Nebensätzen wird in den Artikeln dabei sogar Geschichtsrevisionismus betrieben. So behauptet Clemens Wergin ganz nebenbei, „Russlands Angriff auf die Ukraine“ sei die Ursache der gegen Russland verhängten Sanktionen. Das ist natürlich falsch, offizieller Grund der Sanktionen ist vielmehr das auf der Krim ausgetragene Referendum samt Anschluss an die Russische Föderation. Von einem „Angriff“ war nie die Rede. Aber so funktioniert Geschichtsrevisionismus nun einmal. Man muss nur in eigentlich unbedeutenden Nebensätzen immer wieder dieselbe Lüge vorbringen und irgendwann wird sie geglaubt.
Es ist ohnehin unverständlich, wie man diese Rede als etwas Anderes interpretieren kann, als sie ganz offensichtlich ist – eine Forderung, sich endlich wieder zusammen an einen Tisch zu setzen und eine gemeinsame europäisch-atlantische Sicherheitsarchitektur zu entwerfen.
Bezeichnend ist dabei vor allem, dass die Kommentatoren deutscher Zeitungen die konstruktiven Elemente aus Medwedews Rede noch nicht einmal erwähnen. Wer die Rede nicht selbst verfolgt oder zumindest gelesen hat, kann gar nicht anders, als zu dem Urteil kommen, nicht der Westen, sondern Russland verschließe sich jeglicher konstruktiver Debatte. Das ist Meinungsmache und das ist genau so gewollt. Für die hier genannten Journalisten geht es nicht um eine möglichst objektive Berichterstattung, sondern um transatlantische PR – Deutschland soll sich von Russland abwenden und zusammen mit den USA einen neuen Kalten Krieg initiieren. Von einem neuen Kalten Krieg profitiert jedoch außerhalb des militärisch-industriellen Komplexes niemand; kein Wunder, dass die Medien zu Manipulationen greifen müssen, um neue alte Feindbilder wiederzubeleben.
Amüsant ist diesem Kontext übrigens der in allen drei Artikeln vorgebrachte Bezug auf die Münchner Rede von Wladimir Putin aus dem Jahre 2007. Auch diese Rede wird rückblickend als Aggression und Provokation dargestellt. Dabei war eben diese selbstbewusste und inhaltlich kaum zu kritisierende Rede in der Realität vielmehr der Auftakt einer bis heute andauernden Serie von antirussischen PR-Artikeln im deutschen Blätterwald.
(ab 39:00)
Einige Dinge ändern sich wohl leider nie.