Die Forderung nach einer Obergrenze beim Flüchtlingszuzug ist ein Zeichen des grassierenden Unbehagens
Jens Berger hat in seinem heutigen Beitrag „Niemand hat die Absicht, eine Mauer zu errichten!“ sauber argumentiert. Obergrenzen sind aus verschiedenen Gründen nicht möglich und nicht umsetzbar. Aber ich denke, in der Debatte um Obergrenzen und um die Begrenzung der Zahl der Flüchtlinge kommt ein Unbehagen gegenüber der Position unserer Bundeskanzlerin zum Ausdruck, das man ernst nehmen sollte. Ich nehme es schon deshalb ernst, weil auch bei den Leserinnen und Lesern der NachDenkSeiten zu spüren ist, dass sie bei diesem Thema in gänzlich gegensätzliche Positionen verfallen. Das folgt ja nicht aus bösem Willen oder aus Dummheit. Es ist Ausdruck verschiedener Wahrnehmungen. Die Bundeskanzlerin und ihre Gefolgsleute haben eine Fülle von Fehlern gemacht. Einige davon will ich benennen. Albrecht Müller
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- Frau Merkel hat – orientiert man sich an ihren Äußerungen und Entscheidungen – die Folgen des Zuzugs einer großen Zahl von Menschen aus anderen Ländern und Kulturen unterschätzt. In der Praxis lässt sich das Problem nicht mit Ehrenamtlichen und auch nicht in kurzer Zeit bewältigen. Es ist ein auf mindestens mittlere Sicht viele Menschen beschäftigendes Problem.
Wenn man mit Menschen spricht, die sich bei der Betreuung engagieren, wenn man die praktischen Folgen für unsere Schulen beobachtet und dort Gespräche führt, wenn man mit Polizisten und mit Sozialarbeitern spricht, dann wird einem sehr deutlich, auf welch lange Zeit die Lösung vieler Probleme angelegt sein muss. - Die Sorgen, die Ängste, die Interessen und Wünsche eines großen Teils unseres Volkes sind nicht ernst genommen worden. Zugespitzt könnte man auch formulieren: Ist die sogenannte schweigende Mehrheit gefragt worden, ob sie will, dass wir ein Zuwanderungsland werden?
Der Blick auf die Zahl der kommenden Flüchtlinge und die Bewertung des Zuzugs von 1 Million im Jahr und mehr hängen ganz wesentlich davon ab, in welcher sozialen und finanziellen Lage die Betrachter sind und in welcher Region und in welchen Stadtteilen sie leben. Es gibt viele Menschen, denen es an vielem mangelt und die sich der Konkurrenz der Flüchtlinge und Asylbewerber ausgesetzt sehen. Das kann man für unberechtigt halten, das kann man für kleinkariert halten, es ändert nichts an der Tatsache, dass die konkrete Lebenslage dieser Menschen zu einer anderen Betrachtung und Bewertung führt, und notfalls auch zu einer politischen Umorientierung. - Es ist nicht bedacht worden, welche Folgen diese Art von Flüchtlingspolitik für die Entwicklung von Parteien haben wird, die nationalistische Parolen und Ziele vertreten. Von politisch Verantwortlichen kann man erwarten, dass sie auch bedenken, welche Folgen ihre Politik und ihre Äußerungen für die Parteienkonstellation haben. Wenn eine Politik und die begleitenden Gesten und Äußerungen rechtsradikale Parteien wachsen lassen, dann ist mir das nicht egal. Und wenn über eine – wenn auch sachlich fragwürdige – Debatte um Obergrenzen eine unheilvolle Entwicklung aufgefangen wird, dann kann ich nicht schimpfend und kritisierend daneben stehen.
- Es ist nicht bedacht worden, welche stimulierende Wirkung die offenen Arme von Mutti Merkel hatten und weiter haben werden. Noch ist die Signalwirkung nicht beseitigt. Man könnte die Debatte um Obergrenzen so verstehen, Signale zur Korrektur der Signale unserer Bundeskanzlerin auszusenden.
- Es ist nicht bedacht worden, welche weiteren Flüchtlingsströme ausgelöst werden können, wenn sich an den Grundlinien der westlichen Politik nichts ändert.
Wenn der Westen weiter auf Regime Change setzt, ohne im Einzelnen die Folgen abzuwägen, dann werden weiter und immer mehr Menschen Zuflucht suchen. Dass Frau Merkel und ihr Kabinett einschließlich der Bundesverteidigungsministerin von der Leyen sich in besonderer Weise darum kümmert, Kriege zu vermeiden würden wir gerne jeden Tag vernehmen. Wir hören aber oft das Gegenteil.
Es wäre notwendig, dass die deutsche Bundeskanzlerin im Stillen und auch öffentlich gegen den schnellen Griff zur militärischen Lösung von Konflikten aufsteht, Front macht.
Mit großer Aufmerksamkeit müssen wir beobachten, was in der Ukraine geschieht. Wenn dort kein Friede geschaffen wird, dann kann das zu sehr großen Flüchtlingsströmen führen. - Über die Ursachen, die wirklichen tieferen Ursachen würden wir gerne genauer informiert werden. Vieles liegt im Dunkel.
Die Bundeskanzlerin und der Bundesinnenminister könnten uns ja mal aufklären darüber, wann, wie und von wem sie die ersten Informationen über eine große Zahl von aufbrechenden und kommenden Flüchtlingen erhalten haben. Haben unsere Dienste versagt?
Wie schätzen unsere verantwortlichen Politiker jene Analysen ein, wonach die Operation auch dazu dienen soll, Europa zu destabilisieren?
Wie ist der Zusammenhang mit dem Nahostkonflikt? Welche Rolle spielen die Saudis, welche Ziele verfolgen sie? Wie will man auf Dauer mit solchen hoch bewaffneten Regimen umgehen? Wer sagt den USA, dass dies nicht unsere Freunde sein können? - Die Diskussion von Obergrenzen ist auch ein Symbol für die Sorgen um die Entwicklung in Europa. Die Probleme des Umgangs mit Flüchtlingen in Europa sind ja nicht gelöst. Also muss es einen nicht wundern, wenn unpräzise nach der Lösung von Problemen gesucht wird und man dann auf die Forderung nach Obergrenzen verfällt.
Dies zum Wochenende. Ein kleiner Denkanstoß hoffentlich.